Benedict Wells - Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Lesen V
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"Ein soziales System kann nicht denken, ein psychisches System kann nicht kommunizieren." (Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation? in: Fritz B. Simon, Lebende Systeme, Frankfurt 1997, Seite 28) Mit dieser ungeheuerlichen Provokation bringt Niklas Luhmann die Fundamentalprämisse seines Verständnisses von Kommunikation auf den Punkt. Um das Agieren Benedict Wells' und das - teils orientierungslose - Driften seines Vaters im Familiensystem von Schirarch zu beschreiben, gibt es vermutlich keine passendere Ausgangsprämisse als die Niklas Luhmanns. Das ist natürlich insofern Unsinn, als mit Luhmanns Verständnis von Kommunikation die Ausgangsprämisse zum Verständnis sozialer Systeme generell markiert werden kann (hier ein sehr persönliches Beispiel). In meinem Blog hat Luhmanns Kommunikationsverständnis tiefe Spuren hinterlassen (Was ist Kommunikation? - in Kurzform - in Langform). Dies gilt gleichermaßen für seine Skizze zu einer Theorie des Lebenslaufs!
Niklas Luhmann differenziert seine - sicher für viele unverständlich wirkende - Annahme, dass ein soziales System nicht denken, und ein psychisches System nicht kommunizieren kann: "Kausal gesehen gibt es trotzdem immense, hochkomplexe Interdependenzen." Aber es liege in der Konsequenz dieses Verständnisses, dass das Bewusstein zur Kommunikation nur Rauschen, nur Störung, nur Verstörung beitrage und ebenso umgekehrt. Dies wird vielleicht deutlich, wenn Luhmann konkrete Kommunikation beschreibt. Und jeder aufmerksame Teilnehmer an Kommunikation, an alltäglichem Austausch wird nachvollziehen können, dass psychische Selektivität - das, was wir denken/empfinden - etwas völlig anderes ist als die soziale Selektivität, das, was Menschen sagen/tun:
"Schon bei einer geringen Aufmerksamkeit auf das, was wir selbst sagen, wird uns bewußt, wie unscharf wir auswählen müssen, um sagen zu können, was man sagen kann; wie sehr das herausgelassene Wort schon nicht mehr das ist, was gedacht und gemeint war, und wie sehr das eigene Bewußtsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt, sie benutzt und verspottet, sie zugleich meint und nicht meint, sie auftauchen und abtauchen läßt, sie im Moment nicht parat hat, sie eigentlich sagen will, und es dann ohne stichhaltigen Grund doch nicht tut. Würden wir uns anstrengen, das eigene Bewußtsein wirklich in seinen Operationen von Gedanken zu Gedanken zu beobachten, würden wir zwar die eigentümliche Faszination durch Sprache entdecken, aber zugleich auch den nichtkommunikativen, rein internen Gebrauch der Sprachsymbole und eine eigentümlich-hintergründige Tiefe der Bewußtseinaktualität, auf der die Worte wie Schiffchen schwimmen, aneinandergekettet, aber ohne selbst das Bewußtsein zu sein, irgendwie beleuchtet, aber nicht das Licht selbst." (a.a.O., Seite 29).
Und eine weitere Einlassung/Beschreibung Niklas Luhmanns kommt uns allen vermutlich überaus vertraut vor. Dazu ist die Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation hilfreich und notwendig:
"Die Wahrnehmung bleibt zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Existenz. Sie ist innerhalb des kommunikativen Geschehens ohne kommunikative Existenz. Sie ist innerhalb des kommunikativen Geschehens nicht ohne weiteres anschlussfähig. Man kann das, was ein anderer wahrgenommenhat, nicht bestätigen und nicht wiederlegen, nicht befragen und nicht beantworten. Es bleibt im Bewußtsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewußtsein instransparent. Es kann natürlich ein externer Anlaß werden für eine folgende Kommunikation. Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; dies aber nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, zum Beispiel nur in sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren - also nur unter entmutigend schwierigen Bedingungen." (a.a.O., Seite 22)
Hier mögen ad hoc - sozusagen unmittelbar und sekündlich - die Kränkungsgeschichten all derer, die von sich annehmen, nicht gehört zu werden, all derer, die sich nicht trauen - nie getraut haben - das Wort zu nehmen, Gestalt annehmen mit all den Bedrängnissen und Enttäuschungen, die vor allem das soziale System Familie (die alle sozialen Systeme) für viele von uns bereit halten.
in progress - das wird leider nicht funktionieren, und ich muss wohl Benedict Wells - Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Lesen - Teil VI in Angriff nehmen. Dies geschieht hier!