Benedict Wells - Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Leben III
hier geht es zu I und zu II
Bert Hellinger schreibt in Der Friede beginnt in den Seelen (Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2003) unter der Kapitelüberschrift: Die Grundlagen des Familien-Stellens (Seite 111):
„Die wichtigste Einsicht hinter dem Familien-Stellen ist, dass jede Therapie erst dann gelungen ist, wenn jemand im Einklang ist mit seinen Eltern. Wo das gelungen ist, das Anerkennen der Eltern und das Nehmen des Lebens von ihnen mit aller Liebe, ist der Einzelne gerüstet für alles, was im Leben auf ihn zukommt.“
Benedict Wells bezieht sich in Die Geschichten in uns – Vom Schreiben und vom Leben auf Seite 99 auf Alexander Kluge (das erwähnte Interview ist verlinkt):
„Der Publizist Alexander Kluge sagte in einem Interview auf die Frage, wieso er schreibe, er habe im Grunde in all seinen Werken versucht, seine Eltern wieder zusammenzubringen. Vielleicht ist so ein Satz zutreffend. Vielleicht ist auch mein Schreiben geprägt von dem unmöglichen Versuch, die Brüche im Leben meiner Eltern oder meiner Kindheit zu reparieren. Von dem Wunsch, fremde und eigene Fehler zu korrigieren. Und von der Hoffnung meines jugendlichen Ichs, endlich von anderen Menschen gesehen zu werden und all die unausgesprochenen in mir schlummernden Gefühle, Ängste und Gedanken mit ihnen zu teilen. Sie sind die weißen Blätter, auf die ich bis heute schreibe.“
Das ist außerordentlich mutig und in gewisser Weise auch entblößend. Das Motiv des eigenen Schreibens schrumpft auf das Urbedürfnis zurück, etwas zu heilen, was nicht zu heilen ist, und – wenn dies schon unmöglich erscheint – doch zumindest zu sehen und von anderen gesehen zu werden.
Zweiunddreißig Jahre trennen mich von Benedict Wells. Auch ich schreibe aus ähnlichen Motiven – mit dem letztlich doch entscheidenden Unterschied, dass ich nie um die Anerkennung der bedeutsamen Anderen ringen musste. Sehen und gesehen werden haben dann in der Tat bergende und heilende Kraft, wenn sie sich entfernen vom Blick des strengen Kritikers, der mit moralischen Maßstäben nur gelten lässt, was ohne Fehl und Tadel ist. Wir sind Menschen, schreibt Benedict Wells.
„Wir machen unser Leben lang Fehler. Wir haben blinde Flecken, sind widersprüchlich und schwach, enttäuschen uns und andere und tun oder sagen Dinge, die wir später bereuen. Doch zugleich ist eine der schönsten Eigenschaften, die wir haben, aus Fehlern lernen und uns ändern zu können.“ (Seite 98)
Benedict Wells bezieht sich auf John Greens Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? John Green hat aufgeschrieben, was er seiner letal an Krebs erkrankten Freundin nicht mehr sagen konnte, weil er mit ihrer Frage, was er ihr für ihre Kinder raten würde, überfordert war:
„Er schreibt, dass er ihr damals gern gesagt hätte, dass es hart werden würde, aber dass die Liebe, die sie ihren Kindern gegeben habe, nach ihrem Tod nicht verschwinden würde.“ (Seite 98)
Ja, es ist wahr. Wir versäumen oft genug das Richtige an der richtigen Stelle zu tun. Im besten Fall bereuen wir unsere Fehler und Versäumnisse, so dass wir vielleicht anderen ein Beispiel geben. Vieles im Leben gewinnt seine Härte dadurch, dass wir ohnmächtig sind, das Richtige zu tun; weil wir nicht wissen, was das Richtige ist - oder das Richtige birgt eben jene Härte in sich, die wir uns und anderen (nicht) zumuten (können/wollen). Was das Schreiben angehe, dürfe man es nicht mit dem Leben verwechseln:
„Es gibt kein Ende der Einsamkeit, sie ist in den Stoff unserer Seelen gewebt und gehört zu uns. Man kann nur den Umgang mit ihr ändern. Auch das Schreiben hat kein Happy End, es kann das Loch im Inneren nicht ausfüllen. Ein Schritt in der fiktiven Welt ersetzt nie den Schritt in der Wirklichkeit. Man führt seine Figuren einem logischen Ende und einer reifen Erkenntnis zu, lässt sie Bindungsängste, Verletzungen und andere Hürden überwinden, während man als Mensch weiter durch sein Leben stolpert und den Weg sucht.“ (Seite 100)
Aber gibt es eine Alternative zum Schreiben? Nun, ich kenne in meinem näheren Umfeld niemanden, der schreibt (außer Tina). Das ist schade! Denn Benedict Wells weist zu Recht darauf hin:
„Wir sind die Geschichten in uns; nicht nur die, die wir erlebt haben, sondern auch die, die wir anderen und uns selbst erzählen […] Ich habe Schreiben gelernt, um Gefühlen nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern sie ins Bewusstsein zu holen und mit Menschen zu teilen, die mir wichtig sind. Etwa mit meiner Schwester (die ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich und der ich Vom Ende der Einsamkeit widmete, da es ihr viel verdankt). Mit meiner Mutter (die wie bei den Romanen zuvor kluge Fragen und Anmerkungen zur Geschichte hatte). Mit meinem Vater (dem ich das Manuskript mal in mehreren Nächten ganz vorlas). Trotz traumatischer Momente, Brüche und Probleme gab es in meinem Leben immer auch Liebe, Versöhnung und Gespräche, das hat mich geprägt. Und ich hoffe, das schimmert auch durch das Buch.“ (Seite 100f.)
Ja, Benedict Wells, es schimmert und glänzt – tief aus der Melange, aus der sich das Leben nun einmal zusammensetzt.
Nachbemerkung:
„Die wichtigste Einsicht hinter dem Familien-Stellen ist, dass jede Therapie erst dann gelungen ist, wenn jemand im Einklang ist mit seinen Eltern. Wo das gelungen ist, das Anerkennen der Eltern und das Nehmen des Lebens von ihnen mit aller Liebe, ist der Einzelne gerüstet für alles, was im Leben auf ihn zukommt.“
Bert Hellinger war und bleibt umstritten. Der Streit berührt mich eher am Rande. Ich hätte - nach mehr als 50 Aufstellungen bei Gunthard Weber - niemandem geraten, sich einer Aufstellung bei Bert Hellinger zuzumuten. Gunthard Weber hat mit seiner Adaption der Hellingerschen Arbeit gezeigt, wie ein Rahmen beschaffen sein muss, um lösungsorientierte Impulse in einem geschützten Therapie-Setting zu ermöglichen. Mir geht es um die Bürde, die vielen Menschen auferlegt ist bzw. die sie sich selbst auferlegen verbunden mit einem nicht aufzulösenden Dilemma: Wann sind wir gerüstet für alles, was im Leben auf uns zukommt? In Zweierlei Glück lässt sich beobachten, wo die lösungsrelevanten Potentiale einer verantwortungsbewussten Aufstellungsarbeit liegen. Ich halte es für aberwitzig das Leid vieler in relativ statischen Beziehungsmustern verharrenden Menschen eher für erträglich zu halten als sich einen Blick zu erlauben in das Beharrungsvermögen belastender Beziehungsmuster und -kulturen (siehe zu einer Typologiesierung etwa im verlinkten Beitrag Kurt Lüscher); die Entscheidungshoheit in dieser Hinsicht liegt bei jedem Einzelnen selbst! Erweise ich mich also beispielsweise in der Tat als gerüstet:
- Gerüstet in der Auseinandersetzung mit meinen Eltern - A u s e i n a n d e r s e t z u n g: mag bedeuten bezogene Individuation mit und gegen die bedeutsamen Anderen - in Sonderheit mit den Eltern. Der Streit um Hellinger ist immer auch ein Streit derer, die nicht nur (wie es in der Regel unumgänglich ist) gegen ihre Eltern rebellieren (in bestimmten Phasen ihrer Individuation), sondern denen es die Eltern (in der eigenen Wahrnehmung) nicht Recht gemacht haben. Zuweilen entwickelt sich hier eine Statik, die wenig Bewegung zulässt, die sich gegen eine heilsame, heilende Entwicklung sperrt. Dies führt zu Leid für alle Beteiligten. Das Fatale hierbei liegt in der generationenübergreifenden Dynamik. Man erlebt sich - sofern man eigene Kinder hat - irgendwann nicht mehr nur als das gekränkte, verletzte, vernachlässigte Kind, sondern man e r l e b t mit einem Mal, dass das eigene Kind/die eigenen Kinder in Nöte geraten, dass der Sprung aus dem Nest nicht gelingen mag, dass es an Rüstzeug mangelt im Flüggewerden, im Freiwerden, im Anpacken der eigenen Angelegenheiten, dass es mangelt an Zuversicht und Tatkraft. Wie kann das sein - bei aller Liebe??? Die andere Seite mag im Extremfall einhergehen mit einem völligen Kontaktabbruch der Kinder gegenüber den Eltern. Liegt in diesem Abbruch eine Statik, die alle Beteiligten in ihren Rollen fixiert, sind die daraus resultierenden Dynamiken in der Regel belastend und nicht heilsam. Der Vater Benedict Wells, Richard von Schirach legt hiervon mit seiner autobiografischen Schrift Der Schatten meines Vaters ein vielgestaltiges Zeugnis ab.
- Gerüstet mit Blick auf eine selbstbewusste, eigenverantwortliche Gestaltung meiner eigenen Angelegenheiten. Löse ich mich - wenn es an der Zeit ist - von der väterlichen, von der elterlichen Gewalt: e m a n c i p a t i o heißt das Schlüsselwort: Im Bewusstsein meiner Wurzeln, meiner Herkunft das Eigene anzugehen und zu gestalten; Abgrenzung in Wertschätzung dessen, was die bedeutsamen Anderen mir gegeben haben. Kann ich unterscheiden zwischen dem, was Angelegenheiten meiner Eltern sind und dem, was mir obliegt und anheimgegeben ist?
- Gerüstet, den Nachkommenden - meinen Kindern - jenen Entwicklungs- und Freiraum zuzugestehen, der für die eigenen Entwicklungsschritte so unabdingbar ist? Auch dann, wenn deren Neigungen, Vorlieben und Interessen nicht meinen eigenen Präferenzen entsprechen?
- Gerüstet mit Blick auf die Möglichkeit, dass die Liebe meiner Kinder zu mir und meine Liebe zu meinen Kindern sich nicht vollends entfalten kann, dass liebevolle Zuwendung, wenn sie Zukunft haben soll, Herkunft benötigt. Die Liebe meiner Kinder kann man als einen Spiegel begreifen, der uns erlaubt, uns selbst zu erkennen. Wie kann ich erwarten - freilich darf ich es hoffen -, dass meine Kinder mir in uneingeschränkter Liebe verbunden bleiben, wenn ich ihnen kein Beispiel geben kann? Wie kann das sein - bei aller Liebe???
Diese Hinweise - eine erste Skizze - leben davon, dass sie nicht im Sinne normativer Vorgaben gemeint sind, sondern dass sie einer Beobachterhaltung geschuldet sind, die mit einer vorbehaltlosen Selbstbeobachtung beginnt (Kurz vor Schluss I und II). Eine rückhaltlose Selbstbeobachtung bedarf einer selbstkritischen Grundhaltung:
Nachbemerkung in der Nachbemerkung:
Ich persönlich habe den Gründungsmythos beschrieben, der meine Frau und mich vor 45 Jahren hat zu einem Paar werden lassen - Kurz vor Schluss II, Seite 24-37. Voller Demut und Dankbarkeit habe ich mit Menschen- und Engelszungen besungen, welche Gnade mir - nach meinen Irrungen und Wirrungen 1997 - zehn Jahre später zuteil geworden ist (Die Mohnfrau, Seite 109-133). Aber ich habe schon früh erkennen müssen, wie sehr das Leben und man selbst zur Zumutung für sich und andere wird. Lyrisch verbrämt sind es Die vier Männer in mir (Das Leben - Ein Klang, Seite 45f.), die deutlich machen, wie sehr wir Kontinuitätsbrüche verkörpern und verursachen, wie sehr wir uns wandeln und einem Wandel ausgesetzt sind. Im härtesten aller Fälle hat es zwanzig Jahre gedauert, im aberwitzigsten Fall hat es nur Monate gedauert, bis die Hellingersche Formel für mich nicht Formel blieb, sondern das Ritual begründete, hinter dem gleichermaßen unsere schuldhafte Verstrickung aufscheint, gleichermaßen aber auch die Dankbarkeit und Gnade, zu denen man (lange) keinen Zugang finden kann, und die dann letztlich einer Erlösung gleichkommen, der Erlösung aus endlosen Verstrickungen in Paarbeziehungen:
Hellinger sagt unter anderem (dokumentiert in: Gunthard Weber, Zweierlei Glück, Heidelberg 1997, Seite 143f.):
"Wer in einer wesentlichen Paarbeziehung war (mit sexuellem Vollzug), ist gebunden und kann nicht mehr raus ohne Schmerz und ohne Schuld." Das wird freilich nicht jeder so sehen - vielleicht in einer Bennschen Verblendung:
"Warst du der große Verlasser,
Tränen hingen dir an,
und Tränen sind hartes Wasser,
das über Steine rann,
es ist alles vollendet,
Tränen und Zürnen nicht,
alles wogengeblendet
dein in Rosen und Licht."
(Gottfried Benn, DU MUSST DIR ALLES GEBEN - vierte Strophe; Gesammelte Werke, Band III - Limes Verlag, vierte Auflage, Wiesbaden 1960, Seite 133)
"Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann könnten sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen: >Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lass ich dich in Frieden.< Dann können beide auseinandergehen."
Noch einmal Benedict Wells: "Trotz traumatischer Momente, Brüche und Probleme gab es in meinem Leben immer auch Liebe, Versöhnung und Gespräche, das hat mich geprägt. Und ich hoffe, das schimmert auch durch dieses Buch."