mors certa - hora incerta
"Opa, du hast doch viele Menschen gekannt, die schon tot sind!? Opa, wie lange lebst du noch? Opa, warum gibt es eigentlich Soldaten - und was machen Soldaten? Opa, warum haben Polizisten Pistolen?"
Leo ist am 8. Mai fünf Jahre alt geworden. Gemeinsam mit Jule seiner dreieinhalbjährigen Schwester und dem Küken Anouk, die am 5. Juli ein halbes Jahr alt wird, sind sie meine Augäpfel und die Lieben meines späten Lebens. Alles, was wir auf dieser Erde anrichten und zu verantworten haben, lastet schwer - auch auf mir. Die Antwort auf die Frage, warum es Soldaten gibt und was die tun und warum es die Polizei gibt und Polizistinnen und Polizisten in Deutschland eine Waffe tragen, fällt mir schwer und leicht zugleich. Leo und Jule sind Kindergartenkinder - und natürlich Geschwister, Geschwister, die wie alle Geschwister, miteinander streiten, manchmal heftig streiten. Da wird auch schon einmal gebissen, geschlagen, gepitscht. Der unkontrollierte, spontane Versuch seine Interessen oder auch seinen Unmut, seine Kränkung und Verletzung gewaltsam durchzusetzen bzw. auszuleben, sind den Kindern vertraut. Sie erleben sogar im frühen und frühesten Alter schon, dass auch die geliebten Bezugspersonen sich nicht immer unter Kontrolle haben. Die Beachtung von Regeln, die Gültigkeit von Verboten, die Erfahrung des Entscheidermonopols von Eltern und Großeltern gehören zu den frühesten und prägendsten, teils schmerzhaften realitätswirksamen Zumutungen.
Dann fällt es natürlich einerseits leicht zu erklären, dass man - will man in Frieden und womöglich einander zugeneigt miteinander auskommen - Regeln beachten muss und seine Konflikte auf lange Sicht besser gewaltlos und auf der Grundlage von Absprachen löst. Was Immanuel Kant dem krummen Holz, für das er die Menschen hielt, anriet, ist und bleibt die Blaupause für ein friedliches Zusammenleben der Menschen: Schließt Verträge und haltet euch daran! Und wenn es nicht passt, dann handelt neue Verträge und Absprachen aus! Was dabei so eindrücklich für Kinder ist, liegt in der - Kant würde sagen - triebhaften Grundausstattung der Menschen: Gefällt dir der vermeintlich herrenlose Bagger, dann nimm ihn dir! Weist dich jemand darauf hin, dass das sein Spielzeug ist, kannst du den fälligen Streit riskieren. Du kannst aber auch fragen, ob du mit dem Bagger ein wenig baggern darfst. Du musst immer mit einem Nein rechnen, und du musst lernen - ob du es nun willst oder nicht - mit deiner Enttäuschung umzugehen, wenn jemand dein Begehr zurückweist (wenn du nicht eben Wladimir Putin bist). Aber Beharrlichkeit könnte sich auszahlen; oder die Möglichkeit einen Tausch anzubieten. Aber häufig genug müssen Dritte schlichten, Regeln einfordern oder auch nur Möglichkeitsräume eröffnen. Und schon kommen zivilisierende Prozesse in Gang.
Und dennoch. In unserem Rechtsstaat ist das staatlichen Gewaltmonopol eines der wichtigsten Prinzipien. Im Großen und Ganzen funktioniert der Rechtsstaat regelbasiert, und nur Polizisten dürfen unter bestimmten Umständen Gebrauch machen vom Gewaltmonopol. Sie unterliegen aber selbst jenem Regelwerk, dass unser friedliches Zusammenleben ermöglicht. Leo und Jule waren im Frühjahr zum ersten Mal im Ausland, in Frankreich. Dass Grenzüberschreitung im besten Sinne unmerklich erfolgte, verdankt sich einer unglaublichen Revolution im Zusammenleben der europäischen Völker, die bis in den Zweiten Weltkrieg hinein als Todfeinde nich koexistieren konnten. Insofern ist uns Europäern in der Tat Revolutionäres gelungen.
Dass wir alle sterben müssen, steht uns ins Stammbuch geschrieben - neben der Geburtlichkeit steht die Sterblichkeit: mors certa - hora incerta. Es ist gewiss die schwierigste aller Herausforderungen Kindern gegenüber behutsam mit dieser existentiellen Grundbefindlichkeit umzugehen. Vor gut einem Jahr - Leo war immerhin schon vier Jahre alt - kam es zu einem Gespräch beim Händewaschen vor dem Spielgel: "Opa, wer lebt denn eigentlich in eurem Haus, wenn ihr nicht mehr lebt?" Ich reagierte spontan und antwortete: "Vielleicht lebt ihr ja eines Tages hier, in diesem schönen Haus." Genauso spontan und prompt antwortete Leo darauf. "Aber nur mit dir!"
Aron Bodenheimer hat mir den Unterschied zwischen einem knochentrockenen Realisten und der Einfühlsamkeit liebender Eltern oder Großeltern überdeutlich gemacht. Die Antwort: "Dann sind wir bei Dir!" In der Not sind wir, die Eltern, bei Dir! Diese Antwort verbürgt, dass es Menschen gibt, die bedingungslos und vorbehaltlos für (ihre) Kinder einstehen, so dass aus der Bindung Zugehörigkeit und Geborgenheit resultieren. Aber dies ist kein Spiel mit Worten. Identitätsverbürgende Auswirkungen und Individuation ermöglichende Grundhaltungen bedürfen einer entsprechenden Praxis.
"Aber nur mit dir!" hat auch noch Geltung, wenn ich tatsächlich - mors certa - hora incerta - nicht mehr unter dem Lebenden weile. Was wir heute tun, die Saat, die wir heute säen, geht auf, wenn unser Handeln unseren Worten und Absichten entspricht
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