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Markus Deggerich: Fast hätte ich meine Mutter umgebracht (SPIEGEL 52/23, S.94-95)

Wie mir am Heiligen Abend noch eine Weihnachtsgeschichte geschenkt wurde(:-)) - oder: Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott

Vorbemerkung: Nach der gestrigen kurzen Würdigung der lebenslangen Forschungsbemühungen des Forscher- und Ehepaares Karin und Klaus Grossmann blieb als ein Schlüsselbegriff  vermeidendes Verhalten im Gedächtnis, das entsteht, wenn ein Kind keine Schwäche zeigen darf und negative Gefühle mit sich ausmachen muss. Seit langem leistete ich mir gestern die aktuelle Ausgabe des SPIEGEL, weil sie aus gegebenem Anlass mit dem Titel aufwartete: Für immer Sohn – Wie Mütter das Leben von Männern prägen

Auf Seite 94/95 lese ich Markus Deggerichs Selbstoffenbarung: Fast hätte ich meine Mutter umgebracht und setze mich dabei einer Achterbahn aus, die ich selbst nur aus einer Perspektive kenne, nämlich der liebenden, alles verstehenden, alles hinnehmenden Mutter in ihrem Sterben noch einmal zu begegnen und dabei erwachsen zu werden. Markus Deggerich beschreibt in seinem Essay wahrlich eine anders geartete Achterbahn, die allerdings zum Schluss eine Kurve nimmt, aus der (Selbst-)Erkenntnis, Demut und lebensbejahende Versöhnung aufscheint – Versöhnung nimmt hier eine besondere Färbung an, die wohl an den tieferen Sinn dieses Begriffs rührt.

Markus Deggerich schildert seine Kindheit im vermieften und verpissten erzkatholischen Münsterland und meißelt dabei einen Satz in die Welt der im Verhältnis der Generationen richtungsweisend ist. Er hämmert ihn geradezu in ein vermeintlich heilloses Mutter-Sohn-Desaster, weil er als Intellektueller etwas andeutet, was sich als Teil einer für unmöglich gehaltenen Lösung herausstellen wird:

„Meine Mutter; Jahrgang 1938, wurde in der Nachkriegszeit als begabtes Mädchen  um ihre Perspektiven gebracht. Kein akademischer Aufstieg oder Ausweg für die Einserschülerin im Wirtschaftswunderland, stattdessen Vorbereitung auf Ehe und Mutterschaft. Ihren Bildungsehrgeiz, das ungelebte Leben, übertrug sie auf ihre Kinder, drei Töchter und zwei Söhne, Verhütung war unkatholisch. Sie war gefangen im Korsett ihrer Zeit; aber erstens wusste ich das nicht, und zweitens musste es mich als Kind nicht interessieren.“

Was sich nun offenbart an vermeidendem Verhalten der Mutter ihrem Sohn gegenüber ist an gleichermaßen subtiler wie brutal-öffentlicher Demütigung des Sohnes durch die Mutter nicht so leicht zu überbieten. Markus Deggerich macht Abitur und verlässt als 18jähriger das Haus und tritt seinen Zivildienst in München an – nicht ohne zuvor jedoch zu beschreiben, wie er sich einer vermeidenden Mutter gegenüber freizuschwimmen versuchte:

„Ich schrieb in mein Tagebuch: >Ich hasse meine Mutter.< Und hoffte, dass sie es liest. Hoffte, dass es ihr wehtut. Liebe als Leid. Ich lebte in der Pubertät alles aus, was sie hasste: Schule schwänzen, schlimmer noch: Kirch schwänzen, mit 17 ohne Führerschein ein Auto zu Schrott zu fahren, auf jeder Party der Letzte, im Rausch alles intensiver spüren, liebestrunken oder betrunken den heiligen Sonntag verschlafen. Als wollte ich sagen: Nimm das, Primadonna Dolorosa.“

Markus Deggerich zeigt seiner Mutter den Brief der Einberufung:

„Sie nahm den Brief, las ihn, drehte sich weg – und weinte bitterlich. Ich war irritiert von diesem Gefühl, streckte meine Hand aus, aber sie wollte keine Umarmung. Ich zog meine Hand zurück, ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sichtbar wurde, dass die Liebe immer da war, aber nicht rauskonnte.“

Markus Deggerich geht seinen Weg, schildert seinen langen, beschwerlichen Weg durch die Frauenwelt:

„Ich wiederholte im Verhältnis zu Frauen den Schmerz, den ich bei meiner Mutter spürte: Du bist nicht gut genug. Bis ich die Frau traf, die mir sagte: >Du bist ein toller Vater. Aber könntest Du bitte aufhören, eine bessere Mutter sein zu wollen?< Wenn ich es übertreibe mit Elternliebe oder Elternstrenge, zwinkert sie unseren Kindern zu und holt uns alle mit Humor raus aus der Situation mit dem Satz: >Achtung, Achtung, jetzt spricht gerade Oma aus eurem Vater!<.“

Markus Deggerich schildert den Weg seiner Mutter in die Demenz und den seines Vaters in eine Parkinson-Erkrankung:

„Als meine Eltern nicht mehr alleine leben konnten, engagierten wir eine Pflegerin aus Polen. Ich reduzierte meine Arbeit auf eine Teilzeitstelle und fuhr jeden Monat für eine Woche, meist mit meinen kleinen Kindern, die 500 Kilometer zu ihnen. Einmal im Monat für eine Woche wieder zu Hause einziehen …] Jedes Mal, wenn ich in den Zug einstieg, hatte ich Angst. Vor der Situation. Vor ihr. Vor mir. Es war die anstrengendste, aber lehrreichste Zeit. Meine Kinder lehrten mich, dass es leichter sein kann, nicht zu hadern, sondern anzunehmen. Sie legten sich zur Großmutter ins Bett, plauderten, kuschelten. Und sie sangen ihr vor. Momente, in denen sich Erstarrung löste. Meine Mutter lachte. Ich sah zu und weinte, konnte aber nicht teilnehmen, nicht mitsingen. Noch nicht.“

Es kommt die Nacht, in der Markus Deggerich seine Mutter beinahe ermordete. Er sieht, wie die Mutter im Furor versucht seinem Vater ein Kissen auf’s Gesicht zu drücken. Er hält sie unter Aufbietung aller Kräfte davon ab und verliert sich in der Phantasie, das Ganze umzukehren

„Was, wenn ich jetzt das Kissen auf ihr Gesicht drücke, sie >erlöse<, uns >erlöse<, Papa beschütze. Alles Unausgesprochene, alle Erschöpfung, alle Kränkungen, all die Wut des Sohnes in mir kristallisieren sich in diesem einen Moment.“

In dieser Nacht besinnt sich Markus Deggerich. Er findet Entspannung und Erlösung, hört Musik im Nachtprogramm des Radios: „Atme, dachte ich, atme, sonst wirst du wahnsinnig.“ Er schleicht zurück ins Schlafzimmer, setzt sich neben seine Mutter, nimmt sie in den Arm und singt – „der geschulte Christ in mir wurde fündig: >Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag<.“ Die Mutter legt sich hin und singt leise mit – „dann schlief sie ein, das harte Gesicht entspannte sich, schutzlos: wie ein Kind.“

Ich lasse es jetzt genug sein und zitiere die Schlusssätze aus Markus Deggerichs fulminantem Essay:

„Wenige Wochen später hörte sie auf zu atmen. In der Nacht vor ihrem Tod habe ich ihre Hand gehalten, sie um Verzeihung gebeten; dafür, dass meine Liebe nicht reichte, ihre Form von Liebe zu erkennen und ihr schweres Leben leichter zu machen. Und dann habe ich gesungen: >Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.< Das Kind in Dir will Heimat finden? Der Sohn in mir will, immer noch, Mama finden.“

Diese Geschichte lässt nicht einen Hauch für Moral oder für’s Moralisieren. Die Forschungen Bowlbys oder des Forscherpaares Grossmann kulminieren im nüchternen Tatbestand des vermeidenden Verhaltens, das in seiner Problematik so viele Spielarten von Eltern-Kind-Beziehung offenbart. Aber es sind offenkundig oftmals nicht die Eltern, die hier heilend wirken und eingreifen können. Markus Deggerich hilft sich selbst zu Beginn seines Essays mit dem Hinweis: „Sie war gefangen im Korsett ihrer Zeit; aber erstens wusste ich das nicht, und zweitens musste es mich als Kind nicht interessieren.“

Aber es interessiert ihn als Erwachsener – über sich selbst hinauswachsender Intellektueller, dem zu seiner geistigen Reife Herzensbildung zuwächst. Die vergangene Welt wird nicht heil. Aber Markus Deggerich erfährt Heil, in dem er seinen Verstand und sein Herz öffnet und auf seine Kinder hört – sie singen und besänftigen etwas, was heillos erschien.

Wer an der Kraft der Versöhnung nachhaltig zweifelt, weil im Verhältnis zu den eigenen Eltern vielleicht die eigene Wahrnehmung in erster Linie vermeidendes Verhalten der Eltern erinnert, dem mögen vielleicht die Hinweise und Phantasien des unterdessen über 90 Jahre alten Alexander Kluge hilfreich sein. Und heute – am 24. Dezember, unserem Heiligen Abend, füge ich hinzu: Markus Deggerich bringt Heil in die Welt und erfährt Heilung. Dies kann uns allen eine Offenbarung sein - auf dass wir uns nicht versündigen - weder an uns selbst noch an unseren Kindern und auch nicht an unseren Eltern.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund