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Warum es sich gerade heute lohnt, einen Aufsatz von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1984 noch einmal zu lesen - eine erste Skizze zum 25. Todestag Niklas Luhmanns:

Der normative Gehalt der Moderne – Exkurs zu Luhmanns systemtheoretischer Aneignung der subjektphilosophischen Erbmasse, in: Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Zwölf Vorlesungen, Frankfurt 1985, Seite 426-445

Der Leitfaden in allen Überlegungen, auf die sich Jürgen Habermas konzentriert, ist nach eigenem Bekunden die Begründung und Herleitung einer kommunikativen Vernunft. In zwölf Vorlesungen setzt er sich mit ideengeschichtlichen Hintergründen der von ihm als unvollendetes Projekt begriffenen Moderne auseinander. Ich gehe hier lediglich auf die zwölfte Vorlesung ein, die – wie Habermas bekennt – eigens für den Suhrkamp-Band ausgearbeitet worden ist. Diese Beschränkung wird ihrerseits noch einmal einer Beschränkung unterzogen, indem der Versuch, das Kernstück der gesamten Philosophie Habermasens – die Begründung und Aufrechterhaltung einer kommunikativen Vernunft – gegen Niklas Luhmann zu positionieren in einer katastrophalen Dekonstruktion der eigenen Prämissen endet. Sehr viel ambitionierter und umfassender lässt sich dies im Übrigen bei Norbert Bolz nachlesen.

Jürgen Habermas interpretiert Niklas Luhmann sicherlich zutreffend, wenn er davon ausgeht, dass Sinnverstehen aus Luhmanns Sicht, „unterhalb des Niveaus von Sprachverstehen“ entstehe; nämlich „aus der wechselseitigen Beobachtung von psychischen Systemen, die wissen, dass jedes von ihnen selbstbezüglich operiert und daher selbst in der perzepierten Umwelt des jeweils anderen vorkommt“. (S. 440) Ich zitiere nun Habermas, in einer weiteren Interpretation Luhmanns. Dabei enthüllt sich noch einmal das zitierte Kernstück einer kommunikativen Vernunft, indem er die Negation seiner Grundposition durch Luhmann betont und dabei annimmt, die Unhaltbarkeit der Luhmannschen Betrachtungsweise entlarven zu können. Er schreibt: „Diese soziale Dimension von Sinn kommt also nicht durch eine Konvergenz von Verstehenshorizonten zustande, die sich um identische Bedeutungen und intersubjektiv anerkannte Geltungsansprüche zusammenziehen und im Konsens über etwas Gemeintes oder Gesagtes verschmelzen.“ (ebd.) Im Gegenzug lässt sich also schlussfolgern, dass es aus der Sicht Habermasens so etwas geben könnte wie

  • Konvergenz von Verstehenshorizonten;
  • identische Bedeutungen und intersubjektiv anerkannte Geltungsansprüche,
  • die dann auch noch im Konsens über etwas Gemeintes oder Gesagtes verschmelzen.

Zunächst einmal fällt auf, wie fahrlässig Jürgen Habermas Sprache selbst als Kommunikationsmedium verwendet. Er schreibt und nimmt damit tatsächlich an, dass eine Konvergenz von Verstehenshorizonten zustande kommen könne, die sich um identische Bedeutungen und intersubjektiv anerkannte Geltungsansprüche zusammenziehen und im Konsens über etwas Gemeintes oder Gesagtes >verschmelzen< könnten. Er setzt verschmelzen selbst kursiv. Diese Vorstellung ist ihm wohl auch nicht ganz geheuer. Verschmelzungsphantasien erweisen sich im Übrigen mit Peter Fuchs – wie zuvor schon mit Niklas Luhmann (in: Liebe als Passion, Frankfurt 1982) – allenfalls anwendbar auf den absoluten Grenz- und Ausnahmestatus romantisch Verliebter: Hier mögen solche Verschmelzungsphantasien für eine gewisse Phase Überhand gewinnen, wenn sich zwei Verliebte gegen den Rest der Welt positionieren und von einer lebenslangen wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz (Peter Fuchs) träumen.

Trivialer nimmt sich die Sprachverwendung Habermasens aus, wenn er Gemeintes und Gesagtes unterschiedslos auf einer Ebene ansiedelt. Was jemand sagt, können wir versuchen mit unserem Verstehenshorizont abzugleichen. In der Regel – wenn wir an Kommunikation teilnehmen – werden wir daran anschließen und im Fortgang über wechselseitige Anschlüsse bewerten, was wir von diesem konkreten Kommunikationsgeschehen zu halten haben. Was jemand wirklich meint, werden wir hingegen niemals in der Lage sein zu ergründen. Die schlichte Unterscheidung von gelebtem, erlebtem und erzähltem Leben öffnet den Blick für eine Ausgangslage, in der jene System-Umwelt-Unterscheidung scharf gestellt wird, die Jürgen Habermas so vehement zurückweist.

Er zitiert Niklas Luhmann, ohne die auf der Hand liegende Überzeugungskraft dieser Unterscheidungen auch nur zu erwägen. Ganz im Gegenteil glaubt er immer noch gegenüber Luhmann die besseren Argumente ins Feld führen zu können:

„Für die wenigen Hinsichten, auf die es im Verkehr (sich wechselseitig beobachtender selbstreferentieller Systeme) ankommt, mag ihre Informationsverarbeitungskapazität ausreichen. Sie bleiben getrennt, sie verschmelzen nicht, sie verstehen einander nicht besser als zuvor; sie konzentrieren sich auf das, was sie am anderen als System-in-einer-Umwelt als Input und Output beobachten können, und lernen jeweils selbstreferentiell in ihrer je eigenen Beobachtungsperspektive. Das, was sie beobachten, können sie durch eigenes Handeln zu beeinflussen versuchen, und am feedback können sie wiederum lernen. Auf diese Weise kann eine emergente Ordnung zustandekommen … Wir nennen diese … soziales System.“

Dass soziale Systeme Sinn in Form von Kommunikation verarbeiten, wird von Habermas und Luhmann gleichermaßen so gesehen. Die Differenz ergibt sich aus einer grundlegend abweichenden Sicht dessen, was Sprache vermag. Habermas zeigt sich herausgefordert, wenn er seinem Kontrahenten zu Recht unterstellt, Sprache sei als Kommunikationsmedium so unterbestimmt, dass sie eben nicht dazu tauge, den Egozentrismus der einzelnen Systemperspektiven durch eine höherstufige, über- oder zwischensystemisch gemeinsame Perspektive zu überwinden. In seinen Abgrenzungsbemühungen wird Jürgen Habermas noch deutlicher wenn er argumentiert, die Trennung von Sozial- und Sachdimension bei Luhmann solle gerade ausschließen, was man für das Telos der Sprache zu halten geneigt sei. Was Habermas in Rage bringt ist Luhmanns Nüchternheit, mit der er „die übersubjektiven Grundlagen von Verständigungsprozessen – den Gebrauch bedeutungsidentischer Ausdrücke und eine Konsensbildung auf der Basis von Geltungsansprüchen“ auflöse, um dann „mit einem minimalistischen Sprachbegriff die Strukturen sprachlich erzeugter Intersubjektivität zu unterlaufen“.

Norbert Bolz hat das Habermassche Sehnsuchtsprojekt auf den Punkt gebracht, indem er noch einmal betont, dass für Habermas Verständigung in Sprache das Medium guter Vergesellschaftung sei. In der Sprache selbst seien Anerkennungsverhältnisse verankert. Und aus all dem leite Habermas dann ab: „Auch die moderne Gesellschaft hat in lebensweltlicher Kommunikation ein virtuelles Zentrum der Selbstverständigung. So kann sie im verständigungsorientierten Diskurs eine vernünftige Identität ausbilden.“ (Bolz 39) Bolz stellt lapidar fest: „Sprache als wahrheitsindifferenter Variationsmechanismus oder als Vehikel der Wahrheit, darum geht der Streit.“ (40) Habermas glaubt an den Konsens – Luhmann positioniert sich als Denker der Differenz.

Jürgen Habermas, der meine ganze Verehrung besitzt, weigert sich bis heute – er ist unterdessen 94, während Luhmann heute (6.11.1998) vor 25 Jahren im Alter von 70 Jahren gestorben ist - seine maßlose Überschätzung der Sprache einzuräumen. Für ihn gilt heute wie 1985 die Feststellung: „Die Strategie der Begriffsbildung (bei Luhmann) … erklärt sich daraus, dass sich die Theorie in die Folgeprobleme einer einzigen Grundentscheidung kumulativ verwickelt. Mit den Aspekten des Sozialen und des Psychischen nimmt Luhmann gleichsam das Leben der Gattung und das ihrer Exemplare auseinander, um es auf zwei einander äußerliche Systeme zu verteilen, obwohl doch der interne Zusammenhang beider Aspekte für sprachlich konstituierte Lebensformen konstitutiv ist.“ (443)

Lieber Jürgen Habermas, wenn wir uns heute gemeinsam gegen eine AfD positionieren, die Begriffe aus dem Wörterbuch des Unmenschen, wie Volksverräterentartete Politik oder Umvolkung bzw. des Völkischen wieder hoffähig machen, dann geschieht dies doch zweifelsfrei in dem Bewusstsein, dass gerade das Wörterbuch des Unmenschen Sprache als jenen wahrheitsindifferenten Variationsmechanismus offenbart, den Niklas Luhmann wohl sehr früh gesehen hat. Wer schart sich denn selbst heute um Parolen der Hamas auf deutschen Straßen, wenn nicht jene, die Juden wieder dort sehen wollen, wo sie die Nazi-Unmenschen der industriellen Vernichtung zugeführt haben? Wer überrascht denn den gesamten Westen am 24. Februar 2022 mit seinem Überfall auf die Ukraine? Ist das nicht jener Wladimir Putin, der 2014 Minsk I und II unterschreibt (wie weiland die Nazis das Münchner Abkommen). Jeder wird Ihnen, verehrter Jürgen Habermas Recht geben, wenn sie sagen, Minsk I und II konstituieren im sozialen System der Politik, das, was mit der Idee eines pacta sunt servanda den Prinzipien der Vertragstreue im öffentlichen und privaten Recht absoluten Vorrang einräumt. Was hier in sprachlicher Form in Vertragsform gegossen wurde, vollzog sich auf der Ebene des Gesagten - wir können es heute noch nachlesen. Aber nicht jeder meint auch, was er sagt! Genau an solchen Stellen zeitigt Ihr naiver Sprachgebrauch fatale Konsequenzen. Vermutlich hat Wladimir Putin schon 2014 – wie im Übrigen bereits vorher – niemals gemeint, was dem von Rußland in Verträgen Gesagten entspricht.

Viele rätseln bis heute über Putins Psyche (Michel Eltchaninoff). Wer bis zum Befehl Putins zum Einmarsch in die Ukraine die Idee für aberwitzig gehalten hat, das Soziale und das Psychische „auf zwei einander äußerliche Systeme zu verteilen“, wie es Luhmanns von Habermas zurückgewiesener Unterscheidung entspricht, muss sich inzwischen eines Besseren belehrt sehen.

Wie konstatierte Norbert Bolz schon 1999 in seiner Totenrede auf Niklas Luhmann:

„Gerade eine Soziologie, die Gesellschaft als Inbegriff aller Kommunikationen versteht, muss vor einer Überschätzung der Sprache warnen: Im Grunde weiß jeder, dass die Umgangssprache unfähig ist, komplexe Konflikte zu lösen. Man denke nur an den Ehestreit. Sprache ist zu beliebig, um das Soziale zu strukturieren.“ (39)

Aber selbst wenn man so weit geht und annimmt, dass doch hochspezialisierte Sprachwelten – wie meinetwegen die der Jurisprudenz und darauf fußende Vertragswerke der internationalen Politik – für kodifizierten Konsens sorgen könnten, sieht er sich immer wieder eines Besseren belehrt. Es zeigt sich, dass (internationale) Kommunikation (auch in hochprofessionalisierter Form – Minsk I, Minsk II), die auf einen – wenn auch brüchigen - Konsens angelegt ist, oft nur durch ihr Scheitern offenbart, was die unterzeichnenden  Vertragspartner wirklich meinen. All dies steht unter dem Luhmannschen Kontingenzvorbehalt, der – jenseits aller normativ aufgeladenen Bewertung unter moralischen Gesichtspunkten – lediglich die Beobachtung wiedergibt, dass zum Beispiel Täuschung zum politischen Alltagsgeschäft gehört.

Um nun auch politisch umzusetzen, was man denn wirklich meint (wie im Falle Putins), bedarf es aber noch einer weiteren Bedingung, die uns Deutschen deshalb vertraut ist, weil seine politikmächtige Formgebung durch den deutschen Staatsrechtler (und Nazi-Kronjuristen) Carl Schmitt geprägt worden ist. Denn der meinte: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (nachzulesen in seiner Schrift Politische Theologie - 1922 sowie in: Der Begriff des Politischen -1932). Für Schmitt ist dabei klar, dass jede Rechtsordnung „auf einer positiven Bestimmung, das heißt auf einem Befehl, beruht“. Handlungspraktisch wiederum bedeutet dies, dass souverän nur der sein kann, der diesen Befehl ausspricht, durchzusetzen sowie zu wahren vermag und damit die Entscheidung über die materielle Ausgestaltung der Legalität trifft.

In solchen Überlegungen offenbaren sich die Grenzen einer an gesellschaftlichen Konsens glaubenden Vorstellung von Politik. Die Vorstellung von einer Lebenswelt als Schauplatz sprachlicher Verständigung erweist sich als Illusion. Es gibt keine Möglichkeit einer Selbstrepräsentation der Gesellschaft. Norbert Bolz führt dazu aus:

"Dass die Gesellschaft sich als Ganze in sich selbst darstellt, soll (nach Habermas, FJWR) durch die Öffentlichkeit als einer Art höherstufiger Intersubjektivität ermöglicht werden. Und in dieser Öffentlichkeit soll es dann so etwas wie gesamtgesellschaftliches Bewusstsein und kollektive Identitätsbildung geben [...] Um an Vernunft und vernünftiger Gesellschaftsidentität festhalten zu können, muss man unterstellen, dass sich Gesellschaft ein richtiges Bild von sich als Ganzer machen kann. Deshalb sträubt sich Habermas gegen die Grundkonzeption einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, in der es nur noch autonome, gegeneinander abgeschlossene Teilsysteme gibt, die füreinander Umwelten sind, also nicht miteinander kommunizieren können, geschweige denn sich instruieren können." (38)

Fast 40 Jahre nach der Abrechnung Habermasens mit Luhmanns Systemtheorie muss man Norbert Bolz zustimmen, wenn er seine Totenrede auf Niklas Luhmann mit der Feststellung eröffnet, die Theorie von Jürgen Habermas sei naiv: "Am Ende, und seit seinem Tod gibt es ja ein Ende, am Ende gewinnt Luhmann."

Eine letzte Bemerkung mit Blick auf die gegenwärtig auf deutschen Straßen ausgetragenen Differenzen zum israelisch-palästinensischen Konflikt: Der Konsens der Demokraten in der Bundesrepublik Deutschland wird sich daran bewähren und zeigen müssen, dass er der massenhaft in Erscheinung tretenden islamistischen Hetze jegliche Duldung entzieht. Es zeigen sich unüberbrückbare Differenzen in der Wahrnehmung und Beurteilung dieses Konflikts. Eine wehrhafte Demokratie muss sich in dieser Frage konsequent und kompromisslos geben. Eine vernünftige Identität muss dann auch bedeuten, dass man den eigenen Vernunftbegriff gegen das durchsetzt, was andere als vernünftig ansehen. Selbst Jürgen Habermas sagt in seinen nachstehend zitierten Ausführungen zu einer "Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen" nichts anderes:

"Unversehrte Intersubjektivität ist der Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier reziproker Anerkennung. Diese Idee darf aber nicht zur Totalität einer versöhnten Lebensform ausgemalt werden und als Utopie in die Zukunft geworfen werden, sie enthält nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die formale Charakterisierung notwendiger Bedingungen für nicht antzizipierbare Formen eines nicht ver-verfehlten Lebens." (Nachmetaphysisches Denken, Seite 186).

Denken wir über die formale Charakterisierung notwendiger Bedingungen nach, dann gehört die Errichtung eines Kalifats auf deutschem Boden gewiss nicht dazu!!! Und dies trotz der Tatsache, dass in Deutschland inzwischen circa 6 Millionen Muslime leben. Die Vernunft ist eben immer nur die eine Vernunft!

Dass Jürgen Habermas seine Diskursethik damals schon mit zitternder Hand geschrieben hat, wird klar, wenn man seine Aufsatzsammlung Nachmetaphysisches Denken, erstmals 1988 erschienen und mir in der zweiten Auflage von 1997 vorliegend, zur Hand nimmt. In Kapitel 7 Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen (Seite 153-186) wird deutlich, wie fragil und letztlich unhaltbar Habermasens Vorstellung ist, Gesellschaft könne im verständigungsorientierten Diskurs eine vernünftige Identität ausbilden. Mir zumindest ist dies bei meiner seinerzeitigen Lektüre mehr als deutlich geworden.

Quellenangabe zu Norbert Bolz: Niklas Luhmann und Jürgen Habermas. Eine Phantomdebatte, in: Luhmann Lektüren (Kulturverlag Kadmos), Berlin 2010, Seite 34-52

   
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