Jungs - Werden sie die Sorgenkinder unserer Gesellschaft? Ein Geo-Heft aus dem Jahr 2003 flankiert von einer aktuellen Kolumne Harald Martensteins
Das Geo-Heft aus dem März 2003 stellte sich mit dem Titel vor: Jungs - werden sie die Sorgenkinder unserer Gesellschaft? Es lag bei mir zwanzig Jahre sozusagen auf Wiedervorlage im Archiv(:-)) Johanna Romberg und Isadora Tast nähern sich einem Thema, das aus dem Rückblick von 2023 aus eher an Aktualität und Brisanz gewonnen hat. 2003 bin ich Vollweise geworden und hatte in den nachfolgenden Jahren mehr denn je Gelegenheit und Veranlassung darüber nachzudenken, wer ich als Junge war, und welcher Mann aus diesem Jungen geworden ist. Im Editorial kündigt Chefredakteur Peter-Matthias Gaede den Beitrag mit folgenden Hinweisen an:
"Johanna Romberg untersucht: das komplizierte Leben als Junge. Einer in Dublin an 8000 Erstgeburten angestellten Studie zufolge haben es Jungen schon schwerer als Mädchen, überhaupt komplikationslos auf die Welt zu kommen. Deutlich häufiger als bei den Mädchen geht das nur per Kaiserschnitt, häufiger als bei weiblichen Babys müssen die Wehen künstlich eingeleitet werden, müssen Geburtszange und andere Geräte helfen. Warum das so ist, macht Forscher noch ratlos - und auch weshalb Jungen später größerer Probleme mit dem Lesen haben, weshalb sie die sensiblen Rabauken sind, weshalb sie eher kränkeln und das größere Gewaltpotential bergen. Alls das sind derart junge Fragen für die Wissenschaft, dass die >erlösende Antwort< darauf noch nicht gefunden ist. Und auch Johanna Romberg widersteht jedem Druck auf eine befreiende Simplifizierung."
Die letzten beiden abschließenden Spalten der umfänglichen Reportage Johanna Rombergs möchte ich hier wiedergeben, um daran anschließend nicht nur meine eigenen Erinnerungen an Jungen-Kindheit und Jugend noch einmal in Augenschein zu nehmen. Vielmehr kommt es mir heute zu als Großvater eines Jungen (und eines Mädchens - das dritte Enkelkind wird im Januar erwartet und hat sein Geschlecht noch nicht preisgegeben) zu, meine eigene Rolle (als alter Mann) mit Blick auf einen vier- bald fünfjährigen Jungen und ein fast dreijähriges Mädchen in ihren vielen Facetten zu bedenken:
"Jungen-Arbeit ist anstrengend. Das sagen alle, die sie leisten, und nicht nur diejenigen, die mit >schweren Jungs< zu tun haben. Denn wer mit Jungen wirklich ins Gespräch kommen will, der darf sich nicht auf pädagogische Tricks verlassen, sondern muss sich selbst zur Verfügung stellen, mit seiner Person und mit seiner gesamten Lebensgeschichte. Auch davon berichten alle Jungen-Arbeiter übereinstimmend: von dem Riesenhunger nach Zuwendung, der ihnen entgegenschlägt, der unbändigen Neugier, die sich hinter vielen coolen, schein-souveränen Jungen-Fassaden verbirgt. Es ist Neugier, die nicht selten mit ungläubigem Staunen gepaart ist: dass da ein Mann kommt und sich für uns interessiert! Dass einer sich Zeit nimmt und wissen will, wie wir ticken, wovor wir Angst haben, was wir denken über so komplizierte Dinge wie Freundschaft, Mädchen oder Männer-Vorbilder!
Wenn Jungen sich ernst genommen fühlen und Vertrauen zu einem Mann gefasst haben, sagt der Pädagoge Christoph Grote vom Verein >mannigfaltig< in Hannover, einer Fach- und Beratungsstelle für Jungen und Männer, dann wollen sie alles von ihm wissen. Ohne Rücksicht auf persönliche Schmerzgrenzen. Hast du dich früher eigentlich auch geprügelt? Oder bist du eher verprügelt worden? Hast du Angst vor deinem Mathe-Lehrer gehabt? Wie bist du mit Mädchen klargekommen? Wann hast du zum ersten Mal mit einer geschlafen? Hast du dich selbst befriedigt? Wie gut hast du dich mit deinem Vater verstanden?
Solche Fragen, sagt Christoph Grote, können einen als Mann nicht nur in Verlegenheit bringen - sie rühren auch an Erfahrungen, die man im hintersten Winkel seines Gedächtnisses versteckt lassen wollte. Weil sie peinlich oder demütigend waren, und weil sie einen daran erinnern, wie schmerzhaft und schwierig es sein kann, ein Junge zu sein. Und das, sagt Grote, fordert einen immer wieder neu heraus, ehrlich zu sein und das eigene Verhalten zu überprüfen.
Wie kann man Jungen helfen, starke, glückliche, >richtige< Männer zu werden?
Am besten gefällt mir, Mutter zweier Söhne, die Devise der Autorin Christiane Grefe: Nehmt euch ihrer an - und lasst sie in Ruhe. Das klingt paradox. Aber wer hat je behauptet, dass Kindererziehung - und erst recht Jungen-Erziehung - ein einfaches Geschäft sei?"
Und nun geht's los - zu Johanna Rombergs Anregungen und Fragen fällt mir eine Menge ein. Ich bin selbst gespannt! Bevor es losgeht, kann man sich stets fragen, wie gelangt man denn zu seinen Überzeugungen, zu seinen Einsichten, zu seinen Irritationen? Man gleicht seine Erfahrungen ab an dem, was einem bedeutsam erscheint, was einem als Wertmaßstab Sinn zu machen scheint. Dazu kann auch schon einmal eine Kolumne beitragen.
Die Kolumne (von der Kolumne des Spaltensatzes, von lateinisch columna ‚Stütze‘, ‚Säule‘) bezeichnet - so der Wikipedia-Eintrag - in der Presse einen kurzen Meinungsbeitrag als journalistische Kleinform. Der Autor einer regelmäßig erscheinenden Kolumne wird Kolumnist genannt.)
Im ZEIT-Magazin (Nr. 40/23) überschreibt Harald Martenstein seine Kolumne mit dem Titel: Über Frauen, die keine Jungen gebären wollen. Die weiter oben angeführte Definition erwähnt an keiner Stelle, dass eine Kolumne beispielsweise vor Witz sprühen müsse. Gleichwohl mag es hilfreich sein - und auch einen erfolgreichen Kolumnisten* ausmachen, dass er kurzweilig und unterhaltsam zu schreiben weiß. Harald Martensteins erwähnte Kolumne macht betroffen auf eine andere Weise. Von ihm erwartet man den Sinn fürs Wesentliche und immer auch Zuspitzung. Warum bleiben mir nun in diesem Fall seine Absonderungen kreuz und quer im Halse bzw. im Frontallappen stecken? Da hilft - wir wir sehen werden - auch eine ironietechnische Aufrüstung in diesem Falle nicht wirklich!
Der Frontallappen (Stirnlappen) ist der größte Teil des Gehirns. Er übernimmt höhere kognitive Funktionen, einschließlich Sprache, Gedächtnis, Problemlösung und Urteilsvermögen. Der Frontallappen spielt zudem eine große Rolle in unserem Ausdruck von Gefühlen, unserer Persönlichkeiten und unserer Bewegung (siehe dazu auch zur ersten Orientierung die Hinweise im Wikipedia-Beitrag).
Martenstein meint mit dem ihm eigenen Sarkasmus, es gebe auch gute Neuigkeiten über Männer: "Möglicherweise sterben sie nämlich bald aus." Gegenwärtig werde viel über ein Phänomen namens Gender-Disappointment berichtet, etwa beim Redaktionsnetzwerk Deutschland, dem RND:
"Immer mehr Frauen, so heißt es, möchten keine Jungs mehr gebären. Mütter sind enttäuscht über das umstrittene Gender ihres Babys. In dem Forum >Rund ums Baby< berichtet eine Schwangere, man werde heute >fast bemitleidet<, wenn das Wesen im Bauch nur ein Junge ist. >Blöde Sprüche< drohen. Auch ihr Frauenarzt sagt: >Die meisten wünschen sich Mädchen< [...] Hier eine andere Frauenstimme aus einem anderen Forum im Netz: >Nun wissen wir seit zwei Tagen, dass wir einen Jungen bekommen, ich ich bin vollkommen am Boden zerstört. Ich finde mich selbst abstoßend ... Die Vortstellung eines Jungen übersteigt einfach alles in mir ... Ich habe plötzlich Angst davor, was da in meinem Bauch heranwächst.< Wird es ein zweiter Harvey Weinstein, ein neuer Heino oder womöglich gar der nächste Christian Lindner? Auf Eltern.de heißt es, das Schwangere, die einen Sohn erwarten, ruhig ihren >Gefühlen Raum geben< sollten. Diese Gefühle heißen im Normalfall >Enttäuschung<, >Trauer< und >Wut<. Nahtoderfahrungen sind möglich. Beim RND beschreibt dies eine Betroffene sehr anschaulich: >Als ich erfuhr, dass es wieder ein Junge wird, bin ich in eine richtig tiefes Loch gefallen. Es fühlte sich an, wie ein Trauerfall<."
Ich lasse es dabei bewenden - es kommt in der Kolumne noch heftiger. Martensteins vermutlich gar nicht gewollte, sondern einfach vorgefundene Zuspitzungen hinsichtlich der Umkehrung einer Werteskala ("Im Patriarchat sollte im Babybett am besten ein >Stammhalter< krähen, heute strampelt dort im Idealfall die kommende >starke Frau<.") kann man ja auch verstehen als die Erfüllung jener Prophezeiung aus dem Jahr 2003, mit der Johanna Romberg die Frage in den Raum stellte: Jungs - Werden sie die Sorgenkinder unserer Gesellschaft?
In mir jedenfalls drängt all dies auch zur Beantwortung der Frage, warum ich heute mit so ausgeprägter Leidenschaft, Fürsorge und Liebe (auch) der Großvater eines viereinhalbjährigen Jungen sein will!