STUPID WHITE MEN - Zwischen Philanthropie und Misanthropie?
"Hallo Jupp,
Misanthrop zu sein, ist keine gute Lösung. Die passt überhaupt nicht zu Dir. Dies bedeutet ja, jegliche Hoffnung auf gesundes, menschliches Miteinander aufzugeben. Wir sind doch alle soziale Wesen."
Ich hatte angesichts der Entwicklung in Russland und des unsäglichen Vorgehens Putins gegenüber der Ukraine einem Freund gegenüber geäußert, man könne sich zum Misanthropen entwickeln. Vor mir liegt die 32. Ausgabe von Michael Moors STUPID WHITE MEN (bei Piper 2002 erstmals verlegt). Auf den Seiten 274-280 findet sich sein Gebet für die Menschheit. Er spitzt es ab Seite 278 zu und nennt es Ein Gebet, die Gutbetuchten zu strafen. Zuvor appelliert er an uns, dieses Gebet jeden Morgen mit ihm zu beten - am besten vor der Eröffnung der New Yorker Börse: Es spiele keine Rolle, welcher Religion man angehöre oder ob man überhaupt eine habe. Dieses Gebet grenze niemanden aus, habe in jeder Hosentasche Platz und benötige keine Sammelbüchse.
Michael Moore's Begründung für das nachfolgende Gebet ist natürlich kontextgebunden (Begreifen braucht Kontext). Seine Referenzkatastrophen für die Brandmarkung toxischer, weißer Männlichkeit lauten dementsprechend: "Halb Afrika stirbt in wenigen Jahren an AIDS. Zwölf Millionen Kinder in Amerika bekommen nicht das zu essen, was gut für sie wäre..." Aber Michael Moore nimmt gleichermaßen die Ideologie der Klimaleugner im Allgemeinen aufs Korn, so wie er die amerikanische Hybris im Besonderen geißelt.
Kann man sein Gebet adaptieren, um auf etwas aufmerksam zu machen, was das Toxische und Unverzeihliche der russischen Aggression auf den Punkt bringt, ohne zum Misanthropen zu werden?Man kann! Es bleibt ein Spiel mit Worten, das uns in Michael Moorscher Unerbittlichkeit den Kantschen Imperativ vor Augen stellt:
Der kategorische Imperativ ist für Immanuel Kant das grundlegende Prinzip moralischen Handelns: Um zu entscheiden, ob eine Handlung moralisch sei, soll geprüft werden, ob sie einer Maxime folgt, deren Gültigkeit für alle, jederzeit und ohne Ausnahme akzeptabel wäre, und ob alle betroffenen Personen nicht als bloßes Mittel zu einem anderen Zweck behandelt werden, sondern auch als Zweck an sich. Der kategorische Imperativ wird als Bestimmung des guten Willens von Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorgestellt und in der Kritik der praktischen Vernunft ausführlich entwickelt. Er lautet in einer seiner Grundformen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Die Adaption des Gebets mit Blick auf die russische Aggression der Ukraine gegenüber:
Lieber Herr, wir flehen Dich an, oh gütiger Vater, denen Trost zu sependen, die heute leiden müssen, weil es Dir, der Natur oder Wladimir Putin aus irgendeinem Grund so gefällt.
Wir bitten Dich, Herr, jeden Abgeordneten der Duma mit einem schrecklichen, unheilbaren Krebsgeschwür im Hirn, am Penis und an der Hand zu strafen (Reihenfolge beliebig). Wir bitten Dich, unseren liebenden Vater, Wladimir Putin und jeden seiner Lakeien - und all jene, die die militärische Spezialoperation befürworten, in jene ukrainischen Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Theater, Einkaufsmärkte und Wohnhäuser einzuquartieren, die Tag für Tag seit eineinhalb Jahren von russischen Raketen beschossen werden. Sie sollen vor Angst gleichermaßen erstarren und zittern, ihre Hab und Gut und - entsprechend der Zahl der getöteten ukrainischen Brüder und Schwestern - ihr Leben verlieren. Wir flehen Dich an, Du Allergnädigster, mach die Oligarchen und ihre Gefolge zu Armen und Obdachlosen, vernichte ihre Ersparnisse, Wertpapiere und Investmentfonds. Setze sie von ihren Machtstellungen ab und lass sie durch das finstere Tal der Demütigung und Missachtung wandeln. Verbringe sie in die GULAGS und Folterkeller, verbanne sie in die sibirische Einöde, lass sie hungern bei Wasser und trockenem Brot, damit sie begreifen und fühlen, was sie ihren Landsleuten antun, die die militärische Spezialoperation Krieg nennen und Putin einen Verbrecher. Wir bitten Dich, die Kinder der russischen Nomenklatura homosexuell zu machen - richtig homosexuell; lass sie zu FahnenträgerInnen der LGBT-Bewegung werden, damit ihre Mütter und Väter am eigenen Leibe verspüren, in welchem Land sie wirklich leben. Und die erwachsenen Kinder, die dann nicht im Knast und Umerziehungslagern landen, schicke an die Front, damit auch das unsäglichste Leid, dass sie über die Ukraine bringen, in ihre Köpfe, Herzen und Seelen dringe. Und ihre Frauen schicke nach Irpin, Butscha und Mariupol und an alle Orte, die russische Gräueltaten gesehen. Lass sie erleiden, was ukrainische Frauen, Männer und Kinder erlitten haben, damit die russische Seele sich besinnt. Wir bitten Dich untertänigst, die Gesalbten der russich-orthodoxen Kirche - allen voran den unsäglichen Kyrill - mit Eierstöcken, ungewollten Schwangerschaften und einer Broschüre über die Knaus-Ogino-Methode zu strafen. Und bitte - schicke sie alle an die Front in der Ukraine, damit sie ihre toten Soldaten beweinen und bestatten - die armen, einfachen, dummen, einfältigen ethnischen Parias, die sie für ihren verbrecherischen Krieg in den Tod schicken.
Höre unser Gebet und erhöre uns, Du König aller Könige, der Du im Himmel sitzt und - so gut es geht - auf uns aufpasst, wenn man bedenkt, was für Idioten wir doch sind. Gewähre uns eine gewisse Erleichterung von unserem Elend und Leid, denn wir wissen, dass die Menschen, die Du strafst sich schleunigst bemühen werden, ihre eigenen Leiden zu lindern. Und damit wären alsbald auch alle anderen ihre Leiden los. So beten wir im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, der früher einmal ein Gespenst war, Amen.
P.S.: Warum hast Du den unsäglichen Prigoschin gestoppt? Der war doch auf einem guten Weg? Ist er doch nicht nur ein Maulheld, sondern ein wahrer Schlächter. Haben wir nicht genug gebetet, dass Du ihn - nur zweihundert Kilometer vor Moskau - abdrehen ließest? Er hatte doch ausreichend schweres Gerät dabei. Den Kreml - heute nur noch der Rückzugsort einer Verbrecherbande - in Schutt und Asche zu legen; das wäre doch ein Zeichen gewesen. Nun hoffen wir, dass auch die Russen - die wahren Russen - verstehen, dass Du ihnen eine letzte Chance gibst sich zu besinnen und zu erkennen, dass Wladimir Putin kein Sonnenkönig ist, sondern eine erbärmliche Verbrechernatur, der sein Land in den Untergang führt.
Man könnte nun einwenden, Gott habe keinen Humor und die Adaption des Moorschen Sarkasmus helfe angesichts des Elends nicht weiter. Eine feine Unterscheidung hat Wolfgang Loth in der aktuellen Ausgabe der Familiendynamik (3/2023) vorgenommen, indem er bemerkt, Humor lasse sich wohl nur erkennen, wenn er sich angesichts eines Elends bewähre. Ein heiteres Gemüt alleine reiche wohl nicht aus: "Das Elend nicht zur Kenntnis zu nehmen, nimmt dem Humor seine Wärme. Anders als ein Witz. Der nimmt auch das Elend aufs Korn." Wolfgang Loth zitiert ein Streiflicht aus der Süddeutschen Zeitung. Das geht so: Treffen sich die Erde und ein Komet. "Wie geht's dir, Erde?" fragt der Komet. "Gar nicht gut", antwortet die Erde, "ich habe homo sapiens." Darauf der Komet: "Das geht vorbei."
„Heile, heile Gänsje, / Es is bald widder gut, / Es Kätzje hat e Schwänzje / Es is bald widder gut, / Heile, heile Mausespeck / In hunnert Jahr is alles weg." (Ernst Neger)
Etwas ganz anderes: Etwas, das meine philanthropischen Neigungen sehr zum Vorschein bringt:
Ein Jahr lang berichtet der Fotograf Florian Jaenicke, 54, im ZEIT-Magazin seine Kolumne "Wer bist du?" über seinen Sohn Friedrich, der seit seiner Geburt 2005 mehrfach schwerstbehindert ist. Seither erzählt Jaenicke in unregelmäßigen Abständen, wie es mit seinem Sohn weitergeht. In diesem Jahr ist Friedrich 18 Jahre alt geworden und damit volljährig. Seine Eltern haben die Betreuungsvollmacht. Dernach ist es ihre Pflicht, in seinem Sinne zu handeln, seine Rechte einzufordern und seinen Wünschen zu folgen. Ich zitiere im Folgenden den letzten Abschnitt aus dem aktuellen ZEIT-Magazin: "Friedrich wird volljährig":
"Eines Nachts, kurz nach seinem Geburtstag, höre ich ein Wimmern aus Friedrichs Zimmer. Es klingt nicht so, als ob er Schmerzen hat, aber sicher bin ich mir nicht. Also stehe ich auf und gehe in sein Zimmer, um nach ihm zu sehen. Ich streichele im Dunkeln vorsichtig seinen Kopf und flüstere ihm ins Ohr, dass ich da bin. Im Halbdunkeln erahne ich den Hauch eines Lächelns. Er dreht den Kopf zu mir und schläft ein. Es ist, als ob er nur nicht alleine sein wollte. In diesen Momenten umschließt mich ein tiefes Gefühl von Liebe. Dieses Gefühl ist es, was uns die Kraft gibt, weiterzumachen. Gleichzeitig zeigt es mir schmerzlich, wie sehr er uns braucht."
Was hier zum Ausdruck kommt, hat niemand existenzieller und umfassender verdeutlicht als Aron Bodenheimer:
Verstehen heißt antworten - so meint Aron Bodenheimer (Stuttgart 1992, S. 169f.).
"Fragen kann krank machen, sagen kann bewahren - selbst wenn der Tod schon vor der Tür steht. Sogar dann, wenn es der nukleare Tod ist, das Ende im atomaren Genozid. - Im Gespräch über diesen treffen wir, es ist nach Tschernobyl, eine Familie an, irgendwo rund um die Erde, und das Kind fragt: 'Was passiert, wenn die Atombombe losgeht?' Dieses Kind hat Eltern, denen Wahrheit die Deutlichkeit der Realität ist, nicht die bewegende Wirkung des Wortes. Und aus dem heraus, was ihnen als Liebe zur Wahrheit gilt, antworten sie ohne weitere Besinnung dem fragenden Kind: 'Dann sind wir alle tot.'
Nur, die Eltern überhören, dass das Kind sich nichts hat vorstellen können: weder unter den Realitäten noch unter den Bedrohungen dahinter, noch unter dem Text und dem Sinn dieser Antwort. Atomare Bedrohung ist diesem Kind, was der Tod jedem Kind ist, und wenn es fragt, was es mit der Bombe auf sich hat, so fragt es, wie und was es sonst zu fragen gewohnt ist, um zu erkunden, wo seine Eltern sind und wer sie ihm sind. Das Kind will wissen, ob es sich seiner Eltern vergewissern darf. Und darauf kann die Antwort nicht heißen: 'Dann sind wir tot', sondern:
'Dann sind wir bei dir.'
Und sich, den Eltern, sagen sie damit: Auch wenn wir zugrunde gehen, es macht einen Unterschied, wie es sein wird, eh wir zugrunde gehen. Das Kind erkundet, was es von den Eltern zu erhoffen hat. Versicherndes und bewegendes Sagen versagt auch nicht vor vernichtender Bedrohung."
Diese Textpassage habe ich Aron Ronald Bodenheimer: Verstehen heißt antworten (Stuttgart 1992, S. 169f.) entnommen. Den kompletten Beitrag unter diesem Link