Eva von Redecker - Bleibefreiheit II (hier: Bleibefreiheit III)
hier: Bleibefreiheit I
Am 7.4.2012 eröffnete der SPIEGEL mit einem Blick ins Rheintal bei St. Goarshausen mit der Frage: „Was ist Heimat? – Eine Spurensuche in Deutschland“
Auf Seite 67 wird der „Heimathasser“ Altmann vorgestellt:
„Altmann ist ein extremes Beispiel für den ‚Losgelösten‘, wie das in der Soziologie heißt. In der modernen Welt sind Aufbrüche häufig gewünscht oder notwendig. Man verlässt sein Dorf, weil man anderswo bessere Chancen für sich sieht. Man verlässt sein Land aus dem gleichen Grund. In der globalisierten Welt sollen die Menschen besonders flexibel sein, mobil sein, sie sollen ihre Heimaten jederzeit hinter sich lassen können, räumlich wie geistig oder moralisch. Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt in seinem Buch Im Weltinnenraum des Kapitals: ‚In ihrem Fortgang sprengt die Globalisierung Schicht für Schicht die Traumhüllen des bodenständigen, des eingehausten, des in sich selbst orientierten und aus Eigenem heilsmächtigen Kollektivlebens.‘
Die Globalisierung mutet ihren Nomaden Aufbrüche ohne Ankünfte zu. Das Leben spielt sich zum großen Teil an Nicht-Orten ab, an Flughäfen, in Hotels, Konferenzräumen. Sie sind auf Flüchtigkeit eingerichtet und nicht zu unterscheiden, weshalb sie nicht Heimat sein können. Heimat braucht Dauer, und Heimat ist spezifisch.“ Wie sieht die Welt zwischen eingehaust und unbehaust aus?
Eva von Redecker schreibt auf Seite 8 in BLEIBEFREIHEIT:
„In der ersten Pandemiewelle hätte ich eigentlich in die USA reisen sollen, um einige Vorträge zu halten […] Aber als klar war, dass ich nicht würde fahren können, war mir das merkwürdig gleichgültig. Mehr noch: Ich war richtiggehend erleichtert. Plötzlich kam es mir vor wie ein Glücksfall, als sei ein Frevel gerade noch verhindert worden. Was hatte ich mir eigentlich eingebildet, dieser Tage in einem Flugzeug zu sitzen und CO² in die Atmosphäre zu pumpen? […] Das Freiheitsempfinden kam allerdings nicht vom erleichterten Gewissen. Ich hatte ja auch nichts richtig gemacht. Es war einfach ein verblüffender Genuss von Offenheit – keine Termine, keine Fristen heute – und dazu das Geschenk einer ganz besonderen Gunst. An genau dem Tag kamen die Schwalben wieder. Und ich war da.
‚Bleibefreiheit‘ habe ich das dann probeweise genannt. Die Freiheit, zu bleiben. Das ist natürlich paradox. Wieso sollte man angesichts eines vereitelten Flugs von Freiheit sprechen? […] Bleibezwang kann keine Freiheit sein. Und auch abgesehen von meiner konkreten Situation widerstrebt das Bleiben der Assoziation der Freiheit. Schließlich ist ‚Freiheit‘ in der westlichen Tradition untrennbar mit Bewegungsfreiheit verknüpft […] So gesehen bildet das Bleiben geradezu den Nullpunkt der Freiheit.“
Wie gelangt man nun über diese in sich selbst eingekrümmte – und scheinbar unauflösbare – Paradoxie hinaus, die Eva von Redecker mit dem Begriff der BLEIBEFREIHEIT in die Welt trägt???
„Ich hätte den Begriff der Bleibefreiheit vielleicht umgehend als Idiosynkrasie eines an den Schreibtisch und Gemüsegarten gebundenen Reisemuffels zu den Akten gelegt, wenn er nicht einen Anklang in grundlegenden politischen Forderungen der Gegenwart fände (Seite 10).“
Zunächst einmal vielen Dank, sehr verehrte Frau von Redecker. Ich komme soeben aus meinem Gemüsegarten und hatte bereits zum Frühstück einen harten Disput um mögliche Reiseziele; just in einer besonder exponierten Phase der Reiseobsessionen so Vieler Pfingsten und drumherum irgendwohin zu müssen, wo es schöner ist als zu Hause (mit dieser Borniertheit habe ich meine Konten schon wieder maßlos überzogen(:-(() Fast mein gesamter Verwandtenkreis und auch vielen Wahlverwandten hüpft das Herz in der Brust ob dieser – was die Wahrnehmung meiner Person angeht – charmanten Charakterisierung. Und ich selbst muss – Zeit meines Lebens in der Defensive – auch jetzt noch ungemein achtgeben, dass mir Ihre nun folgende Revolution im Verständnis eines zeitgemäßen Freiheitsbegriffs nicht als unlautere Okkupation fremden Gedankenguts um die Ohren geschlagen wird. Wer sich ihren messerscharfen Unterscheidungen gegenüber nicht ein Jota öffnet, wird mit vollkommenem Unverständnis ihren Überlegungen begegnen. Denn „manche von ihnen sind besessen von ihrem Besitzanspruch auf Mobilität“. Springen wir einmal unversehens ins eiskalte Wasser und versuchen uns zu verdeutlichen, warum das Neue aus ihrer Betrachtung heraus unvermeidbar erscheint:
„Das Neue wäre dann allerdings gar kein Feld mehr, sondern eher eine andere Zeit. Denn das Bleiben verlässt das räumlich Imaginäre der liberalen Freiheit und bezieht sich auf die Möglichkeiten der Zukunft. AUF DER RÄUMLICHEN ACHSE MAG KEINERLEI FREIHEIT IM BLEIBEN LIEGEN. ABER AUF DER ZEITLICHEN ALLE (Seite 12f.).“
Eine kleine Randbemerkung aus der Logik Eva von Redeckers – pandemiebezogen: Sie nähert sich noch einmal der Paradoxie eines HIER BLEIBENS UND FREI SEIN KÖNNENS: „Schon die pandemiebedingten Einschränkungen lassen sich eigentlich besser begründen, wenn man sie von der Bewegungsfreiheit im Moment ablöst. Es ging um die Freiheit, irgendwann wieder unbekümmert unter Menschen zu sein. Jetzt zu Hause bleiben, um später besser reisen zu können: Um diese Überlegungen anzustellen, muss man Freiheit zeitlicher denken. Jetzt gar nicht mehr fliegen, um später noch atmen zu können. Dazu erst recht. Aber geht das überhaupt? Kann man unseren Freiheitsbegriff verzeitlichen?
Das ist eine spannende Frage!