Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte (Jorge Luis Borges)
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen,
ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin.,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen,
ich würde nicht so gesund leben,
ich würde mehr riskieren,
würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben.
Nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie… ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde.
Eine Wiederentdeckung – entnommen: Diana Drexler, Gelassen im Stress – Bausteine für ein achtsames Leben, Klett-Cotta – Stuttgart 2006, Seite 158 (Das Buch von Diana Drexler werde ich an gesonderter Stelle vorstellen).
Zunächst einmal zu Jorge Luis Borges und der Vorstellung Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte – auf Seite 191 von Kurz vor Schluss II habe ich mir selbst diese Frage folgendermaßen beantwortet (und Jorge Luis Borges verführt uns alle dazu, sich dieser Frage zu stellen):
„Und man kann vorab behaupten, dass die unvermeidbare Frage Würdest du dein Leben noch einmal genau so leben? nur folgendermaßen beantwortet werden kann: So wie sich ein lebensbedrohlich Erkrankter einer lebensbedrohlichen Rosskur unterzieht, um zu gesunden, war der Höllenritt 1997 absolut alternativlos. Wer die Welt wieder klar wahrnehmen möchte, muss den dichten Schleier einer wahnhaft verstellten Weltsicht lichten und letztlich auflösen (wohl kaum jemand vermag wohl Lehren aus den Fehlern anderer zu ziehen – hätte ich einen Wunsch frei, so wünschte ich mir, dass ein solcher Höllenritt meinen Kindern erspart bleiben möge).“
Jorge Luis Borges würde versuchen im nächsten Leben mehr Fehler zu machen. Für mich gilt die Erkenntnis, der Fehler sind genug – aber (und ohne diese Erkenntnis erscheint die Sehnsucht nach Fehlern geradezu aberwitzig und selbstzerstörerisch) Fehler ohne Lerneffekt können halt tödlich enden. Dazu in Anlehnung an Hans Magnus Enzensberger: in diesem Link vor allem: Gegebenenfalls)
Fehler verursacht (Aus: Die Mohnfrau, Seite 49)
Unbekannt
hat
in
Unbekannt
einen Fehler verursacht.
Unbekannt wird geschlossen.
Unbekannt
fordert
Unbekannt
auf
einen Fehler zu verursachen.
Unbekannt
erwidert:
„Ja, vielleicht
gelingt es mir
unter den
mir gegebenen Fehlern
den richtigen zu wählen.
Ich erwäge
- Hans Magnus sei mein Zeuge -,
ob ich das Richtige
im falschen Moment
oder das Falsche
im richtigen Augenblick
tun soll.
Und selbst,
wenn es daneben ist:
Es wäre doch unverzeihlich,
den richtigen Fehler
zu versäumen,
zumal er so leicht
nicht wiederkehrt.
Jorge Luis Borge sieht seinen Hang zum Perfektionismus selbstkritisch und mit Bedauern. Ich kann es mehr als verstehen und habe vor fünfundzwanzig Jahren die Beugungen in der Seelenstube verfasst:
Beugungen in der Seelenstube (aus: Das Leben ein Klang, Seite 97)
Ich genüge nicht
Du genügst nicht
Er/Sie/Es genügt nicht
Wir genügen nicht
Ihr genügt nicht
Sie genügen nicht
Genug genügt – nie – genügt Genug
„Genug“ ist ein Attribut mit atemporaler Halbwertzeit:
Es weist immer schon über sich hinaus,
weil die Welt sonst zum Stillstand käme
und sich genügen müsste.
Dies aber ist möglicherweise
nur fernöstlichen Blickwinkeln genug,
jenseits der Moderne.
Und jenseits unserer Genügsamkeit,
die immer Hunger hat nach mehr,
weil das Ungenügen den Takt vorgibt
als Widerpart, als komplementäre Fratze
des PERFEKTEN!
Ich bin perfekt
Du bist perfekt
Er/Sie/Es ist perfekt
Wir sind perfekt
Ihr seid perfekt
Sie sind perfekt
Seid perfekt!
Mein Gott, sind wir fertig!?
Ja, lieber Jorge Luis Borges, das Perfektionsstreben macht uns zu jenen Unmenschen, die in der Fehlervermeidung ihr Heil sehen. Aber ernst nehmen sollte man, was ernstzunehmen sich lohnt. Hättest du erheblich weniger gesund gelebt, Du könntest uns mit Deinen 85 – zwei Jahre vor Deinem Tod – all Deine Erkenntnis gar nicht mehr mitteilen; und das fände ich schade! Aber Du hast natürlich recht mit den Sonnenuntergängen und dem Bergsteigen (wer es denn mag). Und es reicht einmal in Flüssen geschwommen zu sein – nahe dem Ertrinken.
Klugheit ist gut – Besonnenheit, Wagemut und Humor seien seine GesellInnen. Und die Freude, für die gibt es vielleicht eine späte Erfüllung, wenn wir sie nicht verwechseln mit dem reinen Spaß; aber auch der ist gewiss nicht zu verachten.
Ich danke Dir für die Aura, die Du dem Augenblick verleihst. Aber Strahlkraft können Augenblicke ja nur haben, wenn man die schwarzen Löcher kennt, die sich augenblicklich vor uns auftun können. Dann vergisst man den jetzigen ganz sicher nicht, barfuß und im Spiel mit den Kindern. Das Spiel mit den Kindern lässt uns atmen, strahlen und den unfassbaren Wert des Augenblicks erst recht begreifen, weil wir wissen, dass wir bald sterben werden.