Ulrich Becks Theoriebausteine „eigenen Lebens“
Eine kleine Reminiszenz anlässlich der Verabschiedung von Eva Liss-Mildenberger, der langjährigen Leiterin der Integrierten Gesamtschule Koblenz
(Auszug aus: Ich sehe was, was du nicht siehst – Komm in den totgesagten Park und schau, Koblenz 2002, S. 331-337)
Ulrich Beck – Ulf Erdmann Ziegeler: eigenes Leben – Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1997 - siehe ausführliche Auseinander-setzung unter "Biografie und Lebenslauf" - "Selbstversuche" - "eigenes Leben"
Wer sich mit der Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns auseinandersetzt, stößt unmittelbar auf die grundlegende Unterscheidung von System und Umwelt und die meistenteils mit Unverständnis aufgenommene Platzierung des Menschen in der Umwelt von Gesellschaft. Hier wird nur Bezug genommen auf die damit verbundene, nüchterne Feststellung, dass soziale Systeme sich ausschließlich über Kommunikationen (Kommunikationen, die an Kommunikationen, die an Kommunikationen... anschließen) reproduzieren, während Menschen als bewusstseinsbasierte oder psychische Systeme ausschließlich im Modus von Gedanken, die an Gedanken, die an Gedanken... anschließen, operieren. Beide Systeme sind gegeneinander abgeschlossen und Luhmann hat den Begriff der „strukturellen Koppelung“ von Maturana übernommen oder greift auf den Begriff der „Interpenetration“ zurück, um registrieren zu können, dass psychische und soziale Systeme Formen des Austauschs kreieren.
Nichts anderes geschieht im Folgenden, wenn ich mich selbst anregen lasse durch die Unterscheidungen von Ulrich Beck, der sich im Hinblick auf die Reflexion der Selbstgestaltungsversuche von Menschen in der Gegenwartsgesellschaft auf eine Reihe von Kategorien stützt. Der „Dignität der (Lebens)Praxis“ (Schleiermacher) gegenüber, die immer auch wildeste Exzesse, Höhenflüge und Tunnelerfahrungen, aber auch alltägliche Routine und Langeweile umschließt, injiziert man ein Gerinnungsmittel in Form von Kategorien, die zumindest den Versuch offerieren, sich zu dem, was man als Lebenspraxis empfindet, immer wieder auch reflexiv ins Verhältnis zu setzen. In dem Augenblick, wo ich dies vollziehe auf der Grundlage von „wissenschaftlich-publizistisch“ angebotenen Begriffen und dies auch noch anderen Menschen zur Lektüre anbiete, beteilige ich mich an jenem gesellschaftlichen Diskurs, der dieses unablässige Rauschen produziert, aus dem die Wahrnehmungsseismographen von Mitmenschen Sinn filtern. Chaotischer Diskurs ohne geregelte Anschlüsse entsteht allerdings erst dann, wenn andere (möglicherweise Du, der Du Dich jetzt dieser Lesezumutung aussetzt) meine an Ulrich Beck anschließenden Reflexionen zur Kenntnis nehmen.
Beck hält „eigenes Leben“ – zumindest in den westlichen Gesellschaften - für eine Schlüsselmetapher. „Wer heute Menschen befragt, was sie wirklich bewegt, was sie anstreben, wofür sie kämpfen, wo für sie der Spaß aufhört, wenn man es ihnen nehmen will, dann wird er auf Geld, Arbeitsplatz, Macht, Liebe, Gott usw. stoßen, aber mehr und mehr auf die Verheißungen eigenen Lebens. Geld meint eigenes Geld, Raum meint eigenen Raum, eben im Sinne elementarer Voraussetzungen, ein eigenes Leben zu führen. Selbst Liebe, Ehe, Elternschaft, die mit dem Verfinstern der Zukunft mehr denn je ersehnt werden, stehen unter dem Vorbehalt, eigene, das heißt zentrifugale Biographien zusammenzubinden und zusammenzuhalten (Beck, 9).“ Und als sei es nicht „selbstverständlich“ kommt Ulrich Beck zu der Annahme, dass es die Menschen selbst seien, „ihr Wille, ihre Anspruchsinflation, ihr überschäumender Erlebnishunger, die abnehmende Bereitschaft, auszuführen, sich einzuordnen, zu verzichten“, all dies lasse sie nach den „Sternen des ‚eigenen Lebens’“ greifen.
Und dann Fragen über Fragen, spitz, zugespitzt, polemisch – aus welcher Beobachterposition eigentlich? Vor allem folgende Frage: „Ist es eine Art Egoismus-Epidemie, ein Ich-Fieber, dem man durch Ethik-Tropfen, heiße Wir-Umschläge und tägliche Einredungen auf das Gemeinwohl beikommen kann? Oder sind die einzelnen bei allem Funkeln und Fechten mit dem ‚eigenen Leben’ vielleicht auch Botengänger, Ausführende eines tiefer greifenden Wandels? Sind dies die Vorzeichen eines Aufbruchs zu neuen Ufern, eines Ringens um ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das vielleicht sogar noch erfunden werden muss? Zeigt sich also im Ringen um ein eigenes Leben ein evolutionärer Wandel, der westliche Gesellschaften bis in ihre Grundlagen verändert (Beck, 10)?“
Davon geht Ulrich Beck aus, und er beansprucht immerhin – etwas hochtrabend – eine solche „Gesellschaftstheorie des eigenen Lebens“ in 15 Thesen zu umreißen. Ich möchte sehen, inwieweit sich mit Hilfe der Beckschen Unterscheidungen, Selbstverstehen und Selbstbeschreiben – also biographische Selbstreflexion – anregen lässt (in diesem Auszug beschränkt auf die erste, nachstehende These - die vollständige Auseinandersetzung findet Ihr in Kürze unter dem Menüpunkt "Ulrich Beck: Eigenes Leben"):
- Der Zwang und die Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen, entsteht in hochdifferenzierten Gesellschaften.
Wahrscheinlich ist damit die augenscheinlichste und gleichermaßen am wenigsten bewusste Kennzeichnung moderner Lebensverhältnisse angesprochen. Nur ansatzweise vermögen wir uns noch vorzustellen, wie sehr das Leben von Menschen in sogenannten segmentär oder auch stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften in „festen Bahnen“ verlief und verbunden war mit relativ eindeutigen Verhaltenserwartungen und entsprechenden „Erwartungserwartungen“. Der „Standort“ in der Gesellschaft war vielleicht in archaischen Gesellschaften mit der Zugehörigkeit zu einem Ganzen, mindestens aber zu einem Clan, einer Verwandtschaftsgruppe, später einem Stand, einer Schicht, einer Familie definiert.
Heute empfinden sich Menschen vermutlich immer nur unter Teilaspekten in einzelne Funktionsbereiche eingebunden. In sogenannten „funktional differenzierten“ Gesellschaften unterwirft sich der Mensch den unterschiedlichsten Verhaltenslogiken (Erwartungen). Ulrich Beck sieht Menschen ebenso exemplarisch wie willkürlich als: Steuerzahler, Autofahrer, Studentin, Konsument, Wähler, Patientin, Produzent, Vater, Mutter, Schwester, Fußgängerin usw. Zum Teil unvereinbare Verhaltenslogiken zwingen Menschen, sich auf die eigenen Beine zu stellen und das, was zu zerspringen droht, selbst in die Hand zu nehmen. „Die moderne Gesellschaft integriert die Menschen nicht als ganze Person in ihre Funktionssysteme, sie ist vielmehr im Gegenteil darauf angewiesen, dass Individuen gerade nicht integriert werden, sondern nur teil- und zeitweise als permanente Wanderer zwischen den Funktionswelten an diesen teilnehmen (Beck, 10).“
Ich habe z.B. mit Gleichgesinnten im politischen Raum 6 Jahre durch die Beschaffung von Mehrheiten darum gekämpft, in Koblenz der Idee einer Integrierten Gesamtschule eine Verwirklichungschance zu geben. Am Ziel dieses langen und beharrlich verfolgten Weges vollzogen sich in der eigenen Familie Schullaufbahnentscheidungen gegen diese Möglichkeit. Laura und Anne entschieden sich fürs Hilda-Gymnasium. Mein Selbstverständnis als bildungspolitisch aktiver Teilhaber an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen musste sich arrangieren mit meinem begrenzten Einfluss auf entsprechende Prozesse in der eigenen Familie. Nicht nur ich bastele an meiner Biographie, sondern auch meine Kinder nehmen früh Einfluss auf ihre individuelle Positionierung in dieser Welt, die Gestaltung eigenen Lebens.
Ein unverzichtbarer Exkurs mit den Worten von Reinhard Kahl:
(Ich hoffe, all die Publikations-Profis sehen mir die „unsystematische“ Vorgehensweise, das Stricken mit heißer Nadel, nach – macht einfach einen Gedankensprung, „genießt“ Reinhard Kahls Generalabrechnung und sucht danach den passenden Anschluß im eigentlichen Kontext der „Theorie eigenen Lebens“ wieder herzustellen)
Ich kann es nicht lassen!!! Aus meinem Schülerleben heraus haben sich die Vorstellungen und Visionen von einer „anderen Schule“ genährt. Mein Studentenleben lang haben sich diese Visionen konkretisiert – in meinem Lehrerdasein habe ich die unmittelbaren Erfahrungen gesucht und nach meinem Vermögen – aus der Praxis für die Praxis – auf den Begriff gebracht. Und seit 1994 praktiziere ich nach meinem Vermögen eine Praxis der Lehrerausbildung in der 1. Ausbildungsphase von der ich in der absoluten Verwaltung des Mangels annehmen kann, dass sie den Studierenden wenigstens Anregungen und Mosaiksteine für eine eigene angemessene Praxis anbietet. Jetzt – unmittelbar vor Abschluss dieses Buches spielt mir „PISA“ (Program for International Student Assesment) eine Argumentation in die Hände, die mein Herz frohlocken ließe, wenn es denn nicht so traurig wäre. Ich bediene mich der Worte Reinhard Kahls, der sich selbst als „Bildungsjournalist“ versteht, und der uns seit Jahren gebetsmühlenartig den Spiegel einer völlig verfehlten und abstrusen Schul- und Bildungspolitik vorhält:
Reinhard Kahl: Depressive Zirkel gibt es genug – PISA zur Mutter der Erneuerung machen in: Erziehung und Wissenschaft (=Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW), 12/2001, Seite 2):
„Der 4. Dezember, Tag der PISA-Veröffentlichung, wird als der schwärzeste Tag in die Geschichte der deutschen Schule eingehen. Vielleicht wird man sich an dieses Gewitter irgendwann auch als radikalen Neuanfang erinnern. Wirksamkeit und Kultur der Schulen sind in Frage gestellt. Diese Doppelniederlage könnte sich als die Mutter der Erneuerung erweisen. Bisher konnte sich mancher trösten: Unsere Schulen sind vielleicht kein Vergnügen, aber doch effektiv. So nach dem Selbstüberwindungsmotto: Nur bittere Medizin hilft. Oder man nahm das Gegenteil in Anspruch: Hauptsache es geht den Kindern gut. Leistung ist nicht so wichtig. Dann wurde ein Glas Limonade neben den Bitterstoff gestellt oder nur noch seichtes Gesöff ausgeschenkt.
PISA zeigt, wir brauchen eine andere Ernährung. Was schmeckt, ist gewöhnlich auch das Bekömmlichere, zumal wenn die Gänge gut inszeniert sind. In vielen Schulen muss man allerdings ganz unten ansetzen: Nahrung muss erst mal gehalten werden. Schluss mit der Bulemie, dieses Fressen und Kotzen, Pseudolernen und Vergessen. Schluss vor allem mit dem Bluff, dieser unglaublichen Energieverschleuderung. Er ist oft das eigentliche Hauptfach von der Grundschule bis ins Studium. Erst recht in diesem unprofessionellen Referendariat.
Es wird nicht leicht sein, die tief in den Genen unserer Schulen gespeicherte Angst zu vertreiben und die Unkultur des Misstrauens durch die Kultivierung von Vertrauen zu ersetzen. Erfolgreiche Länder wie Kanada und die Skandinavier haben es riskiert, Angst aus dem System zu nehmen und Vertrauen zu investieren. Man glaubt schlicht daran, dass Menschen lernen wollen. Eine große Denkschrift in Kanada hieß ‚For the Love of Learning’. Bei aller notwendigen und kompromisslosen Kritik, die jetzt nötig ist: Wir müssen auch an einer ‚positiven’ Denkschrift arbeiten. Besser als die eine Denkschrift wären viele selbstgeschriebene Denkzettel für diese Mentalitätsänderung. Machen wir dafür doch einen Basar auf! Wenn wir jetzt in kollektive Hypochondrie verfallen und der Vorruhestand das Hauptziel wird, geraten wir erst recht in den Sog der Abwärtsspirale. Depressive Zirkel gibt es genug. Lieber die Bremer Stadtmusikanten zum Vorbild nehmen: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall. Die Macken unseres Systems, auch die von uns selbst, wo immer wir sie treffen, zum Thema machen! Wir brauchen eine Doppelstrategie. Veränderungen an den vielen kleinen Schritten, aus denen der Alltag besteht, und neue Visionen für die große Fahrt des Bildungsdampfers.
PISA zeigt, der deutsche Sonderweg in der Bildung ist gescheitert. Wir brauchen eine andere Navigation. Das anachronistische dreigliedrige Schulsystem ist nicht zu verteidigen. Das Hauptargument für die frühe Selektion hieß, dem begabteren Teil der Bevölkerung durch höhere Schulen gerecht werden. Es ist dahin. Das Gymnasium wird seinem eigenen Anspruch Elitebildung nicht gerecht. Auch unsere guten Schüler sind international nur Durchschnitt, und die Schwachen sind tatsächlich auf Dritte-Welt-Niveau. Das besondere Kreuz unseres Schulsystems ist doch: Wenn ein Schüler schlecht steht, sagen ihm die Lehrer auf der höheren Schule, „hier bist du falsch, geh ab“. Das funktioniert bis hin zum Verweis von der Haupt- zur Sonderschule. Deutsche Lehrer haben geradezu eine Obsession, die falschen Schüler zu haben. Sie sind fix mit Verachtung. Das führt zu einer fatalen Grundstimmung. Schüler interpretieren sie so: Willkommen bist du nicht. Da sind Gesamtschulen keinen Deut besser, wenn sie die giftige Atmosphäre von Selektion wiederholen. Weder Japan, Finnland, noch Kanada, die Sieger, kennen unseren Selektionswahn. In Schweden ist er gesetzlich verboten. Der misanthropische Zug unserer Schulen hat auch viele Lehrer infiziert, die mal mit anderen Ideen hineingegangen sind. Ein Blick in den Spiegel, und PISA ist ein Spiegel, zeigt unsere hässlichen, besserwisserischen, häufig zur Demütigung anderer neigenden Züge. An welcher deutschen Schule lautete das Motto schon ‚Love and Consequences‘, das ich an der Bäckahagens Skola in Stockholm hörte?
Neben der Arbeit an der mentalen Feinstruktur muss die Makrostruktur des Systems neu gedacht werden. Hier ist das PISA-Ergebnis ganz eindeutig: „Schulen schneiden im internationalen Vergleich umso besser ab, je autonomer sie sind“, sagt Andreas Schleicher von der OECD. Die gut platzierten skandinavischen Länder haben ihre traditionell zentralistischen Systeme dezentralisiert. An die einzelnen Schulen in Finnland und Schweden geht das ganze Geld, auch das für Lehrergehälter. Die Zentrale gibt in diesen Ländern Ziele vor und kontrolliert die Ergebnisse. Zur Autonomie gehört Rückmeldung. Dialog ist das allerwichtigste. Den Weg zum Ziel überlässt man der jeweiligen Schule. Um ihren eigenen zu finden, muss sie mit sich selbst in Dialog treten. Dieser Effekt ist beabsichtigt. Bloßes Ausführen geht nicht mehr. Zur Autonomie der Schulen gehört natürlich auch, dass sie sich für den Lernerfolg der Schüler verantwortlich fühlen. Und da wären wir wieder bei der pädagogischen Destruktivkraft unseres Systems, in dem man glaubt, die Probleme aus der eigenen in andere Schulen exportieren zu können. Diese Systemlogik produziert Verantwortungslosigkeit und Verwahrlosung fürs Ganze.“
Na bitte – er passt doch, dieser Anschluss: Ulrich Beck spricht nämlich zu Recht von der „Sozialform des eigenen Lebens“ zunächst als einer „Leerstelle“, die dann angefüllt wird mit „Unvereinbarkeiten, den Ruinen der Traditionen, dem Gerümpel der Nebenfolgen. In den Hohlräumen, welche die einmal regierenden großen Selbstverständlichkeiten mit ihrer Entzauberung hinterlassen, entstehen Trümmerspielplätze des eigenen Lebens (Beck, 10).“
Lasst sie uns bebauen – diese Trümmerlandschaften des deutschen Selektionswahns – mit einer Schule für alle!