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Peter Härtling - Nachgetragene Liebe (zweiter Teil)

erster Teil: hier

Peter Härtling bekennt und beschreibt, wie er diesem Jungen, Eduard Nemec, verfiel. Sechsunddreißig Jahre später gelangt er nach seinen Häutungen zu folgendem Fazit:

"Wenn ich an ihn denke, schäme ich mich nicht nur, sondern ich spüre seine üble Nähe, die überschwemmende Körperlichkeit und den Haß, auf den ich vorbereitet war, der in der Luft lag, vor dem niemand sich hüten konnte. Nemec raubte mir die Möglichkeit, doch noch mit meinem Vater zu sprechen, ihn zu verstehen. Er setzte mich fest, machte mich fertig. Fertig, mich in die Schlachtordnung der zukünftigen Herren der Welt einzufügen. Ich war seinen Parolen hörig, weil er sie sichtbar machen konnte (94)."

Das Abdriften Peter Härtlings speist sich gleichermaßen aus der Faszination für die von Eduard Nemec verkörperte Karikatur des Herrenmenschen wie aus der Verachtung für den eigenen Vater. Aus der Hörigkeit Eduard Nemec gegenüber resultiert eine Facette eines ins Bodenlose geschrumpften Vaterbildes. Dies hängt maßgeblich zusammen mit der Karikatur, die sein Vater als Soldat abgibt: Er habe – so Härtling – nicht wie ein Soldat ausgesehen, sondern wie jemand, der aus Hohn Soldat spielte, der sich ungern verkleidet hatte. Eine Szene habe bei einem seiner seltenen Besuche alle anderen verdrängt:

„Er hat seine Uniformjacke abgelegt. Ich finde es lächerlich, daß er, trotz des Koppels, Hosenträger anhat. Unvermittelt zieht er die kurzen Stiefel von den Füßen und sagt: ‚Das ist das Schlimmste.‘ Er meint nicht die Stiefel, daß sie ihm zu klein sind, ihn drücken, er meint, was er mit zwei, drei Handgriffen auffaltet: ‚Fußlappen! Das sind Fußlappen.‘ Er benimmt sich und klagt wie ein Kind. Die großen, nackten, von roten Wülsten besetzten Füße stehen nebeneinander und wachsen vor meinen Augen. Sie dehnen sich und schwellen. Und dazu höre ich die Stimme meines Vaters, der sich wehleidiger benimmt als jeder Pimpf und über diese blöden Lappen jammert. Ich renne hinaus, schlage die Tür hinter mir zu. Nach diesem Besuch sah ich meinen Vater eineinhalb Jahre nur selten, und jedes Mal brach er, verletzt und verletzend, in ein Leben ein, das ihn kaum mehr brauchte. Das, was ich  für ewig gehalten hatte, was so selbstverständlich wie die Natur erschienen war,  die Familie, löste sich auf (107).“

Die Auflösung der Familie gipfelt in der ungeheuren Tatsache, dass der elfjährige verlorene Sohn dem Vater die Hörner aufsetzt – gewissermaßen stellvertretend für die Mutter, die dem Vater geschrieben hatte:

„Der Junge läßt sich nichts mehr von mir sagen. Er treibt sich herum, kommt abends spät nach Hause. Und das in diesem Alter. Die Kinder verkommen, ohne daß wir etwas dagegen ausrichten können (112).“

Der Vater versucht seinen Sohn zur Rede zu stellen, und folgender Gesprächsverlauf wird von Peter Härtling protokolliert:

„Stimmt es, was Mutter mir erzählt hat?
Ich antworte ihm nicht.
Also – stimmt es?
Ich weiß nicht.
Du weißt es sehr wohl.
Nein.
Warum lügst du?
Ich lüge aber nicht.
Du kommst abends also nicht spät nach Haus?
Doch.
Wie kommst du dazu?
Ich weiß  nicht.
Habe ich dich nicht gebeten, Mutter zu helfen?
Ja.
Und?
Sie braucht mich nicht.
Nein?
Wieso meinst du das?
Sie braucht andere, den Teubner und –

Er springt auf, reißt den Stuhl um. Ich möchte lachen. Doch ich fliehe vor ihm, laufe vor ihm her und höre seinen Atem (113).“

Peter Härtling schlüpft in seine erste Haut. Die nun von ihm geschilderte Szene lebt von einem untergründigen Humor, der zuweilen in bittere Ironie übergeht. Sie ist gleichzeitig dazu geeignet, jene akzelerierenden Schübe zu offenbaren, die einen gerade einmal Zwölfjährigen auf ungesunde Weise über sich hinauswachsen lassen:

„Ich stoße die Tür zum Speisezimmer auf. Er verfolgt mich rund um den großen Tisch. Ich bin schneller als er. Er versucht mir den Weg abzuschneiden. Ich bin ihm immer ein paar Schritte voraus. Er könnte mich totschlagen, denke ich, und ich denke, ich werde es nicht mehr aushalten und in Lachen ausbrechen und er wird sich in seinem Zorn nicht mehr kennen.
Du!
Ich entwische ihm, winde mich durch die Tür, spüre seine haschende Hand, hetze durch den Vorsaal an Mutter vorüber, drücke die Klotür hinter mir zu, schiebe den Riegel vor. Ich höre ihn atmen. Ich habe erwartet, daß er gegen die Tür schlägt. Er tut es nicht. Ich sitze auf dem Klo und mache mich klein. Es ist mir egal, wie lange ich warten muß. Ich weiß, er muß in die Kanzlei. Er kann mir nicht den ganzen Nachmittag auflauern. Aber er bleibt.
Mutter sagt: Komm heraus! Vater tut dir nichts.
Ich bin doch nicht blöd.
Da siehst du es, sagt Vater.
Komm heraus, bitte!
Nein. Endlich kann ich lachen.
Da hörst du es, sagt Vater.

Auch nachdem er gegangen war, traute ich mich nicht gleich aus meinem Asyl. Ich wartete, bis Mutter mir versicherte, ich könne ungestraft auf mein Zimmer gehen, bekomme jedoch nicht einen Bissen zum Abendessen. Ich legte mich hin, versuchte zu lesen, schlief ein, und wachte daran auf, daß mich eine Hand im Nacken packte. Er war es. Er hat mir seine Wut den Abend lang nachgetragen. Er hatte kein Licht gemacht. Die Schläge waren schwer und unberechenbar. Erst nach einer Weile merkte ich, daß er mich mit dem Koppel prügelte. Ich preßte die Lippen zusammen. Er sollte, selbst wenn ich stürbe, keinen Ton von mir zu hören bekommen. Er wollte offenbar nicht aufhören, bis ich schrie. Mein ganzer Körper brannte. In meinem Kopf finge eine dünne Stimme an zu jammern: Er schlägt mich tot. Plötzlich ließ er von mir ab. Leise, als verlasse er eine Krankenstube, zog er die Tür hinter sich zu. Ich wälzte mich auf den Bauch, da mich das Leder dort kaum getroffen hatte, preßte das Gesicht ins Kissen und hoffte, daß die Schmerzen mich doch nicht umbrächten und er sich als Mörder selbst verteidigen müßte.

Ich habe gegen dich geschrieben, Vater, nicht für dich, noch immer gegen dich, obwohl ich mir die Verletzung erklären kann, die kindliche Gemeinheit, die dich traf, obwohl ich mit dir fühlen kann. Daß die Zeit Wunden heile, ist eine leichtfertige Beteuerung (114f.).“

Die Verirrung, die Verrohung, die die Seelen und Körper der Kinder okkupierte, hatte fatale Folgen. Im Untergang des dritten Reiches - bekennt Peter Härtling - waren wir (Kinder) allein auf uns gestellt: "Kinder ohne Herkunft." Und sechsunddreißig Jahre später räumt er ein:

"Du warst nicht da, Vater, du konntest nicht da sein, ich weiß, du hättest mir Antworten geben können auf die Ausgeburten dieser Männerwelt, durch die ich irrte und die ich mir kindisch auslegte. Mutter schrieb häufig an dich. Jedes Mal dachte ich: Sie lügt, sie kann ihm nichts von Teubner schreiben, sie macht ihm etwas vor. Mein Vater ist nicht mehr mein Vater und Teubner wird nie mein Vater sein. Aus deinen Briefen las sie uns manchmal vor. Sie enthielten stets ein freundliches Lob für Lore (die Schwester, FJWR) und eine Mahnung für mich. Ich solle es der Mutter doch nicht noch schwerer machen, als sie es ohnehin schon hat. Wer macht es wem schwer? Selbst wenn du es versucht hättest, hättest du mich nicht erreicht [...] Ich schreibe von einem Elfjährigen, einem Ungeheuer, das kein Kind mehr war, sondern ein aus der Hut gefallener Wechselbalg. Wenn ich mich jetzt mit Elfjährigen unterhalte und mir vorstelle, ich säße als jenes Kind unter ihnen, fürchte ich mich vor diesem Geschöpf, versuche es zurückzudrängen in die Erinnerungslosigkeit. Es ist deinetwegen wachgeworden (121f.)."

Dritter Teil hier!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund