(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das siebzehnte Türchen (17)
Die Flaschenpost
1958 hielt Paul Celan zur Verleihung des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen eine Dankesrede. Er beginnt mit dem Hinweis, das in unserer Sprache Denken und Danken ein und desselben Ursprungs sind: „Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeutungsbereich von: >gedenken<, >eingedenk sein<, >Andenken<, >Andacht<. Erlauben Sie mir, Ihnen von hier aus zu danken.“
Paul Celan betont, dass ihm „inmitten der Verluste dies eine nah und unverloren blieb: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch iher eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert‘ von all dem.
So entstand Paul Celans unfassbares Gedicht Todesfuge – in der Sprache, in der die Akteure der Wannsee-Konferenz der Endlösung ihren amtssprachlichen Anordnungs- und Durchführungsrahmen verliehen. Und Paul Celan bekennt in tastender Manier:
„In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.“
Und er betont, gewiss sei ein Gedicht nicht zeitlos – gleichwohl es einen Unendlichkeitsanspruch erhebe; es suche durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg. Wenn ein Gedicht die Zeiten überdauert, so lange wir uns erinnern (und vor allem: so lange es uns zwingt zu erinnern – mit unauslöschlicher Macht, dann wird dies wohl die Todesfuge sein.
Paul Celan kommt nun – 1958 in Bremen – zu der Ansicht, das Gedicht könne, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch sei, eine Flaschenpost sein, „aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.“
Verehrter Paul Celan, irgendwo und irgendwann ist heute und hier, am 13. Dezember 2022 – vierundsechzig Jahre nach Ihrer Dankesrede in Bremen. Ihre Flaschenpost ist einmal mehr an (Herz-)Land gespült worden und trifft auf ein ansprechbares Du. Ich habe die Ehre, und gehe mit Ihnen durch mein heutiges Türchen – in Corona-Land – und biete meinen wenigen treuen Lesern Corona dar (aus: Paul Celan - Ich hörte sagen <Suhrkamp>, Frankfurt 2001, Seite 17):
Corona
Aus der hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
Es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.
Es ist (seither) immer an der Zeit, den ewig Gestrigen, den Demagogen und Holocaust-Leugnern, den alten und neuen Faschisten die Stirn zu bieten - besonders hier bei uns, in dem Land, wo der Tod ein Meister aus Deutschland war, und wo heute ein perfides Subjekt, das man mit Fug und Recht Faschist nennen darf, von einem Mahnmal der Schande inmitten Berlins redet.
Ich gestatte mir, eine einer mohngeschuldeten Impressionen anzufügen (Die Mohnfrau, Koblenz 2010, Seite 22):
Mohn
Der Mohn ist wie ein kurzes Lachen,
ein Wimpernschlag -
er strahlt
und prahlt,
malt jeden Tag
und stirbt schon beim Erwachen.
Erblüht zu voller Pracht
vergeht er über Nacht
und hält nicht ein Versprechen.
Er taugt als Sinnbild kaum,
gleicht eher einem Traum,
an dem die Träumer dann zerbrechen.
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