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(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das dritte Türchen (3)

Wenn einem nichts einfällt, dann kann auch dieser Adventskalender immerhin dazu taugen, Leseanregungen zu vermitteln. Heute fällt mir nichts ein, und daher beziehe ich mich auf eine Folge (183) Fragen an das Leben (chrismon - DAS EVANGELISCHE MAGAZIN, 10/21). Es geht um Eva Menasse, 1970 in Wien geboren, 2005 fulminant gestartet mit einer halbfiktiven Familiengeschichte Vienna - ein Leseerlebnis, mit dem bedrohtes und vernichtetes jüdisches Leben in einer generationenübergreifenden Perspektive im Wien des 20. Jahrhunderts greifbar wird. Dunkelblum deckt dann gleichermaßen schonungslos wie diskret die Verstrickungen Österreichs in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf.

Im chrismon-Standard-Interview schien mir interessant, wie jemand, der zwischen allen Stühlen sitzt, Identitätsfacetten -auf teils kryptische Weise - preisgibt:

"Haben Sie eine Vorstellung von Gott? Ich kann mich weder als Atheistin bezeichnen noch als religiös oder gottgläubig. Aber den Glauben an eine gewisse Schicksalhaftigkeit der Welt, den kann ich mir nicht austreiben. Bei manchen Ereignissen und Begegnungen denke ich: Genau so musste das sein. Es gibt manchmal eine Schönheit im Leben oder in Beziehungen, von der ich das Gefühl habe, dass sie etwas mit dem haromischen Klang des Alls zu tun haben. Momente, in denen kurz all das  Schwierige, Komplizierte, Schrille wegfällt - ich weiß, das klingt etwas esoterisch. Was Riten betrifft, kenne ich mich im Katholizismus besser aus, aber geistig näher fühle ich mich dem jüdischen Teil der Familie. Ich empfinde mich nicht als Jüdin, aber als Tochter eines Juden - die bin ich ja zweifellos. Wäre ich gezwungen, religiös zu werden, dann wüsste ich, für welche Seite ich mich entscheide."

"Muss man den Tod fürchten? Ich fürchte den Tod anderer, aber nicht meinen eigenen. Vielleicht ändert sich das, wenn's näher kommt, aber bis heute bin ich so einverstanden mit allem, wie es gewesen ist, dass mich ein Ende nicht ängstigt. Ich hatte ein paar heftige Brüche in meinem Leben. Schwierigkeiten mit dem Kinderkriegen, mehrere Fehlgeburten. Meine Ehe ist nach 15 Jahren auf eine mir bis heute unbegreifliche Weise zerbrochen, aber irgendwann habe ich es geschafft, auch das einzuordnen. Ich habe mich aus vielem herausgearbeitet - in eine immer hellere Phase von Verständnis, Entspanntheit und auch Glück."

Ich habe Eva Menasse 18 Jahre voraus und mache mir natürlich aus so meine Gedanken über die ihr gestellten Fragen. Der letzte Satz ihrer Antwort auf die zweite Frage entspricht - auch mit 70 - meinem Lebensgefühl. Dass sich - wie Peter Sloterdijk (siehe Türchen 1) - miit Blick auf die Mitmenschen, eingetaucht in das Zwielicht ihrer Situation und umgeben von den wenigen nahen und den unzähligen fernen anderen in ihren je eigenwüchsigen Zwielichtfeldern, ähnlich wie bei Eva Menasse, ein Voranschreiten "in eine immer hellere Phase von Verständnis, Entspanntheit und auch Glück" zutragen möge, gehört zu meinen diesjährigen Weihnachtswünschen!

Vielleicht helfen dabei Antworten, die Eva Menasse gefunden hat - zum Beispiel auf die Frage:

Wer oder was hilft in der Krise? Wenn die Krise groß ist, mache ich zu wie eine Auster und brodle in mir selbst. Auch wegen der Scham, man schämt sich für die Krise oder das Problem, das man nicht lösen kann. Ich habe oft das Gefühl, unzulänglich zu sein, kindisch, zu laut oder zu emotional. Dann schweige ich, aber eigentlich weiß ich: Reden hilft. Früher habe ich es für eine verdammenswerte weibliche Strategie gehalten, immer gleich zu Freunden und Freundinnen zu laufen und sich zu besprechen, inzwischen glaube ich: Das ist total heilsam. Man kann sich nicht alles selbst erklären. Mein Sohn ist dann übrigens wirklich vom Himmel gefallen. Das war so eine Art kosmisches Ereignis, wo es keine Anstrengungen mehr gebraucht hat; nachdem vorher alles schiefgegangen war, kam der einfach so."

Wir haben eine große Familie, eine große Solidargemeinschaft - gegenseitige Hilfe und Unterstützung sind und waren immer ein hohes Gut. Und geredet wird auch; nicht überall in dieser großen Familie. In manchen Verästelungen herrscht Sprachlosigkeit vor. Das bedauere ich sehr, denn Sprachlosigkeit halte ich für den traurigsten Zug einer manchmal so festgefahrenen Familiendynamik, das es einem immer wieder die Tränen der Trauer und der Verzweiflung in die Augen treibt. Dann habe ich natürlich meine Montagsrunde - nur Männer (immer drei bis vier, zuweilen treffen wir uns sogar zu siebt - allesamt Pensionäre und Ruheständler). Es handelt sich um eine offene Runde mit einem breiten Spektrum an Meinungen und Überzeugungen. Das hilft bei Eva Menasses Feststellung, dass man sich nicht alles selbst erklären könne! So möchte ich die Runde ermuntern, einmal die Antwort Eva Menasses auf die letzte Frage zu diskutieren. Ich bin gespannt, wer dieser Migrantin folgen kann oder ihr begründetermaßen widerspricht. Sie antwortet zuletzt auf die Frage:

"Wo ist Heimat? Ich lebe seit fast 20 Jahren in Berlin und bin hier in einem sehr glücklichen Exil. Österreich steht politisch mit eineinhalb Füßen in der Bananenrepublik. So nervig ich Deutschland manchmal finde - auch diese puritanische Unfähigkeit, Satire zu vestehen -, ich fühle mich hier noch sicher, bei allem, was problematisch ist. Und bei allem, was auch wieder zunimmt an Rassismus und Antisemitismus. Ich wüsste auch nicht, wo es gerade so viel besser wäre in der Welt."

Nun bin ich einmal gespannt, wer Eva Menasses Erleben teilt, sich sicher zu fühlen in Deutschland, in einem Deutschland, von dem sie sagt, sie wüsste auch nicht, wo es gerade so viel besser wäre in der Welt!

Hier geht es zum vierten Türchen (4)

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund