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Identität und/oder Biographizität? Wie und warum Kurz vor Schluss - Teil II entstanden ist!

Die Lektüre von Peter Alheit (siehe unten) verdanke ich meiner Tochter Anne, die im Rahmen ihres Studiums die Lesart aktueller Biographieforschung an mich herantrug.

"Biographizität bedeutet, dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können, und dass wir diese Kontexte ihrerseits als ‚bildbar‘ und gestaltbar erfahren (Peter Alheit)." Unter diesen Leitsatz lassen sich die Bemühungen von Kurz vor Schluss Teil II zusammenfassen.

In der Folge ist von Zumutungen an den Einzelnen die Rede, die den Lebenslauf als ein lebenslanges Lernfeld definieren. Ergebnis dieses Prozesses sind - auch in der Massengesellschaft -, so die These, jeweils unverwechselbare einzigartige, aber immer auch fragile Biographien. Damit rückt zwangsläufig die Frage in den Vordergrund, wie der Einzelne - wie wir - mit zunehmenden Unsicherheiten umgehen? Peter Alheit führt dazu den Begriff der "Biographisierung" ein und nimmt damit die "Integrations- und Identitätsleistung der Subjekte im lebensgeschichtlichen Prozess" in den Blick. Hier entsteht die Vorstellung einer „biographischen Konstruktionsleistung". Dabei geht es offensichtlich nicht nur um jeweils "spontane Konstruktionen", die unser Gedächtnis als Reaktion auf neue Außenimpulse erzeugt, um damit Kontinuität und Konsistenz zu bewahren. Es geht vielmehr um eine Fähigkeit, die sich in biographischen Krisen als überlebensnotwendig erweist; nämlich um die Fähigkeit mit Situationen umzugehen, in denen uns der Anschluss neuer Erfahrungen misslingt. Wir erleben, dass wir Anforderungen, die man an uns stellt, oder dass wir ein Verhalten bzw. Ereignisse, mit denen wir unerwartet konfrontiert werden, nicht mehr einordnen können. Wir sind zutiefst irritiert. Es fehlt uns ein Instrumentarium, um mit den erkennbaren oder sich aufdrängenden Erwartungen ans uns umzugehen. Wir fühlen uns überfordert. Die Dinge wachsen uns – wie Alheit sagt – buchstäblich über den Kopf. Wir mögen das Gefühl nicht loswerden, dass wir ‚gegen unsere Zeit‘ leben... Oder wir spüren einfach, dass die Bedingungen, unter denen wir unser Leben fristen müssen, uns keinen Spielraum mehr lassen. Alheit spricht dann in der Folge von „transitorischer Qualität“ und ordnet sie einem Begriff der „Biographizität“ zu. Damit meint er die prinzipielle Fähigkeit, Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung zu nutzen, „also (in einem ganz und gar ‚unpädagogischen‘ Sinn) auf eine nur uns selbst verfügbare Weise zu lernen“.

Vor wenigen Minuten während der Zubereitung des Mittagessens für die Familie - für die große Familie (die uns Großeltern mit unseren Töchtern, Schwiegersöhnen und Enkelkindern zusammenführt - in leicht wechselnden Konstellationen immer wieder sonntags) lief SWR 3 nebenher: heute im Interview die Protagonisten von Doc Fischer (ein Sendeformat, das montäglich offenkundig die Zusammenhänge von gelebtem Leben <Bios>, erlebtem Leben <Seele und Geist in iher gedanklichen Repräsentation> und erzähltem Leben <die Dimension des sozialen Miteinanders und der Geschichten, die wir uns erzählen> für ein breites Publikum anbietet). Ich schnappe auf, dass Dr. med. Cornelia Fischer erzählt, die Fähigkeit zur Entspannung und zur gelassenen Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Welt hänge entscheidend auch davon ab, welche Kindheitserfahrungen man gemacht hat: die Ausbildung eines ungebrochenen Urvertrauens in den sozialen Kernbeziehungen und das Vorleben eines im Großen und Ganzen zuträglichen Miteinanders auch unter dem Aspekt Probleme letztlich lösen und Krisen bewältigen zu können, seien die genunabhängigen Prämissen, um im Leben klarzukommen.

So kann ich auch hier nur einmal mehr meinem Dank Ausdruck zu verleihen, sowohl in der Kindheit als auch jetzt im Alter genau dies erleben zu dürfen in einer großen Familie, die auch den Schritt zum Sippenkontext eher erlebt im Modus wechselseitigen Wohlwollens und wechselseitiger Unterstützung.

Um solche sowohl positiven Lebenserfahrungen als auch jene Grenz- und Lernerfahrungen, die auch immer in die Alltäglichkeit eines langen Lebenslaufs eingehen, geht es in Kurz vor Schluss - Teil II. Hier, in diesem neuerlichen Versuch, mir selbst auf der Spur zu bleiben, rücken allerdings jene Grunderfahrungen in den Vordergrund, die mit dem Misslingen von unmittelbaren Anschlüssen einhergehen (um aber dann zeigen zu können, wie man aus Grenzerfahrungen gestärkt hervorgehen kann). Aus der Grunderfahrung des Scheiterns müsssen nämlich Anschlüsse gefunden werden, Irritationen in einem leb- und händelbaren Tonus zu halten und Überforderungen transformieren zu können in ein Lerngeschehen, das zum Beispiel den Blick dafür schärft, wie man vielleicht wollen kann, was man sollen soll. Wollen und Sollen treten uns dabei nicht wie offene Bücher vor Augen, sondern im Rückblick offenbart sich der feine Unterschied, der jedenfalls mich dazu geführt hat im wesentlichen auch zu wollen, was ich soll.

Identität oder „Biographizität“ – Biografieforschung und Identitätsentwicklung aus der Perspektive Peter Alheits:

Peter Alheit: Identität oder „Biographizität“? Beiträge der neueren sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu einem Konzept der Identitätentwicklung, in: Griese, Hrsg.: Subjekt – Identität – Person, Wiesbaden 2010, S. 219-250

1. Vorbemerkung: Peter Alheit betrachtet „die Organisation des sozialen Lebens“ in modernen Gesellschaften grundlegend als Zumutung an den Einzelnen und folgt damit der Individualisierungshypothese Ulrich Becks. Auf diese Weise wird der gesamte Lebenslauf allerdings aus seiner Sicht zu einem eigenen Lernfeld: „Kaum eine Statuspassage des Lebenslaufs wird nicht von pädagogischen Maßnahmen flankiert (Alheit 2010, S. 219).“ Lebensläufe verlieren nach Alheit ihre normative Kraft. Das Individuum werde zu einer Agentur selbstorganisierter Lernprozesse, deren Ergebnis eine jeweils unverwechselbare einzigartige, aber durchaus fragile Biografie darstellt. Die Biografieforschung rücke damit ins Zentrum vor allem des bildungswissenschaftlichen Diskurses (vgl. ebd., S. 219f.).

1.1 Biographie als Konzept des Lernens in der Lebensspanne: In der aktuellen, sozialisationsorientierten Biografieforschung steht nach Alheit der Doppelaspekt einer Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen bzw. der Ausbildung von Identität im Mittelpunkt. Er spricht von einer „Prozessperspektive“, die Kindheit, Jugend, Beruf und Alter gleichermaßen thematisiere. Psychologische Ansätze befassten sich dabei mehr mit dem Individuum, während soziologische Konzepte eher die institutionellen bzw. strukturellen Aspekte in den Blick nehmen (vgl. ebd., S. 221f.). Aber erst die „soziologische Biographieforschung“ habe weiterführende Perspektiven entwickelt. Ein neues „Leitparadigma“ manifestiere sich – verbunden mit dem Einfluss von Ulrich Beck – in der „Individualisierungsdebatte“. Seine These läuft darauf hinaus, dass die Individuen in der Moderne immer mehr zu „Zentren von Handlungen und Entscheidungen“ würden (vgl. dazu Alheit ebd., S. 223). Damit steige auf Seiten der Individuen die Notwendigkeit zur Selbstregulation und zu einem höheren Maß an Selbstreflexivität. Vor allem die Bildungswissenschaften reagierten hierauf mit Konzepten eines „lebenslangen Lernens“. Aus alle-dem resultiert als zentrale Frage, „wie aber die Subjekte mit dieser zunehmenden ‚Unsicherheit‘ umgehen (ebd., S. 225)?“ Alheit selbst führt an dieser Stelle den Begriff der „Biographisierung“ ein. Er biete den Vorteil, die „Integrations- und Identitätsleistung der Subjekte im lebensgeschichtlichen Prozess“ greifbar zu machen: „Mit dem Biographiekonzept wird jene Doppelheit... als eine biographische Prozessstruktur interpretierbar, als ‚biographischer Code‘, der die einmalige biographische Organisation von Erfahrungen im sozialen Raum als eine Temporalstruktur fasst... Die Verknüpfungslogik ist keine Kausalkette, sondern die narrativ rekonstruierbare Geschichte eines Falles, eine generative Struktur, die zugleich strukturiertes und strukturierendes Element im gesellschaftlichen Prozess ist... Biographien sind also immer beides zugleich: die besondere Lebensgeschichte einer Person und konkretes ‚Dokument‘ einer allgemeinen – kollektiv geteilten – gesellschaftlich-historischen Geschichte... Erzählte oder in anderen Medien und kommunikativen Formen repräsentierte ‚Lebensgeschichten‘ dokumentieren diese Dialektik am je konkreten Fall... mehr noch: die narrativ darstellbare Lebensgeschichte ist die entscheidende Ressource zum immer neu geforderten Prozess der Vergewisserung der eigenen Identität (ebd., S. 227).“ Für das Vorhaben, Biografie im intergenerativen Zusammenhang zu (re)konstruieren, erweist sich diese Sichtweise als vorteilhaft, weil im „biographischen Erzählen deutlich wird, dass die erzählende Person keine ein für allemal feststehende Identität besitzt, sondern fortwährend damit beschäftigt ist, Identität auf immer neuen Niveaus herzustellen (ebd., S. 229).“ Alheit verweist im Fortgang darauf, dass es sinnvoll sei, den Identitätsbegriff als „Zustandsbeschreibung“ durch das „offenere Prozesskonzept Biographie“ zu ersetzen. Auf diese Weise würden Biographien als „innere (Sinn)Struktur“ beschreibbar, die Identität „als ein generatives Erzeugungsprinzip in einer Zeitperspektive“ aufzeige. Im Zusammenhang mit dem oben angezeigten Vorhaben („Hildes Geschichte“) müsste man das „generative Erzeugungsprinzip“ in eine Mehrgenerationenperspektive einordnen; vor allem weil in den letzten 80 Jahren – vom Beginn des „Dritten Reiches“ an bis zu dem, was in Moderne und Postmoderne ausmündet – der jeweilige gesellschaftliche Referenzrahmen einen dynamischen (Werte)Wandel offenbart.

1.2 Identität oder "Biographizität: Dass vor allem von Niklas Luhmann in die Soziologie eingeführte Paradigma der Selbstreferentialität bzw. Selbstbezüglichkeit greift Alheit auf, indem er darauf hinweist, dass der „Widerspruch“ eines generalisierbaren Identitätsgefühls mit der „Trivialität erzwungener Veränderungen“ sich konzeptionell dadurch „heilen“ lasse, „dass die Außeneinflüsse offensichtlich niemals ‚als solche‘, sondern immer schon als Aspekte aufgeschichteter Erfahrungen wahrgenommen werden“ (ebd., S. 238). Alheit versucht dieses Paradigma in seine Vorstellung „biographischer Konstruktion“ einzuführen, indem er darauf hinweist, dass man sich diese „nun durchaus nicht als ein Gefängnis“ vorstellen solle, sie sei eben kein „hermetisch-geschlossenes System“. In ihr verkörpere sich vielmehr „außerordentlich plastisch die Verarbeitungsstruktur einer nach außen offenen Selbstreferentialität“, die Außeneinflüsse mit der ihr eigenen Logik wahrnehme, gewichte, ignoriere und vereinnahme, und die sich in diesem Prozess selbst verändere (vgl. ebd., S. 239). Alheit verfolgt diese Perspektive weiter, indem er das Oszillieren zwischen „Innenwelt und Außenwelt“ nicht nur als jeweils spontane Konstruktion auffasst, die unser Gedächtnis als Reaktion auf neue Außenimpulse erzeuge, um damit Kontinuität und Konsistenz zu bewahren. Er regt vielmehr an, entsprechende Konstruktionen als „biographische Temporalisierung sozialer Strukturen“ zu begreifen (vgl. ebd.). Genau in diesem Sinne geht er weiter davon aus, dass „biographische Konstruktionen keine abgeschlossenen Entitäten“ seien: „Ihr Charakter ist ‚transitorisch‘ (ebd.).“ Dies erweise sich zumal in biographischen Krisen als überlebensnotwendig: „Wir kennen nämlich Situationen, in denen uns der Anschluss neuer Erfahrungen misslingt. Wir können eine Anforderung, die man an uns stellt, oder ein Verhalten, mit dem wir unerwartet konfrontiert werden, nicht mehr einordnen. Es irritiert uns. Es fehlt uns das Instrumentarium, damit umzugehen. Wir fühlen uns überfordert. Die Dinge wachsen uns – alltagssprachlich ausgedrückt – ‚über den Kopf‘. Wir mögen das Gefühl nicht loswerden, dass wir ‚gegen unsere Zeit‘ leben... Oder wir spüren einfach, dass die Bedingungen, unter denen wir unser Leben fristen müssen, uns keinen Spielraum mehr lassen.

Vielleicht überfällt uns aber auch ein ganz gegenteiliges Gefühl: dass sich uns nämlich völlig neue ‚Welten‘ auftun, dass wir eine qualitativ neue Erfahrung gemacht haben, die unser künftiges Leben verändern wird. Alles deutet darauf hin, dass sich hinter den alltäglichen Erfahrungen eine ‚Logik‘ verbirgt, die unser ganz persönliches Leben betrifft. Zwischen ‚Außenwelt‘ und ‚Innenwelt‘ entstehen biographische Konstruktionen (ebd., S. 240).“ Alheit fasst nun diese „transitorische Qualität“ unter dem Begriff der „Biographizität“ zusammen. Damit meint er die prinzipielle Fähigkeit, Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung zu nutzen, „also (in einem ganz und gar ‚unpädagogischen‘ Sinn) auf eine nur uns selbst verfügbare Weise zu lernen“. In dem, was er die „Biographizität des Sozialen“ nennt, nähert er sich einem systemtheoretischen Verständnis von „Selbstreferentialität“ an: „Das bedeutet, dass wir Soziales tatsächlich nur selbstreferentiell ‚haben‘ können – dadurch dass wir uns auf uns selbst und unsere Lebensgeschichte beziehen. Diese Einsicht des radikalen Konstruktivismus bleibt ein intellektuelle Provokation von beträchtlichem theoretischem Reiz (ebd., S. 241).“

Biographien werden in diesem Sinne von Alheit verstanden als lernende Aktionszentren, deren Wandlungs- und Anpassungschancen durch die je eigenen biographischen Erfahrungsressourcen zwar begrenzt, aber doch niemals prognostizierbar seien: „Ein biographietheoretisch aufgeklärtes Identitätskonzept hat die Beziehung von Selbst und Welt zum Gegenstand – und diese Beziehung ist ein lebenslanger Lernprozess (ebd., S. 241).“ „Nur wenn konkrete Menschen sich derart auf ihre Lebenswelt beziehen, dass ihre selbstreflexiven Aktivitäten gestaltend auf soziale Kontexte zurückwirken, ist jene moderne Schlüsselqualifikation ‚Biographizität‘ berührt... Biographizität bedeutet, dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können, und dass wir diese Kontexte ihrerseits als ‚bildbar‘ und gestaltbar erfahren. Wir haben in unserer Biographie nicht alle denkbaren Chancen, aber im Rahmen der uns strukturell gesetzten Grenzen stehen uns beträchtliche Möglichkeitsräume offen. Es kommt darauf an, die ‚Sinnüberschüsse‘ unseres biographischen Wissens zu entziffern und das heißt: die Potenzialität unseres ‚ungelebten Lebens‘ wahrzunehmen (ebd. S. 243).“ Es lohnt an dieser Stelle abschließend, einen zuletzt von Alheit hervorgehobenen Hinweis aufzugreifen, mit dem er auf die aus der Psychoanalyse bzw. aus der humanistischen Psychologie (Rogers u.a.) – abgeleitete Idee „ungelebten Lebens“ verweist. Der letzte Satz seiner Ausführungen greift dieses zentrale Motiv noch einmal auf: „Der tiefe (philosophische) Wunsch in uns allen, zu werden, was man ‚eigentlich‘ ist, macht das Projekt Identität keineswegs nur theoretisch, sondern auch praktisch zu einer überzeugenden Perspektive. Dies impliziert indessen eine Einsicht in die Biographizität moderner Existenz, in das transitorische Potenzial einer lebenslangen Veränderung der Selbst- und Weltreferenz (ebd.).“

Biographizität bedeutet, dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können, und dass wir diese Kontexte ihrerseits als ‚bildbar‘ und gestaltbar erfahren. Unter diesem Leitsatz lassen sich die Bemühungen von Kurz vor Schluss Teil II zusammenfassen.

   
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