Hans Blumenberg: Der Mensch wird aussterben; mit Michel Eltchaninoff in Putins Kopf und mit Natalya Gemenyuk unterwegs in der Ukraine
Wer würde daran zweifeln? Begriffe in Geschichten - Hans Blumenberg gibt Auskunft "über das Leben der Begriffe, ihre Physiologie und Pathalogie [...] Nicht jeder Begriff darf für seinen Nennwert genommen werden, mancher ist uns nur in seiner ironischen Brechung erträglich..." Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? Ich kenn ein Land, wo sie nicht nur blühn, sondern wie Funken sprühn und wieder Tod und Verderben über die Menschen bringen. Ein Land allerdings, wo man Krieg nicht mehr Krieg nennen darf. Ironie hilft hier nur bedingt, weil man zur Beherrschung der eigenen Wut und des heiligen Zorns offensichtlich andere Kaliber benötigt. Hans Blumenberg weist darauf hin, dass sich Sinn - dort wo Roland Barthes die Mythen des Alltags längst entzaubert hat - lebensweltlich zeige in der Unmerklichkeit des sich von selbst Verstehenden.
Routine und Gewohnheiten erscheinen dann als die entlastenden Leitplanken in einer beherrschbaren Welt; einer Welt, in der ganz gewiss keine Menschen mehr sterben im Bombenterror einer von allen guten Geistern verlassenen Atommacht. Dies schien zumindest in einem Ausmaß unvorstellbar, wie es die Russen gegenwärtig in der Ukraine zu verantworten haben:
Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen?
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.
Hans Blumenberg spricht in aller Gelassenheit über die Tatsache, dass der Mensch aussterben wird:
"Um das zu sagen, braucht man kein besonderer Pessemist zu sein. Und Misanthrop wäre man nur, wenn man es ihm nicht auf die sanfte Aussterbensart der meisten seiner tierischen Genossen wünschte: über die Minderung seiner Proliferation."
Blumenbergs Begriffsphysiologie ist 1998 in gedruckter Form erschienen. Seine Vergleiche irritieren - auch wenn der Mensch (auch) nur ein (denkendes) Tier ist; Proliferation - Blumenberg meint die Fähigkeit zu einer verlässlichen Reproduktion der Gattung. Dass diese Verlässlichkeit der Arterhaltung jenseits des Realitätsprinzips anzusiedeln ist, begründet Blumenberg mit dem lapidaren Verweis auf die Tatsache, das immerhin von den geschätzten 50 bis 150 Milliionen Arten, die im Laufe der Evolution aufgekommen waren - und von denen etwa 1,5 Millionen als wissenschaftlich erfaßt gelten könnten - nicht mehr als 2 Prozent überlebt hätten. Und zum Trost ergänzt er diese Feststellung durch die nüchterne Bemerkung, dass man sich das Verschwinden der Arten nicht allzu dramatisch und schmerzhaft vorzustellen habe: "Sogar die Saurier, die vor 65 Millionen Jahren plötzlich von der Erde verschwanden, hatten offenbar nur Schwierigkeiten mit der Fortpflanzung, etwa durch zunehmende Dünnschaligkeit ihrer Reptilieneier."
An schwindender Fähigkeit zur Reproduktion mangelt es der Menschheit nicht. Im Gegenteil. Es ist eng geworden auf der Erde. Das Äquivalent zur Dünnschaligkeit der Reptilieneier könnte man möglicherweise in der Überhitzung unseres Planeten sehen - mit dem kleinen Unterschied, dass die absehbare Hartschaligkeit unserer Eier durch bewusstes - zumindest wissentliches - Drehen am atmosphärischen Thermostat herbeigeführt wird. Dass trotz dieser allgemein bekannten Endzeitszenarien einige der politischen Führer auf dieser bedrohten Erde darüber hinaus den Krieg wieder als legitimes Mittel der Politik anwenden, befördert den nachhaltigen Zweifel an einem Menschenbild im Sinne eines vernunftbegabten Wesens.
In Frankreich lebt Michel Eltchaninoff. Seine Großeltern emigrierten aus Russland nach Frankreich - seine Eltern haben mit ihm russisch gesprochen. Er ist Chefredakteur des französichen Philosophie Magazine und hat 2015 sein Buch "In Putins Kopf" veröffentlicht. Der SPIEGEL, dem er ein Interview gegeben hat, schreibt in der Einleitung Eltchaninoff habe jene Philosophen studiert, die Wladimir Putins Denken prägen: "Es sind Faschisten, Zaristen, Metaphysiker." die Menschheit begeht - ohne radikalen Politikwechsel - zweifellos einen erweiterten kollektiven Suizid. Sie leistet sich in ihren abartigsten Repräsentanten darüber hinaus Despoten, die - durchaus in Beschleunigung dieses drohenden Suizids - vollkommen aus der Zeit gefallen scheinen und daher in ihrem Denken und Handeln einen radikalen Rückfall in längst überwunden geglaubte Denktraditionen offenbaren. Wer also sind die Referenzautoren, die Putins Blick vernebeln? Es wird kolportiert, dass Putin im Jahr 2014 philosophische Schriften an Funktionäre, Gouverneure und Parteikader verteilen ließ. Eltchaninoff nennt an erste Stelle Iwan Iljin. Er sei kein besonders berühmter Philosoph, für Putin aber der wichtigste: "Er war ein Gegner der Bolschewiken, Anhänger der Weißen Armee und slawophiler Faschist." Er habe sich in den Vierziger- und Fünfzigerjahren im Exil in Deutschland damit befasst, wie ein postsowjetisches Russland aussehen könnte. Unerträglich muten die Anleihen bei Wladimir Solowjow an - laut Eltchaninoff ein "Metaphysiker des späten 19. Jahrhunderts". Er arbeitete an der Idee, einen christlichen Staat in Europa zu schaffen: "Auch Putin" - so Eltchaninoff - "sieht sich ja als Retter der christlichen Mythen und Religionen gegen die Profanität des Westens."
Und nun reicht es!!! Ich habe die Schnauze voll von diesem Dreck: Der Retter der christlichen Mythen mit einem Dreckspopen wie Kyrill im Rücken entpuppt als der neue Schlächter am Rande Europas. All die Legitimationsvehikel, die Putin herbeilügt, springen einem als Lügen ins Gesicht und ins Hirn. Hirn scheint aber auch im 21. Jahrhundert selbst in der "Profanität des Westens" nicht selbstverständlich zu sein - oder zumindest lässt sich ja mit einiger Berechtigung sagen, dass sich im Menschen als potentieller Intelligenzverkörperung ja nicht quasiautomatisch eine Werteorientierung habitualisiert, wie sie sich in den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes oder in der Charta der Vereinten Nationen manifestiert. Auch weit weg von den Kriegsschauplätzen nimmt der Diskurs zuweilen skurille Formen an. Mit den nach wie vor konsequent Friedensbewegten lässt sich häufig nicht mehr der Dilemma-Charakter in den Blick nehmen, dem gerade auch die Entscheidungsträger in den westlichen Demokratien ausgesetzt sind. Man hört da nach wie vor in aller Radikalität, Frieden lasse sich nur ohne Waffen schaffen; jede weitere Waffenlieferung in die Ukraine vermehre Gewalt und Tod. Als Dilemma bezeichnet man gemeinhin eine Situation, in der man gezwungen ist, sich zwischen zwei gleichermaßen [unangenehmen] Handlungsoptionen zu entscheiden.
Einen guten Freund - radikal friedensbewegt - habe ich gebeten, wie wir es in Schule und Hochschule unseren Schülern und Studierenden gegenüber praktiziert haben, einmal auf Natalya Gumenyuk (ZEIT, 16/22, S. 3) zu antworten und sich die Argumente auf ihre Argumente sorfältig zu erwägen. Sie konfrontiert uns - gerade uns Deutsche - mit den Kriegsverbrechen, die die deutsche Wehrmacht insbesondere auch in der Ukraine mitzuverantworten hat. Dort, in der Ukraine, nennen die älteren UkrainerInnen die Russen nimtsi - das ukrainische Wort für "die Deutschen". Gumenyuk - selbst Ukrainerin - reiste in den letzten Wochen mehrere tausen Kilometer durch ihr Heimatland und führte währenddessen viele Gespräche und Interviews. So begegneten ihr Nidia Fedoriwna. Sie nennt die russischen Soldaten so. Sie stammt - berichtet Gumenyuk - aus Butscha. Sie war sechs als der zweite Weltkrieg endete. Ljubow Juriiwiwna - sie sei 90 und ein paar Jahre - spricht von "Faschisten" und fragt: "Wie soll ich sie denn sonst nennen?" Natalya Gumenyuk zeigt sich ein wenig irritert: "Man dachte immer, die ältere Generation in der Ukraine empfinde eine Nostalgie für die Sowjetunion, wennn auch keine Loyalität gegenüber den Russen (mit der hatte wohl Putin kalkuliert, Verf.)... Was ich auf meine Reisen in den letzten Wochen dann tatsächlich hörte, waren Sätze wie: >Ich hasse Putin mit jeder Faser meines Körpers.< - >Hat er entschieden, dass er Gott ist?< - >Er ist bloß ein Feigling, der sich davor fürchtet, hierherzukommen, um mich persönlich umzubringen.< Es sind gerade die Alten, die unter diesem Krieg am meisten leiden." Im Fortgang ihres Berichts spricht sie davon, dass sie es eigentlich zu vermeiden versuche an Online-Konferenzen teilzunehmen, solange sie als Reporterin unterwegs sei: "Ich finde dann nicht die Kraft, einem westlichen Publikum irgendetwas zu erklären oder zu beweisen. Ich denke es ist doch genug, dass ich aufschreibe, was ich sehe. Die Dinge sond so offensichtlich."
Und nun die Passage, auf die Natalya - auch von Friedensbewegten - zu Recht eine Antwort erwartet:
"Aber ich fühlte mich verpflichtet, an der Veranstaltung eines deutschen Thintanks teilzunehmen, es ging um die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, etwas, um das ich mich in den vergangenen acht Jahren sehr bemüht habe. Wie immer drehte sich die Debatte darum, welche Zugeständnisse die Ukrainer machen sollten, um den Kreml zu besänftigen. Mir ist klar, dass jeder moderne Krieg am Verhandlungstisch endet. Deshalb denke ich ständig über Szenarios nach. Das einzige Szenario, das mir gerecht erscheint, ist dieses: Die russischen Soldaten hören auf zu kämpfen - und der Krieg ist vorbei. Wenn die ukrainische Armee aufgäbe, würde die ukrainische Bevölkerung abgeschlachtet."
Und weiterhin - sozusagen als Alleinstellungsmerkmal der russischen Aggression dieses Ausmaßes:
"Die meisten modernen Konflikte haben ihre Grauzonen. Irgendeinen historischen Grund. Ich habe über Konflikte im Nahen Osten berichtet und über den Balkan, das war mein Spezialgebiet. Ich halte nichts von Opfer-Konkurrenz. Ich verstehe, warum andere Staaten nicht in Bürgerkriege eingreifen oder wenn eine unterdrückte Bevölkerung ihre eigene Regierung bekämpft. Aber das ist es ja, hier ist es anders: Im Fall der Ukraine - und das ist einzigartig in der jüngeren Geschichte - bittet die reguläre Armee einer demokratisch gewählten Regierung um militärische Hilfe."
Es gibt noch so viele Besonderheiten, die insbesondere die deutsche Verantwortung wachrufen müssten. Von meinem Freund war zu hören:
"Was haben Waffen, ausgerechnet aus Deutschland, in der ehemaligen Sowjetunion (heute Ukraine) zu suchen? Dorthin, wo deutsche Nazis zigtausendfachen Tod zu verantworten haben. Das erschließt sich mir nicht. Geschichte: setzen - sechs."
Nunja, Frau Gumenyuk - Geschichte: setzen - sechs! Natalya Gemenyuk schreibt weiter: "Kurz nach dem Massaker in Butscha wurde ich live bei den großen amerikanischen Fernsehsendern nach meiner Einschätzung der Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gefragt. Leider muss ich sagen, dass ich keine Anzeichen dafür sehe, dass Russland wirklich zu Verhandlungen bereit ist [...] Die Städte der Ukraine werden nicht durch Putins Gnade befreit, sondern militärisch. Kurz nachdem ich das gesagt hatte, erhielt ich eine Nachricht von einem Politikexperten aus Moskau, der früher einmal mit dem Kreml in Verbindung stand. >Ich habe dich auf CNN gesehehen<, schrieb er mir. >Du hast recht. Nichts außer der Lage vor Ort wird die Entscheidungen des Kreml beeinflussen.< Ich habe dazu auch Boris Filatow befragt. Er ist der Bürgermeister von Dnipro. Die Stadt ist zu einem der Logistikzentren dieses Krieges geworden, von dort aus wird die Unterstützung für den Donbass, die Süd- und Ostukraine organisiert [...] Dnipro ist auch die jüdische Hauptstadt der Ukraine, hier liegt das größte jüdische Zentrum der Welt, und hier befindet sich eine der größten jüdischen Gemeinden. Filatow ist ethnischer Russe, er spricht in der Öffentlichkeit russisch. Wenn ich ihn nach seiner Einschätzung von Putins Verhandlungsbreitschaft frage, sagt er: >Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Das ist ein kranker Mann. Er lebt in einer irrealen Welt. Warum hat der Westen überhaupt versucht, ein Abkommen mit ihm abzuschließen? Ich denke, Angela Merkel schläft derzeit ziemlich schlecht. Die ganz Welt hat zugesehen, wie in den vergangenen 20 Jahren ein neues Reich geschaffen wurde, wie ein neuer Führer heranwuchs.< Er sagt das Wort auf Deutsch, >Fuhrer<. >Ein Volk, ein Reich, ein Führer<, fährt er fort. >Das ist das Gleiche bei Putin. Das ist Russland.<"
Eines ist nach zwei Monaten Krieg gewiss: Russland entzieht sich politisch konsequent jener Metamorphose, die es historisch an Haupt und Gliedern erfahren hat. Es ist nicht bereit sich zum Status einer Regional- oder Mittelmacht zu bekennen. Russland bezieht sein Selbstbewusstsein und seine (maßlosen Ansprüche) aus einer Traditionalinie, die mit unerträglichen, historisch bedingten Großmachtsphantsien einerseits zusammenhängen und die sich aus seinem Status als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs - so muss man die ehemalige Sowjetunion sehen - nähren.
Fatal ist dabei der Umstand, dass Russland in das Erbe der Sowjetunion als Atommacht eingetreten ist (und im Zuge der Auflösung der UdSSR auch die auf ukrainischem Boden stationierten Atomwaffen in sein Arsenal übernommen hat - ein Deal, der auf der anderen Seite die Souveränität der Ukraine mit garantieren half). Deutschland hingegen hat aus der Niederlage im Zweiten Weltkrieg - und einer heute so gesehenen Befreiung vom Faschismus - eine radikale Lehre gezogen. Die Konsequenzen daraus manifestieren sich in ihren besseren Anteilen im Verzicht auf jegliche Gebietsansprüche - zum anderen drücken sie sich sicherlich auch in einer Ostpolitik aus, wie sie von Willy Brandt und Egon Bahr auf den Weg gebracht worden ist.
Politisch und historisch betrachtet manifestieren sich in diesen beiden Positionen - im Russland Putins und im Deutschland Merkels und Scholzens - zwei Logiken, die vollkommen unvereinbar erscheinen. Peter Dausend, Mark Schieritz, Michael Thumann und Anna Sauerbrey haben bereits am 7. April (ZEIT 15/22) die vier vermeintlichen Alternativen erörtet, "wie es aufhören könnte". Alle vier Alternativen scheitern an der von Putin vertretenen Logik: 1. ein militärischer Sieg der Ukraine ist schlicht nicht vorstellbar. Dafür sind die Eskalationsoptionen Putins zu dominant. 2. Mit härteren Sanktionen alleine lässt sich Putins Russland kurz- und mittelfristig nicht in die Knie zwingen. Dazu sind die Ressourcen Russlands offentsichtlich im Sinne von Autarkie und Resilienz zu groß. 3. Waffenstillstandsverhandlungen mit einer die ukrainischen Kerninteressen berücksichtigenden Aussicht werden von Putin nicht ansatzweise in Erwägung gezogen. 4. Dass die Ukraine nicht aufgeben wird, ergibt sich aus der brutalen von Putin aufgezwungenen Kriegslogik - oder um es noch einmal mit den Worten Natalya Gemenyuks auszudrücken: "Wenn die ukrainische Armee aufgäbe, würde die ukrainische Bevölkerung abgeschlachtet." Quod erat demonstrandum!
Es ist wohlfeil, die gesamte deutsche Russlandpolitik heute an den Pranger zu stellen. In ihren Abhängigkeitsfolgen war sie zweifellos dumm und naiv. Naivität und Dummheit sind allerdings - ex post factum - leicht zu diagnostizieren. Nur wer als Deutscher bereit war (und ist) so radikal nüchtern und desillussioniert auf die eigene Vergangenheit zu schauen und dabei den Nationalsozialismus samt des von ihm übernommenen und begründeteten bzw. verschärften historischen Referenzrahmens als Blaupause für eine Politik im 21. Jahrhundert anzunehmen, konnte sich ausmalen, dass Putin nicht nur zum Krieg, sondern auch zu einer kriegsverbrecherischen Vorgehensweise bereit sein könnte. Dass sich dies Amerikaner vorstellen konnten, mag mit ihren eigenen kriegsverbrecherischen Schuldenlasten aus dem Vietnamkrieg zusammenhängen. Und man greift in der Argumentation ganz sicher zu kurz, wenn man der deutschen Politik nur - wie es Selensky andeutete - eine Brille für's Geschäft - Geschäft - Geschäft zubilligt. Nach dem 24. Februar - und ich folge Natalya Gemenyuk hinsichtlich ihrer Singularitätsthese - wissen wir besser, was wir nach Georgien, Tschetschenien, Aleppo, der Donbass-Politik und natürlich nach 2014 (Krim-Annexion) schon hätten wissen müssen. Für eine Appeasement-Politik besteht keinerlei Veranlassung und Legitimation mehr.