Konstantin Wecker und Lämmle-Live
Lämmle-Live beim Südwest 3 – ich glaube, das ist mehr als zwanzig Jahre her. Seit unserem Umzug gerate ich immer wieder an eingelagerte Kartons, in denen ich die äußeren Ringe meines Bibliotheksbaums abgelegt habe, das was mir nicht so wichtig erschien. Vor Tagen fiel mir die FamilienBande von Brigitte Lämmle und Gabriele Wünsche in die Hände (Wilhelm Goldmann Verlag, München 1995). Auf Seite 145 beginnt das Kapitel Den Weg zueinander finden: Warum Offenheit für alle Familienmitglieder lebenswichtig ist. Auf Seite 149 lese ich:
Eine von zwei Grundkoalitionen ist die Wüstenführer-Koalition zwischen den Eltern: „Da ist die Wüstenführer-Koalition zwischen den Eltern. Darin muss eine felsenfest verankerte Solidarität zwischen den Eltern herrschen, die es verträgt, dass es auch einmal Streit gibt, etwa über den richtigen Umgang mit Klapperschlangen. Grundsätzlich besteht aber Übereinstimmung darüber, den Kindern die Erfahrung zu vermitteln, Reptilien mit Vorsicht und Respekt zu beobachten – auch wenn die Eltern sich als Paar trennen, muss diese Wüstenführer-Solidarität bestehen bleiben… Wenn in einer Familie diese Koalition vorhanden ist, dann kann in dieser Familie niemandem etwas passieren.“
Und auf Seite 156 ist folgendes zu lesen:
„Wenn in einer Beziehung nicht gesprochen werden kann über Enttäuschungen und Verzicht, dann baut sich immer mehr Seelenmüll vor der verschlossenen Tür auf… Die Familienlösung in so einem Fall ist fast immer: Einer der Eltern sucht sich in der Kinderetage jemanden, der ihm Trost, Hilfe und Freude geben kann. Und dabei wird der andere Elternteil aus dem Beziehungsgeflecht der Familie ausgeschlossen. Denn Kinder ertragen es nicht, mit dem Gefühl zu leben, dass Papa (oder eben Mama) der Mutter (bzw. dem Vater) weh tut. Wenn ein Elternteil einem Kind aber genau dieses Gefühl vermittelt, dann ist es diesem Kind nicht mehr möglich, mit dem anderen Elternteil eine offene, heilende Verbindung aufzunehmen. Dann ist es ihm nicht möglich zu fragen: ‚Warum machst du das mit Mama (Papa)? Es macht mich traurig.‘ Das gesamte Beziehungsnetz, das allen in der Familie die Möglichkeit zu Wachstum und Weiterentwicklung bringt, ist damit nicht mehr intakt.“
Einem Freund habe ich vor wenigen Tagen geschrieben, dass mir - wenn ich noch zehn helle Jahre hätte - sicherlich noch der große Wurf gelänge, in dem die existenziell prägenden Schlüsselerfahrungen in einem langen Leben in Geschichten eingehen, die fesseln, die fassungslos machen, die erheitern und ermuntern gleichermaßen - und wo vor allem jede Ähnlichkeit mit lebenden (und auch verstorbenen Personen) rein zufällig sein wird.
Der Therapeutin Brigitte Lämmle und ihrer Koautorin ist das gelungen, und sie versichert uns in ihrem Vorwort:
"Wir werden in diesem Buch immer wieder 'Familienszenen' schildern. Darin begegnen uns Menschen, die mit dem Zusammenleben auf die ein oder andere Weise so ihre Probleme haben. Jede dieser Szenen beruht auf einer authentischen Grundsituation, die von authentischen Menschen erlebt wurde. Doch haben wir sie jeweil so verändert, dss keine Zuordnung zu real existierenden Paaren und/oder real existierenden Familien möglich ist."
Gleichwohl macht dieses Buch nur Sinn, wenn die Autorinnen davon ausgehen, dass alle LeserInnen das Gelesene nolens volens abgleichen mit ihren eigenen Lebenserfahrungen. Dann mag es vorkommen, dass dem/der ein oder anderen Schuppen und Scheuklappen von den Augen gehen, und dass ein (Selbst-)Erkennen in Gang kommt, dass die Sicht auf die eigene (Herkunfts-)Familie und die eigene Befindlichkeit grundlegend verändert. Dies alles bedeutet noch nicht im Entferntesten, dass damit auch Veränderung - zumal heilsame Veränderungsprozesse ausgelöst werden. Häufig ist es so, dass die Verletzungen so lange zurück liegen und so verkrustet erscheinen, dass jeder Versuch (heute) noch etwas zu ändern entweder brüsk zurückgewiesen wird oder aber in einer Haltung der schwindenden Hoffnung für aussichtslos gehalten wird. Mit den Erfahrungen Brigitte Lämmles, mit ihren Hinweisen und Tröstungen, mit ihrer lösungsaffinen Grundhaltung (im Veränderungshorizont) mag man aber zumindest gewärtigen, dass die eignen leidvollen Erfahrungen in der eigenen Herkunftsfamilie - solange sie nicht wirklich angenommen und einer Lösung zugeführt werden - in der eigenen Gegenwartsfamilie ihre Fortsetzung finden.
Am 1. September hatten wir das große Vergnügen Konstantin Wecker live auf der Sparkassenbühne hoch über Koblenz auf der Festung Ehrenbreitstein zu erleben. Ich setze nun meine kleine Reminiszenz an Lämmle fort mit einem Text von Konstantin Wecker, der auf eindrucksvolle Weise Lämmles Annahmen zu bestätigen scheint. Es geht dabei sicherlich nicht um eine rosarot gefärbte Vergangenheitsverklärung. Wecker erzählt, dass er sich schon als Jugendlicher vom Elternhaus abgewandt hatte, mehrfach abgehauen war, mit 19 zum ersten mal im Knast gesessen hat. Allerdings ging er auf der Bühne auch der Frage nach, was wohl seine Eltern bzw. sein Elternhaus damit zu tun hatten. Seiner Überzeugung nach hat er sich eben nicht gegen die Eltern gewandt, sondern das Hauptmotiv und der Hauptantrieb lagen in einem Schulbetrieb bzw. einem Schulklima und einer schwarzen Pädagogik, die im wesentlichen von nach wie vor überzeugten Nazis verantwortet wurden. Und wenn er den Vater (Jg. 1912) bzw. die Eltern rühmt, dann vor allem auch wegen ihrer antifaschistischen Grundeinstellung. Konstantin Wecker erweckt nicht den Eindruck, dass es etwas zu verklären gäbe; dass sich Individuation nur sowohl mit als auch gegen die bedeutsamen Anderen vollzieht, seht auch für ihn außer jeder Frage.
Ich selbst werde nicht müde, den Rückhalt zu betonen, der aus der (groß-)väterlichen Linie strahlt, wobei sich dem (groß-)mütterlichen Kraftfeld ein ebenso bedeutsamer Einfluss verdankt. Die unfassbare Energie, die Konstantin Wecker als 74jähriger auf der Bühne entfesselt, resultiert eben für ihn auch aus der (groß-)elterlichen Ermöglichung und Ermächtigung. Man spürt gewissermaßen, wie sich ein energetisches Gewebe aufspannt, das durch die Generationen hindurchwirkt und das im übrigen - so sieht es Wecker - auch auf seine Kinder überzugehen scheint. Über sie weiß ich nichts Konkretes. Ich höre nur die beiden Lieder/Gedichte, die ihnen Konstantin Wecker zugedacht hat (siehe weiter unten). Aber nun zunächst einmal: Niemals Applaus!
NIEMALS APPLAUS (FÜR MEINEN VATER) SONGTEXT
Niemals Applaus, kein Baden in der Menge
Und Lob, das nur im kleinsten Kreise kam
Und das bei einer Stimme, die die Enge
Des Raumes sprengte, uns den Atem nahm
Dein "Nessun dorma" war von einer Reinheit
Die nur den Allergrößten so gelang
Du blühtest nur für uns. Der Allgemeinheit
Entzog das Schicksal dich ein Leben lang
Und trotzdem nie verbittert, keine Klage
Du sagtest einfach, deine Sterne stehn nicht gut
Doch gaben dir dieselben Sterne ohne Frage
Die Kraft zur Weisheit und unendlich Mut
Mir flog das zu, was dir verwehrt geblieben
Du hattest Größe und ich hatte Glück
Du hast gemalt, gesungen, hast ein Buch geschrieben
Und zogst dich in dich selbst zurück
Du hast die Liebe zur Musik in mir geweckt
Und ohne dich wär ich unendlich arm geblieben
Du bliebst verkannt und hast dich still entdeckt
Ich war umjubelt und ich hab mich aufgerieben
Das, was ich heute andern geben kann
Wäre nicht denkbar ohne dich
Es ist dein unbeachteter Gesang
Der in mir klingt und nie mehr von mir wich
Und meistens sagt man erst zum Schluss
Was man verdeckt in tausend Varianten schrieb
Wenn ich an meinen Vater denken muss
Dann denk ich stets - ach Gott, hab ich ihn lieb.
die Kindheit ist so schnell vergangen.
Für die Eltern ist deshalb nicht alles aus,
die haben noch andre Verlangen.
Obwohl, ich hätte so manchen Moment
liebend gerne fester gehalten.
Doch man kann sich die Flüchtigkeit der Zeit
nicht nach eigenem Willen gestalten.
Was kann ich euch mitgeben auf diesen Weg
den ihr nun ganz alleine bestreitet?
Die Hoffnung, dass euch mit jedem Schritt
stets meine Liebe begleitet.
Ich hab’s nun mal nicht so mit der Moral
wann sind Kinder gut, wann böse?
Kinder sind schuldlos, haltet sie frei
vom Moralismusgetöse.
Ihr seid ein Wunder. Wie jeder Mensch
geboren aus dem absolut Schönen.
Und die Welt sähe so viel friedlicher aus,
könnt’ man sich daran gewöhnen.
Ich war nie perfekt. Wie könnte ich auch.
Ihr kennt meine Kunst zu scheitern.
Und perfekte Eltern konnten uns doch
im besten Fall nur erheitern.
Was hab ich falsch, was richtig gemacht?
Ihr wart mir doch nur geliehen.
Ich rede nicht gern um den heißen Brei:
ich wollte euch nie erziehen.
Erziehen zu was? Zum Ehrgeiz, zur Gier?
Zum Chef im richtigen Lager?
Ihr wisst es, ich habe ein grosses Herz
für Träumer und Versager.
Einen einzigen, großen Wunsch hätte ich noch,
da seid mit mir bitte konform:
egal was sie dir versprechen, mein Kind,
trag nie eine Uniform.
Es wird nicht leicht. Die Zeiten sind hart.
Es knarzt mächtig im Getriebe.
Ich hoffe euch trägt auch durch Not und Pein
bedingungslos meine Liebe.
Das ist alles was ich verschenken kann,
keine prall gefüllten Konten.
Und Augenblicke der Schönheit, da wir
zusammen uns glücklich sonnten.
Sorgt euch nur nicht um den Vater, nun kommt
euer ganz eigenes Leben.
Ich habe gelernt - und ich dank’ euch dafür -
ohne zu wollen zu geben.
Unsere Kinder
waren schön von Anfang an.
An der Nabelschnur
schon (aus)gewogen,
ohne Makel
- kleine Druckstelle auf der Stirn die eine,
- die andere ein rötlich Mal im Nacken.
Welch ein großes,
welch ein grenzenloses Glück.
Und wie ängstlich und behutsam
das erste zaghafte Berühren.
Ungläubig,
dass sie aus eignem Atem leben nun.
Das Glück, den Unterschied erklären?
Wohl kaum
- und doch,
man kann ihn schon erahnen:
Vertrauen und Vertrautheit wachsen
Zug um Zug
mit jeder Windel, die bekackt
Entzücken weckt
und Zuversicht,
dass Leben lebt und sich vollzieht.
Und dann beginnt das Spiel der Liebe;
ein Spiel des Herzens und der Sinne,
das gleichermaßen uns betört.
Und so, wie eine dürre Steppe
blühen kann und sprießen,
wenn sie der Regengott erhört,
so kräht und strampelt ihr ins Leben.
Und wie die wilden Bächlein fließen
treibt’s euch voran – kein Wasser fließt zurück!
Dies ist der Kreislauf,
der alle tief entzückt
und wechselseitig uns beglückt.
So viel, so oft seid ihr geherzt,
wird eure Haut umschmeichelt,
dass unser aller Seelen stark und fest
in dieses Leben gehen,
in diesem Leben stehen,
als sei’s ein Fest.
Viel später sehen wir und hoffen,
dass dies ein guter Boden sei,
der lange nährt,
bis Leben sich erschöpft.
Doch bis dahin soll der Weg ein Weg sein.
Mein Blick erwischt noch mal den Punkt,
an dem ihr losgegangen seid.
Es sind die Plattitüden,
die heut mich noch erbaun:
Wohl mehr als 10 mal tausend Windeln
habt ihr grün und gelb und braun beschissen,
und jede war mir wohl ein Fest,
(obwohl die Hälfte hat
die Mama übernommen,
deren Nase feiner ist und nicht so grob!)
Das könnt ihr nicht verstehn?
Nun, ich hab als Baby schon bekommen
Und meinen Eltern was gegeben.
Und was sie von mir bekommen,
hab ich von euch genommen.
Wer Nehmer ist und Geber?
Zwischen Kind und Eltern?
Schwer zu sagen!
Und wenn es rund wird,
ist’s auch schnuppe!
Mit Niklas könnt man sagen: Kot hin, Kot her,
im Code der Liebe sind beide stets Gewinner!
Und merkt euch eins – in euren Herzen aufgehoben:
Die erste Liebe ist zu Hause –
bedingungslos und ohne Schranken!
Der Eros treibt euch dann hinaus
und lässt euch wanken
((Die Eltern (er)trugen meinen ersten Liebeswahn
Und auch ein Stück von meinem Kummer.))
Ich hoffe – wir sind für euch da,
wenn ihr im Rausch kein Ufer seht,
dass ihr im Sturm der ersten Liebe
nicht alleine steht!
Und später
sucht ihr einen Ort.
Vielleicht gebt ihr dem Mann (?) des Herzens
dann das Wort.
Und macht dann eure Welt
mit allem Mut und allen Fehlern,
denn Lernen könnt allein ihr nur und selbst
erfindet ihr das Rad dann neu
und häutet euch von Mal zu Mal.
Solange bis ihr groß und stark seid
und eignen Kindern putzt und streichelt dann den Po
(und auch die Seele)
und gebt das Leben weiter.
Dann kehrt vielleicht zurück
ein Stück des selbstverständlichen Verstehens,
wo heut sich Gräben auftun und auch Wut.
Die Liebe bleibt und langsam wächst ein Mut,
der uns die großen Dinge lehrt zu sehen.