Familie - eine riskante Angelegenheit? Gesellschaftliche Veränderungsdynamiken und ihre Folgen
Unter diesem Titel haben Dorett Funcke und Sascha Bachmann in Heft 1/20 (S. 50-63) der Familiendynamik einen Beitrag veröffentlicht, der aus meiner Sicht in mehrfacher Hinsicht Aufmerksamkeit verdient. Mir persönlich geht es hier nur um einen Argumentationskern, der mich alleine schon deshalb beschäftigt, weil ich mich immer wieder frage, wie gesellschaftliche Veränderungsdynamiken auch das unmittelbare eigene Erleben von Familie tangiert? Dazu ist vorausschickend zu bemerken, dass wir - meine Frau und ich - als Herkunftsfamilie unserer Kinder, die inzwischen 33 und 31 Jahre alt sind, das ganz und gar ungewöhnliche Glück für uns erleben, dass die Kinder Partner, Brot und Ort (vor allem auch im Sinne von Heimat) im unmittelbaren Umfeld gefunden haben.
Da inzwischen auch Enkelkinder geboren sind, lässt sich diese Frage ganz unvermittelt aus der alltäglichen Praxis heraus beantworten. Dabei ist heute schon allein der Hinweis, dass wir uns in der Regel allsonntäglich zum Mittagessen treffen - klar, mal fehlt der eine, mal der andere - erklärungs- und legitimationsbedürftig. Die Gesamtbilanz enthält als Mehrwert zum Beispiel, dass man sich nur alle drei Wochen um das sonntägliche Mittagsmahl Gedanken und Mühe machen muss. An zwei von drei Sonntagen setzt man sich an den gedeckten Tisch und - da alle respektable KöchInnen sind - genießt. Auf den Enkelkindern ruhen mehr Augen, mehr Aufmerksamkeit, mehr vielfältige, allseitige Zuwendung. Alle sind spannungs- und konfliktsensibel; manchmal krachts im Vorfeld und man sieht sich vielleicht dann doch einmal lieber nicht. In der Regel gibt es aber konstruktive und wertschätzende Formen der Konfliktbehandlung. In alte(rnde) Männer habe ich für meinen Teil einmal ein Zipfelchen gelüpft, um deutlich zu machen, dass unsere jeweiligen Herkunfts- und Gegenwartsfamilien keine Idylle zulassen bzw. repräsentieren und zuweilen auch eher dem Chaos verpflichtet sind/waren.
Die Einstiegsthese Dorett Funckes und Sascha Bachmanns zielt darauf ab, dass inzwischen offenkundig aus dem Blick zu geraten droht, "dass Bildung - wie in der Familie - auch bedeutet, lebensweltlich gebundenes Wissen zu vermitteln, und dass sie eingebettet ist in sozialisatorische Prozesse". Der Bildungspolitik unterstellen die beiden, dass sie die Enteignung der Familie betreiben und mehr und mehr einer entschiedenen Meritokratisierung das Feld bereite. Die absolute Betonung liege auf Leistung und Bildungserfolg:
"Curricular angelegte Lernstrukturen verdrängen zunehmend den Situationsansatz, der Kinder mit lebensweltlichen und alltäglichen Zusammenhängen vertraut macht." Und vor allem: "Leistung erhält gegenüber Bildung einen übergordneten Wert."
Viel zu wenig werde vor allem in den einschlägigen Bildungs- und Leistungsstudien, die einer am Arbeitsmarkt orientierten Familienpolitik in die Hände spielten, beachtet, die Familie als den Ort zu betrachten, "an dem Kinder - vermittelt über ihre Eltern, eben im Rahmen einer primären Sozialisation - allgemeine Lebensführungs- und Lebensbewältigungskompetenzen erwerben". Funcke/Bachmann entwickeln ein Plädoyer für die Familie als eigensinniger Bildungsort. Dazu nehmen sie zunächst einmal eine sehr grundlegende Unterscheidung vor:
"Familie als Kommunikationsraum unterscheidet sich bedeutend von anderen Kommunikationsräumen. Eine elementare Unterscheidung ist die zwischen spezifischen und diffusen Beziehungen."
Diffuse Sozialbeziehungen seien immer Beziehungen zwischen ganzen Menschen: "Denn familiäre Lebenspraxis zeichnet sich nicht dadurch aus, Leistungsrollen wahrzunehmen oder zielbewusst aktiv zu sein. Bei der Familie handelt es sich, im Gegensatz z.B. zur Schule, um eine leistungsindifferente Anerkennungsgemeinschaft." Dabei stehen folgende vier Eigenschaften im Vordergrund:
- Familienbeziehungen sind von ihrer Zeitstruktur auf Nichtbeendigung angelegt.
- Die Abwesenheit einer gefühlsmäßgigen Beziehung ist erklärungsbedürftig - Eltern-Kind-Beziehungen haben notwendigerweise eine Körper- bzw. Leibbasis (in allen anderen Kommunikationsformen, in denen Menschen sich im Alltag bewegen, wird die körperliche Zuwendung scharf sanktioniert - außer natürlich in beiderseitig erklärten/gelebten Liebesbeziehungen).
- In diffusen Beziehungen unterstellen Funcke/Bachmann Unersetzbarkeit und Einzigartigkeit: "Zu einem Einzigartigkeitsentwurf zählt die gesamte Geschichte, die der andere biografisch kumulativ erworben hat und in der sich Identität bis dahin darstellt."
- Innerfamiliale Beziehungen sind Vertrauensbeziehungen: "Und wenn Eltern ihre Kinder belügen oder ihnen verschweigen, wer seine/ihre leiblichen Eltern sind, hat das in der Regel [...] dramatische Folgen." Da bin ich Experte!
Es gefällt mir, dass Funcke/Bachmann t a c h e l e s reden und das, was sie als Enttraditionalisierung beobachten als die Kehrseite einer "Verbetriebswirtschaftlichung der Lebenswelt mit einer Fixierung auf die Erwerbsarbeit deuten". Zusammen mit der sogenannten Meritokratisierungstendenz nimmt auch im Erziehungs- und Bildungssektor die Institutionalisierung überhand: Eltern geben ihre Kinder an Betreuungseinrichtungen ab und nehmen dies mehr und mehr als Entlastung und Normalität gleichermaßen wahr. Sie wollen ihren Kindern die "besten Startchancen" ermöglichen. Wir beobachten diese Prozesse unterdessen nahezu seit zwanzig Jahren mit einer zunehmenden neoliberal orientierten Durchdringung aller Lebensbereiche. Funcke/Bachmann stellen hierzu fest:
"Prozesse der ökonomischen Rationalisierung sind aber mit der Logik diffuser Sozialbeziehungen, wie sie für die Familie konstitutiv ist, schon allein deshalb nicht zu vereinbaren, da hier über das vorfamiliale Strukturprinzip der Liebe des Paares darüber entschieden wird, ob ein Kind entsteht oder das Paar für sich bleibt [...] Was die moderne Gesellschaft auszeichnet, ist eine Autonmiezumutung [...] Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Erwartung besteht, dass alle arbeiten."
Dazu passt die Beobachtung, dass die Arbeitswelt mit der Familie um die Bedeutung als Quelle umfassender Sinnstiftung mehr und mehr in Konkurrenz tritt. Funcke/Bachmann zitieren eine Veröffentlichung Christine Wimbauers (2012): "Wenn Arbeit die Liebe ganz ersetzt" - die dazu vorgenommene Anmerkung scheint mir wert, hier wiedergegeben zu werden:
"Die Nachrangigkeit diffuser Beziehungen gegenüber der unbedingten Teilnahme an der Betriebsamkeit aktueller Weltgeschehnisse ist beispielsweise gut anzuhören im Pop-Song '... nur noch kurz die Welt retten - danach flieg ich zu dir - noch 148 mails checken - wer weiß, was mir dann noch passiert - denn es passiert so viel - muss nur noch kurz die Welt retten - und gleich danach bin ich wieder bei dir...' (Tim Benzko)
Nicht nur die Familie als Fortsetzung einer auf Reproduktion hin angelegten Paarbeziehung gerät hier unter Druck. Bereits Paarbeziehungen scheitern häufig genug an der Unvereinbarkeit von diffuser Liebessehnsucht auf der einen Seite - und sei sie noch so himmelsstürmend. Nicht selten - und immer öfter - obsiegt als Gegenspieler der Drang und die Motivation "der unbedingten Teilhabe" an Welt mit dem Ziel den ganz individuellen Potentialen und Sehnsüchten Gestalt und Perspektive zu verleihen. Zuletzt hat Eva Illouz überzeugend dargelegt, wo die neuen Demarkationslinien sich in der Postmoderne ergeben.
Eine auf Familienorganisation bezogene - durchaus widersprüchliche Tendenz - sehen Funcke/Bachmann in einem Paradigmenwechsel weg von der gattenzentrierten Familie hin zur Kinderzentrierung. Der Spannungsraum ergibt sich aus der Verdrängung der hierarchisch organisierten Generationenfamilie durch die Verhandlungsfamilie. Mir persönlich ist es immer schon merkwürdig vorgekommen, wenn - auch schon in meiner Generation zu beobachten - Kinder ihre Eltern statt mit Mama/Papa mit dem Vornamen anreden. Funcke/Bachmann zitieren eine Reihe von Arbeiten, die zeigen, wie Eltern Kinder zu gleichberechtigten Partnern machen und den Entwicklungsstand ihres Kindes ignorieren. Dazu passt dann die Erkenntnis,
"dass, wenn Kinder vor zu viele Wahlmöglichkeiten gestellt werden, dies auch negative Folgen für Entwicklungsprozesse haben kann."
Damit setzen sich Funcke/Bachmann gewiss der Kritik aus, den Schuss nicht gehört zu haben, der das Autonomiegebot und die Selbstverantwortung - auch im Sinne der Selbstoptimierung - signalisiert. Und man bemerkt selbst, dass man - sowohl im Rückblick als auch mit Blick auf die eigene Erziehungspraxis - sehr viel konservativer und damit vermutlich hilfreicher für die eigenen Kinder agiert hat, als man es vielleicht wahrhaben wollte:
"Der Kinderpsychoanalytiker Frank Dammasch berichtet von dem Fall eines Mädchens, das in einer partnerschaftlichen Verhandlungsfamilie aufwächst und im Alter von 11 Jahren zu ihm in die Kinderpsychoanalyse kommt. Beide Eltern, unverheiratet, sind Akademiker und berufstätig. Sechs Monate nach der Geburt kommt das Kind zu einer Tagesmutter, dann in eine Krippe und mit drei Jahren in dern Kindergarten. Alle Anpassungen an die kollektive Erziehung hat das Mädchen spielerisch gemeistert. In der Familie, die einen demokratischen Beziehungsstil pflegt, wird alles verständnisvoll ausdiskutiert. In der Vorpubertät kommt es dann plötzlich zu einer 'Überforderung im Austarieren von Autonomieerwartungen, Bindungswünschen und schulischen Bildungserwartungen."
In der therapeutischen Arbeit wird deutlich, dass das beobachtete abweichende Verhalten - regressive Angstbindungen, Angstrituale - auch als Folge einer frühen Anpassung "an die Standardisierungen sozialer Institutionen" verstanden werden kann: "Diese frühe Kollektivierung und auch der Erziehungsstil einer bildungsorientierten Verhandlungsfamillie 'hat den Sicherheitsrahmen des kindlichen Größerwerdens ... ins Wanken gebracht'."
Funcke/Bachmann schlussfolgern klipp und klar im Sinne Dammaschs: "Was es braucht, sind Eltern, 'die konstant emotionale Verantwortung übernehmen und dem Kind Zeit lassen'."