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Alte(rnde) Männer

Professor Dr. Eckart Hammer lehrt Soziale Gerontologie an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg – sein Beitrag in der Familiendynamik 4/2015 (S.286-295) lautet: Schlaglichter auf das Alter(n) des Mannes. In der knappen Übersicht ist zunächst von einem Defizit die Rede – Alter(n)sfragen seien sozialwissenschaftlich wenig erhellt. Es fallen die Stichworte Berufsaufgabe und Übergang in den Ruhestand; es gehe insbesondere um sinnstiftende Tätigkeiten sowie um eine Neubestimmung von Partnerschaft und anderen sozialen Beziehungen. Und dann noch: „Hochaltrigkeit und drohende Gebrechlichkeit erhöhen seinerseits das Suizidrisiko, andererseits sind Männer in der Angehörigenpflege ein weithin unterschätztes Potential.“ Na, dann!

Ich bin fast 69 Jahre alt und befinde mich seit Oktober 2017 im Ruhestand. Das heißt zumindest, dass ich um die Weihnachtszeit 2015 keine Aufmerksamkeit hatte für den Beitrag Eckart Hammers. Dies ist gut so. Fast dreieinhalb Jahre Ruhestand geben mir die Möglichkeit mich mit Hammers Beitrag nicht nur prospektiv auseinandersetzen zu können, sondern erlauben schon so etwas wie Retrospektive und vergleichsrelevante Beobachtungen im näheren und weiteren Umfeld. Wie immer, werde ich in meinem Beitrag die von Eckart Hammer in generalisierender Absicht vorgestellten Befunde und Thesen unmittelbar auf mich rückbeziehen, denn ich will ja keine Wissenschaft mehr betreiben, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse für mich nutzen.

Eckart Hammer beginnt bezugnehmend auf Kruse u.a. (in: Brähler/Kupfer: Mann und Medizin, Göttingen 2001) mit dem Hinweis, während die Frauenforschung nicht zu leugnende Fortschritte gemacht habe, gebe es bis heute kein speziell an männerspezifischen Lebenslagen, Chancen, Benachteiligungen und Entwicklungen interessiertes Äquivalent. Am ehesten gewinnt man einen Zugang zur Thematik, wenn man – wie Hammer – in Anlehnung an Tobias Brocher – Fragen stellt, die an der Schwelle zum Alter beantwortet werden wollen:

  • Wie bin ich an diese Stelle meines Lebens gekommen?
  • Stimmt mein jetziges Leben mit dem überein, was ich ursprünglich einmal wollte?
  • Was müsste ich heute tun oder verändern, um das erweiterte und veränderte Ziel später auf anderem Weg zu erreichen?
  • Welchen Preis muss ich zahlen, wenn ich meine augenblickliche Lebensweise unverändert fortsetze?
  • Was brauche ich für die nächsten fünf bis zehn Jahre? 
  • Welche Einsicht ist für mich am schmerzlichsten zu ertragen? Was würde ich heute anders machen und wie finde ich Frieden für unwiederbringlich Versäumtes?
  • Der Berufsaustritt, die (un-)heimliche Krise

Niemand wird bestreiten, dass der Eintritt in den Ruhestand große Anpassungsleistungen erfordert – Hammer spricht von einer umfassenden Neuorientierung, wie sie vielen Männern kaum je zuvor im Leben abverlangt worden sei. Denn häufig gehe diese Zäsur einher mit:

  • dem Verlust von Selbstwert und Status;
  • Veränderungen im familiären Mikrokosmos – Verlust der vertrauten (Ernährer-)Rolle(n);
  • dem Verlust zentraler Sinnbezüge (durch den Beruf);
  • der radikalen Veränderung von gewohnten Tages- und Lebenssstrukturen;
  • dem Wegfall beruflicher Beziehungen; 
  • und damit dem Druck/Zwang auch die privaten – vor allem auch die Paarbeziehung neu zu definieren; 
  • der Veränderung und eben häufig der Einschränkung finanzieller Spielräume.
  • Das zweite Leben des Mannes – ein Altersprojekt entwickeln

Innerhalb von drei Generationen hat sich der Ruhestand als Phase erheblich ausdifferenziert. Eckart Hammer beschreibt den Übergang auf dem Hintergrund, dass erst mit der Dynamisierung der Rente die Grundlage für ein materiell abgesichertes Alter gegeben war. Vor das sogenannte vierte Alter –statistisch heute das 80. Bis 85. Lebensjahr umfassend – und das als „die Zeit der beginnenden Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit“ definiert wird, hat sich mit dem dritten Alter ein historisch neuer Lebensabschnitt entwickelt: 15 bis 20 Jahre mit im Durchschnitt guter Gesundheit, hoher kognitiver Kompetenz und ausreichend materieller Absicherung“. Es liegt also nahe davon auszugehen, dass hier so etwas wie eine späte Freiheit lockt – die Möglichkeit, endlich etwas für sich zu tun, Ungelebtes und Versäumtes nachzuholen und sich seiner Träume zu erinnern. Eckart Hammer beobachtet allerdings, dass zeitlebens nach außen orientierte Männer durchaus Schwierigkeiten haben unversehens auf sich selbst zurückverwiesen zu sein und ab sofort mit sich selbst zurechtkommen zu müssen.

Schauen wir einmal, was Eckart Hammer im Zusammenhang mit Altersprojekten beobachtet und zu sagen hat: Einige haben offenkundig ein Interesse daran, Wissen und Kompetenzen an Jüngere weiterzugeben. Dies könne für viele Rentner und Pensionäre durchaus eine sinnerfüllende und identitätsstiftende Aufgabe sein. Sie manifestieren sich in Mentorenprogrammen und Senior-Experten-Diensten. Zivilgesellschaftlich ergibt sich eine Fülle von Betätigungsfeldern. Interessant, dass Eckart Hammer 2015 die Formulierung wählt: „Leben weitergeben und sich um die nachkommenden Generationen zu kümmern, kann auch heißen, sich einzumischen und sich für eine bessere Welt im Kleinen und Großen zu engagieren“ – es ist die Rede vom sozialen Miteinander, dem Eintreten für den Erhalt der Schöpfung und eine gerechtere und humanere Welt. Aktuell – zu Zeiten der Corona-Pandemie und der Klimakatastrophe – stellen sich die Fragen und Herausforderungen wohl nuancierter dar. Das Privileg, in einer singulären Wohlstands- und Friedensphase ohne historisches Beispiel arbeiten und leben zu dürfen, verpflichtet uns zu allen erdenklichen Anstrengungen, dazu beizutragen, unseren Kindern und Kindeskindern eine lebenswerte Perspektive zu eröffnen und zu bewahren. Vieles wird davon abhängen, ob im vierten Alter, in dem körperliche und geistige Gebrechlichkeit wahrscheinlicher werden, die Kosten eines exzessiven individualistischen Lebensstils sozusagen zur Bilanzierung anstehen. Die Frage, die sich zunehmend stellt, lautet:

  • Einsam oder gemeinsam?

Es geht um soziale Netzwerke im Alter!

Folgt man Eckart Hammer, so nehmen Männer und Frauen Veränderungen im sozialen Netzwerk Familie durchaus unterschiedlich wahr. Bevor die nachstehenden Ausführungen zu nachhaltigen Zweifeln führen, zäume ich das Pferd von hinten auf. Wir haben nämlich zu konstatieren, „dass zwei Drittel der späten Scheidungen von Frauen ausgelöst werden und dass sich die Männer dabei häufig als die Verlierer erleben“. Wer hätte denn gedacht, dass Väter den Auszug ihrer Kinder ambivalenter und negativer erleben als die Mütter? „Väter, deren Beziehung zu den Kindern eher auf Gelegenheitsstrukturen basierte – wenn man sich etwa zu den Mahlzeiten begegnete – vermissen ihre Kinder, wenn nun in der Regel die Telekommunikation überwiegend von den Müttern gestaltet wird.“ Und wer würde ohne weiteres davon ausgehen, dass die Tatsache, dass im sechsten Lebensjahrzehnt immer mehr Paare vor einer nachelterlichen Gefährtenschaft stehen, die u.U. länger dauert als die Zeit ihrer aktiven Elternschaft, Männern mehr zu schaffen macht als Frauen?

„Jetzt will er seiner Frau das geben, was sie sich schon immer wünschte: mehr Zeit und Zweisamkeit. Doch er trifft auf eine Frau, die nach den vielen Jahren der familiären und häuslichen Anbindung ihre Lebensaufgabe erfüllt sieht, nun nach Eigenständigkeit strebt und sich mit viel Energie nach außen orientiert.“

Was die sozialen Netzwerke angeht, so nimmt sicherlich im Großen und Ganzen die Ernüchterung zu. So mag es denn auch nicht verwundern, dass Eckart Hammer feststellt:

„Neben dem Partner oder der Partnerin sind Kinder und Enkel die wichtigsten Beziehungen im Alter. Mit dem Auszug der Kinder lösen sich die Familienbande nicht auf, sondern bekommen mit der Familiengründung der Kinder eine neue Bedeutung. Mit abnehmender Kinderzahl intensiviert und mit zunehmender Hochaltrigkeit verlängert sich die Großeltern-Enkel-Beziehung. Großeltern sind eine wichtige intergenerative Ressource für die Kinder und Enkel, im dritten Lebensalter fließen mehr Unterstützungsleistungen in Form von Betreuungs- und Geldleistungen an die Jüngeren als umgekehrt.“

Obwohl ich mich in das Erklärungsraster Eckart Hammers nicht einordnen lasse, folge ich der nun anschließenden Feststellung zur Gänze - unmittelbar vor der Geburt unseres zweiten Enkelkindes und der Lebendigkeit und Sinn stiftenden Bedeutung unseres ersten Enkelkindes Leo. Eckart Hammer macht seinem Namen alle Ehre und meint:

"Vor allem für die Großväter sind die Enkel eine wichtige sinnstiftende Ressource. Wo die eigene Vaterschaft häufig nur unzureichend gelebt wurde, weil der Beruf zu sehr im Vordergrund stand und die Kindererziehung der Ehefrau überlassen war, kann die Großvaterschaft die Chance auftun, bei den eigenen Kindern Versäumtes nachzuholen. Nicht zu warten, bis der Kleine irgendwann richtig Fußball spielen kann, sondern, sich am Geschäft des Popoputzens und Windelanlegens beteiligen. Auf dem Boden liegend am Legoturm mitbasteln, sich unter die jungen Mütter auf dem Spielplatz mischen. Dabei bewusst oder unbewusst die eigene Kindheit, die eigen Elternzeit nochmals zu durchleben, kann ein wichtiger Schritt zu einer inneren Abrundung des eigenen Lebens sein. Enkel erschließen Großeltern die Welt von morgen, halten sie in Verbindung mit dem Neuen, erklären ihnen zumindest die technische Welt. Die Großvater-Enkel-Beziehung war immer schon eine besondere [...] Sie setzt allerdings voraus, dass die Beziehung des Großvaters zum Enkel nicht einfach eine Wiederholung der Beziehung zum eigenen Kind darstellt. Großväter sollen keine strafenden Erzieher und Ratschläger sein, sondern gelegentlich verwöhnende, zugewandte Ansprechpartner, die ihren Enkelkindern einladende Entwicklungspartner in einer ganz besonderen Beziehung sind. Eine solche Großvaterrolle kann für den alternden Mann ein neues, wichtiges und bereicherndes Rollenfach werden. Für Enkel in immer kleiner werdenden Kernfamilien, wo die Kinder ohne die schützende Solidarität von Geschwistern immer mehr der Übermacht von Mutter und Vater ausgeliefert sind, können derart zugewandte Großväter eine wichtige Rolle in der Quadrangulation der Familienbeziehung darstellen."

Ja, liebe Marisa, Leo schläft nebenan, und ich nutze die Zeit, um an diesem Beitrag weiterzuschreiben. Schuldig bin ich die Bezüge zu meinem eigenen Leben - und: zwei wesentliche Aspekte, auf die Éckart Hammer hinweist:

  • Abbau und Abhängigkeit - das vierte Alter

Gemeinsam mit dem vorletzten Aspekt, über den Hammer ein eher unterbelichtetes Phänomen thematisiert, indem er die Rolle von Männern in der Angehörigenpflege anspricht, tauchen hier gewissermaßen zwei komplementäre Perspektiven auf. Durch die langjährige Pflege meines Schwiegervaters und die noch sehr viel länger andauernde Betreuung meiner Schwiegermutter - einmal abgesehen von der Sterbebegleitung meiner eigenen Eltern - ist mir die aktive Seite dieser Medaille mehr als vertraut. Und selbstverständlich hege ich die größte Unsicherheit gegenüber dem, was Eckart Hammer mit Abbau und Abhängigkeit anspricht:

"Wenn im statistischen Durchschnitt um die 80/85 Gebrechlichkeit, Demenz und Pflege anklopfen, dann drohen Abhängigkeit und Kontrollverlust, was die Identität des Mannes zentral bedroht."

Ganz zu Beginn seiner Überlegungen platziert Hammer den Befund, dass die Suizidrate von Jungen und Männern über alle Altersgruppen hinweg immer schon höher als die der Mädchen und Frauen war. Diese Suizidrate macht bei den über 80-Jährigen das Vierfache der Frauen aus: "Wo alles, was die männliche Identität bedeutet, verloren geht, kann der Selbstmord als letzter Akt im Kampf um eine Selbstbestimmung verstanden werden."

Besonders interessiert mich eine Anmerkung Eckart Hammers, mit der er in Erwägung zieht, dass auch die Demenz als ein Bewältigungsmechanismus betrachtet werden könne, um mit schrecklichen und traumatisierenden Erfahrungen umzugehen:

"Die Demenz erlaubt den Zugang zu inneren Welten, die vor allem den heute alten Männern bei klarem Vestand verschlossen bleiben würden. So wird vielleicht die Verarbeitung von Lebensthemen möglich, die wir zur Lebensabrundung und zu einem Sterben in Frieden brauchen."

  • Unterschätzt: Männer in der Angehörigenpflege

In der Tat lese ich bei Eckart Hammer zum ersten Mal, dass alte Männer nicht nur depressiv, dement und pflegebedürftig sind, sondern auch als eine unterschätzte Ressource betrachtet werden müssten:

"Rund 1,8 Millionen Männer kümmern sich, von der Öffentlichkeit weitgehend übersehen, ganz selbstverständlich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen und sind eine tragende Säule der Alterversorgung."

Auch in meiner Wahrnehmung scheinen hier blinde Flecke zu überwiegen. Mit meinem eigenen Engagement in der Pflege und Betreuung habe ich mich immer unter Rechtfertigungsdruck gefühlt. Dass Männer mit ähnlichen Belastungen in der Angehörigenpflege konfrontiert sind wie Frauen, entsprach und entspricht nicht meiner Erfahrungswelt. Und ich habe mein persönliches Engagement immer auch mit wissenschaftlichem Interesse legitimiert: Den unaufhaltsamen geistigen und körperlichen Abbau der Eltern und Schwiegereltern - wie Eckart Hammer schreibt - aushalten zu können; den schleichenden Kommunikationsverlust und die drohende Isolation ertragen zu können, schien mir gleichermaßen unabwendbar wie herausfordernd; mit Ekel, Scham umzugehen schien mir dabei persönlich habituell über ein ganzes, langes Leben gereift zu sein. Schuldgefühle konnte ich auf diese Weise erfolgreich abwehren, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit aushalten. Und ich folge Eckart Hammer in der Schlussfolgerung, dass Männer offenkundig zuweilen einen "bemerkenswerten Umgang mit diesen Belastungen in häuslichen Betreuungs- und Pflegesituationen zeigen". Gleichwohl steckt hinter der Legitimationsfigur des wissenschaftlichen Interesses zweierlei: Mit meiner Art der Dokumentation gelang es mir standzuhalten und gleichzeitig eine Auseinandersetzung anzustoßen mit literarischen und wissenschaftlichen sowie altersbezogenen Auseinandersetzungen gleichermaßen. Dazu zählen das akribische und detallierte Sterbetagebuch meiner Mutter (1924-2003), das Demenztagebuch meines Schwiegervaters (1924-2010) sowie der Versuch, den Weg meiner Schwiegermutter (1923-2020) über die letzten fünf Jahre nicht nur zu begleiten, sondern auch zu dokumentieren. In mehr als 30 filmischen Mitschnitten zeigt sich der Weg aus der (eingeschränkten) Selbständigkeit bis Dezember 2015), in den Versuch hinein ein Arrangement in unserer eigenen Familie zu erreichen bis hin zur Entscheidung die letzten dreieinhalb Jahre in der vollstationären Pflege in einem örtlichen Pflegeheim zu favorisieren. Die Entscheider waren zuletzt wir - meine Frau und ich! Berührend sind dabei - wie Eckart Hammer - bemerkt, in der Tat auch die positiven Aspekte, die trotz der belastenden Faktoren, die zwangsläufig mit einer Heimunterbringung einhergehen, möglich scheinen. Zumindest ich kann für mich resümieren, dass ich meiner Schwiegermutter nie so nahe war, wie unter den einschränkenden und belastenden Rahmenbedingungen der Heimunterbringung.

Ich möchte Eckart Hammers Warnung zum Schluss seines Beitrages nicht verschweigen:

  • Warnung: Die männliche Rolle gefährdet ihre Gesundheit!

"Männer sterben im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre vor den Frauen, was von einem insgesamt schlechten Gesundheitsstatus der Männer zeugt [...] Männer haben ein zweifach so hohes Risiko noch vor dem 70. Lebensjahr zu versterben."

Eckart Hammer meint, diese Übersterblichkeit sei ein Skandalon, das aber immer noch als scheinbar unabänderliches Männerschicksal hingenommen werde:

"Beträfe dies Frauen, wären wohl längst umfangreiche Forschungsförderprogramme aufgelegt worden. Es gibt noch viel zu tun in der (Alt-)Männerforschung!"

 

Bis hierher ist all dies - wie so oft - eine Zusammenfassung von Befunden, ergänzt mit eigenen Erfahrungen und Bewertungen. Dies ändert sich schlagartig, versucht man einmal die von Tobias Brocher formulierten Fragen für sich selbst zu beantworten. Und es ändert sich noch gravierender, wenn wir mit Roger Willemsen uns dabei die Frage stellen, wie wir wohl künftig sein werden. Er regt dazu an, uns die Zukunft aus der Betrachtung unserer Gegenwart und Vergangenheit zuzumuten. Dann werden wir nicht mehr fragen, wer wir sind, sondern wer wir gewesen sein werden. Nachzeitig zu schauen, aus der Perspektive jemandes, der sich seiner Zukunft berauben will, weil sie ihn schauert - "im Vorauslaufen zurückblickend, um sich so besser erkennen zu können, und zwar mit den Blicken derer, die man enttäuscht haben wird" - Roger Willemsen ergänzt resignativ und erschüttert: "Vergleichsweise selten aber versuchen wir, uns im Blick jener zu identifizieren, die kommen und an uns verzweifeln werden (in: Wer wir waren, Frankfurt 2016, S. 24f.)"

  • Wie bin ich nun an diese Stelle meines Lebens gekommen?

Eingedenk der unvermeidbaren Inkonsistenzbereinigungsprogramme, die wir allesamt über die Versuche einer lebenslaufbezogenen Rekonstruktion laufen lassen, versuche ich einmal - eher stichwortartig - kleine Einblicke zu ermöglichen; mir und damit natürlich auch den potentiellen Lesern: Zweifellos gibt es einen inneren Kompass, der mir dazu verholfen hat bei relativer Gesundheit (das ist eigentlich schon understatment) nun schon fast 69 Jahre leben zu dürfen. Der Kompass - da bin ich ganz und gar ohne Zweifel - resultiert einerseits infolge der Gaben, die ich aus meinem Elternhaus mit in die Welt genommen habe - bedingungsloses Urvertrauen und unverbrüchliche Zugehörigkeit.

Andererseits kann ich jetzt schon im Vorgriff auf die letzte Frage behaupten: Ich habe nichts versäumt in meinem Leben. Es gleicht einem Füllhorn, aus dem ich immer - bis auf ganz wenige, umso bedeutsamere Ausnahmen - sehr diszipliniert geschöpft habe. Einen meiner besten Jugendfreunde (bis ins Erwachsenenalter hinein) habe ich an die Nadel verloren. Der sogenannte goldene Schuss war schmutzig, die Umstände zuletzt erbärmlich und herzerweichend. Die letzte Begegnung mit Jopa an der Klimastation hoch über Bad Neuenahr im Frühjahr 1995 war verbunden mit einer Achterbahn zwischen aberwitzigen Hoffnungen und Selbsttäuschungen und der ahnungsvollen, letztlich unabwendbaren Bodenlosigkeit seines Lebensentwurfs. Im Sommer 1995 hat man Jopa auf einem Schrottplatz gefunden, geschunden und erlöst von einem zuletzt vollkommen aussichtslosen Kampf wie gegen Windmühlen.

Ich erwähne dies, weil alle Alkohol- und Drogenexzesse an mir vorüber gegangen sind. Die drei oder vier alkoholbedingten Filmrisse haben meiner Gesundheit nichts anhaben können. Ähnlich wie mein Vater - oder zuletzt auch Schwiegervater - bin ich ein Gelegenheitstrinker geblieben, überaus kontrolliert, immer orientiert an dem, was mir die leibliche Seite - das gelebte Leben - zurückmeldet; eine gewisse Achtsamkeit im Umgang mit mir selbst überwiegt wohl im Großen und Ganzen. Gleichwohl wäre es Aberwitz, anzunehmen all diese Disziplin sei einem preußischen Pflichtethos geschuldet. So erwies ich mich als völlig unfähig mich einzureihen in die coole Haltung der Genussraucher meiner Generation (Willi, mein Bruder war die Inkarnation des Marlboro-Manns-ich rauche gerne) sogar an Versuchen einer über die Pfeife laufenden Selbststilisierung scheiterte ich absolut kläglich. Damals spielte ich noch Fußball (A-Jugend-Sonderrunde). Ich war dazu offenkundig nur in der Lage unter der Maßgabe eines halbwegs gesunden Lebensstils. Das ist bis heute so geblieben!

  • Stimmt mein jetziges Leben mit dem überein, was ich ursprünglich einmal wollte?

Ich beschränke mich auf Bildung, Ausbildung und Beruf. Das Wollen kam spät, aber früh genug - und es hatte vor allem nichts mit einem Sollen zu tun - will sagen: mit unangemessenen Erwartungen des Elternhauses im Sinne von Druck oder Überforderung sah ich mich zu keiner Zeit konfrontiert. Hingegen konnte ich mir aller Unterstützung und Anteilnahme meiner Eltern alle Zeit sicher sein. Daher basiert das nachfolgende Selbstbild vor allem auf einer Haltung der Dankbarkeit und Demut.

Ich bin 1952 geboren worden als zweites Kind von Theo Witsch (in seinen Versicherungs-Papieren wird er definiert als Technischer Angestellter). Von etwa 1949/50 an war er Angestellter im Spielcasino Bad Neuenahr. Als später 1922er (11.12.1922) war er ab 1940 zum Reichsarbeitsdienst (RAD) verpflichtet. Von 1941 bis Kriegsende diente er als Mitglied der 65. Infanteriedivision in Frankreich, Holland, um schließlich die gesamten Abwehr- und Rückzugskämpfe in Italien  - bis zu seiner Gefangennahme durch amerikanische Truppen - zu überstehen. Er kam 1946 relativ früh, aber kriegsversehrt nach Hause. Die Familiengründung, aus der auch ich und mein Bruder hervorgegangen sind - meine Schwester wurde  im Jahr meiner Geburt bereits zehn Jahre alt -, lässt sich an anderer Stelle nachvollziehen -  in den letzten Kapiteln von Hildes Geschichte! Ich beschränke mich hier auf knappe Hinweise mit Blick auf die Bedingungen einer Kindheit und Jugend in die Nachkriegszeit hinein; in die sogenannte Wirtschaftswunderwelt (mehr dazu in: Komm in den totgesagten Park und schau) .

Weder mein Vater noch meine Mutter verfügten über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Das Spielcasino bedeutete gleichermaßen Glück wie Unglück bezogen auf familiale und individuelle Lebensverläufe - uns ging es finanziell recht gut. Mein Vater hat für seine Wehrmachtszeit und die Arbeitsbedingungen im Spielcasino der 50er, 60er und 70er Jahre einen hohen Preis gezahlt - er ist schon 1988 im Alter von 65 Jahren verstorben. Durch sein monatliches Gehalt gehörten wir irgendwann mit eigenem Haus und Auto zur unteren Mittelschicht. Aber was hat jemand meiner Herkunft zu erwarten? Benachteiligung wurde - bezogen auf die 50er und 60er Jahre - von Erwin K. Scheuch definiert als: ländlich, katholisch, weiblich! Okay, ich war ein Junge. Gleichwohl war eine höhere Schule terra incognita. Ihr merkt schon. Der Junge hat nach der Volksschule und einem Jahr verirrter Handelsschulkarriere (der ich immerhin ein perfektes 10-Finger-System verdanke) aus eigener Entschlusskraft, unterstützt durch seine Eltern, ein Aufbau-Gymnasium besucht, das Are-Gymnasium Bad Neuenahr (hier trennte sich im Übrigen der gemeinsame Weg, den ich mit meiner Cousine Gaby bis dahin beschritten hatte. Es ist ein großes Glück, dass wir uns bis heute verbunden sind). Ich durfte Latein und musste Französisch lernen - und ich hatte den Magister Klein zur Gnade (große Dankbarkeit bis heute) - als Deutschlehrer. Ja, ich habe die Allgemeine Hochschulreife erworben, zwei Ehrenrunden eingeschlossen. Ich gehöre zu den Nutznießern des von Willy Brandt ausgehenden gesellschaftspolitischen Umbruchs: Mehr Demokratie wagen mit mehr Chancengerechtigkeit vor allem auch durch eine entsprechende Bildungspolitik (letztlich ist dies der zentrale Grund meines Verbleibs in der SPD bis zum heutigen Tag).

Danach ging es schnell und wurde fast zum Selbstläufer. Ich fand an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz in Koblenz einen Förderer von hohen Gnaden und hoher Reputation (siehe dazu die Einleitungen in Kurz vor Schluss). Heino Kaack verpflichtete mich dazu, die Promotion anzustreben - als einer der ersten an dieser sich dann zu Beginn der 90er Jahre zur Universität hin wandelnden Lehrerbildungsstätte. Er - Heino Kaack - hat auch noch meine Rückkehr an die Universität miterlebt. Kurz vor seinem Tod - leider schon 1998 - rief er mich zu sich in sein Büro. Er hat mir Teile seiner Handbibliothek übereignet, und ich habe ihm noch einmal danken können für seine Unterstützung und sein Vertrauen. Als Akademischer Oberrat habe ich die Uni 2017 verlassen; nach einer für mich ganz und gar nicht erwartbaren beruflichen Karriere. Zu den Wendepunkten - nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht -, sondern auch mit Blick auf den sich nach und nach ergebenden und verfestigenden Persönlichkeitshabitus, bin ich Rudi Krawitz und Reinhard Voß zu großem Dank verpflichtet. Sie haben mir die Ausbildung zum Familientherapeuten an der renommierten Heidelberger IGST ermöglicht - im Vertrauen gesagt, hatten diese drei Jahre der kursbasierten Ausbildung eher den Charakter einer intensiven (Selbst-)Therapie, die mich mitten in der besagten und befürchteten Krise in der Lebensmitte wieder vom Kopf auf die Füße gestellt hat.

  • Was müsste ich heute tun oder verändern, um das erweiterte und veränderte Ziel später auf anderem Weg zu erreichen?

Ich kann mich hier auf wenige Sätze beschränken. Alle erdenklichen Ziele sind erreicht. In den letzten dreieinhalb Jahren haben wir die große Rochade vollzogen. Wir haben das Elternhaus Claudias saniert und umgebaut zu einem vorbildlichen, altersgerechten Wohnprojekt. Mit Hilfe meiner Schwiegereltern, die weit- und umsichtig gehandelt und gelebt haben, haben wir unseren Kindern im vorgezogenen Erbe wohnliche Existenz ermöglicht und gesichert. Ich danke Lisa und Leo - der Eltern- bzw. Großelterngeneration, ich danke meinen Kindern für Kooperation und übergroßes Engagement - ganz besonders danke ich Sebastian für seine planerische und handwerkliche Beteiligung. Beschenkt durch zwei überaus ungewöhnliche Töchter, ist - auch uns - am 8. Mai 2019 Leo geboren worden, und seine Schwester lässt sich wohl die wenigen Tage bis zum 15. Dezember (ihrem prognostizierten Geburtsdatum) Zeit. Das Füllhorn führt weiterhin Regie!

  • Welchen Preis muss ich zahlen, wenn ich meine augenblickliche Lebensweise unverändert fortsetze?

Hierzu fällt mir nichts ein - allerdings bin ich nicht naiv und blauäugig: Aus Heidelberg habe ich die These in meinen Rucksack übernommen: Es gibt keine Probleme - es gibt nur Lösungen, die allerdings haben alle ihren Preis. Die nächsten Fragestellungen werden da brisanter, denn ich weiß etwas über zu zahlende Preise. Ich habe mein Leben für mich in Ordnung gebracht. Dafür gibt es beredte (und leider auch bereits verstorbene Zeugen). Hierzu liest man dann besser die Bernhard Schlinks Abschiedsfarben geschuldeten Reflexionen!

  • Was brauche ich für die nächsten fünf bis zehn Jahre?

Gesundheit! Ich möchte meine Enkelkinder heranwachsen sehen. Und ich möchte auch meine Kinder noch ein Stück des Weges begleiten, der uns sicher vor gewaltige Herausforderungen stellen wird. Zu Corona-Zeiten erweist sich der ganz und gar unschätzbare, gewaltige Wert, den ein intaktes Familiensystem für alle Beteiligten hat!

  • Welche Einsicht ist für mich am schmerzlichsten zu ertragen? Was würde ich heute anders machen und wie finde ich Frieden für unwiederbringlich Versäumtes?

Mit dieser Frage stellt sich die größte und brisanteste Herausforderung. An keiner anderen Stelle überwiegt die Versuchung, bewährten Inkonsistenzbereinigungsprogrammen die Regie zu überlassen. Worin ich den härtesten Schicksalsschlag sehe? Ich hadere bis zum heutigen Tag mit dem allzufrühen Tod meines Bruders. Ich habe mich hier immer wieder auseinandergesetzt. Der Friede, den ich finde, bleibt brüchig und begleitet von immer wieder neuem Hader. Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann)!!! Wir alle sind weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl (Odo Marquardt)!!! Und gleichwohl:

Wahl

Im Kosmos
der Möglichkeiten
bekommt
die Welt ihr Gesicht
durch das,
was sie sein könnte.
Beschreiben wir die Welt
als einen Raum
von Möglichkeiten,
hat unsere Wahl
hohes Gewicht.

Es mag mir Vermessenheit, Hybris, Selbstverkennung, Blindheit vor dem Herrn unterstellt werden: Aber mir fällt nichts ein, was ich versäumt habe. Dies kann aber dann im Umkehrschluss auch nur bedeuten, dass ich (fast) alles getan habe, was Menschen möglich ist. Und Biografie ist kein Spiel! Das heißt, ich würde auch nichts anders machen. Allerdings bringt mich diese Einsicht retrospektiv nahezu um den Verstand. Und die Vorstellung mein Leben - im Sinne eines status quo ante - unwissend und naiv noch einmal genaus so leben zu müssen, erscheint mir schier unerträglich. Es wissend zu tun, käme gar einer lebendigen Idee von (Vor-)Hölle gleich. Ich möchte nicht noch einmal zwanzig sein.

  • Ich möchte nicht neuerlich erleben müssen, die Frau, mit der ich sieben Aufbruchsjahre gemeinsam gelebt und gelitten habe, noch einmal verlassen zu müssen und dabei einer Erfahrung gewärtig zu werden, die man nur literarisch verarbeiten kann, aber niemals als authentisches Geschehen zur Sprache bringen kann, außer in therapeutischen oder seelsorgerischen Kontexten.
  • Ich möchte nicht noch einmal Frau und Kinder verlassen müssen - wohlwissend, dass ich ohne dies nicht wüsste, wie absolut verrückt, wie absolut realitätsverleugnend, wie rücksichtslos, egomanisch und selbstverliebt Menschen zu handeln vermögen. Ich danke Gott und meiner Frau (und meinen Kindern), dass wir uns eine gemeinsame Zukunft bewahren konnten. Und ich danke allen, denen in den Irrungen und Wirrungen dieser Dynamiken möglicherweise der schlechtere Part im Sinne von argen Zumutungen zukam. Aber auch die daran Beteiligten müssen wohl auf ihre Weise lernen, was sie gegeben und was sie genommen haben.
  • Und ich möchte vor allem nicht noch einmal erleben, wie ich allein dort strande, wo alle einsamen Seelen sich wiederfinden - in hohen Bahnhofshallen, wo man eine Ahnung davon bekommt, wie es ist, allein zu sein und es lange zu bleiben, wachend bis zum frühen Morgen, lesend und schreibend lange Briefe an die Glückseligen, die alsbald aus ihrem Paradies vertrieben werden, und die dann unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. Man verzeihe mir diese kryptische Passage. Irgendwann erscheint dann doch noch der Roman, in dem die Lebenssumme bilanziert und geordnet wird. Ich danke also dafür, dass ich jetzt ein Haus habe, auch wenn ich gewiss keines mehr bauen werde.
  • Ich bin dankbar dafür, dass ich meinen Vater und meine Mutter auf ihrem letzten Weg begleiten durfte, so wie meinen Schwiegervater und meine Schwiegermutter; in den Komfortzonen dieser Welt, in denen sich Menschen der Weg zur einer verantwortlichen Haltung wohl nur eröffnet, wenn sie sich einer Pädagogik der Bewährung statt einer Pädagogik der Bewahrung aussetzen und befleißigen.
  • Das Versäumte - wenn es Versäumtes ist - wiegt schwer. Schwerer wiegt die schonungslose Verweigerung, das Nicht-Versäumte, das zu Verantwortende nicht der Gnadenlosigkeit der Inkosistenzbereinigung zu entreißen.

An diesem letzten Punkt scheiden sich die Geister. Aber wenn wir uns schon nicht allein rückwärtsgewandt zu definieren vermögen, so möge doch unser Blick - in die Zukunft gerichtet - ganz und gar nicht verkennen, welche Hypotheken wir mit uns herumschleppen. Kein geringerer als Roger Willemsen, den ich hier abschließend noch einmal zu Wort kommen lassen will, hat uns die entsprechenden Mahnungen als Vermächtnis noch wenige Wochen vor seinem Tod hinterlassen. Ihm - dem von mir hochverehrten Whistleblower von hohen Gnaden möchte ich abschließend die Ehre und das Wort geben:

"Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst (S. 43)." Und Roger Willemsen erinnert uns an jene wenigen, die unseren Planeten von außen betrachten durften. Und ich möchte dem nun folgenden hinzufügen, dass das, was hier für die makrokosmische Dimension gesagt wird, genau so seine Gültigkeit beanspruchen soll für eine Innensicht, die gleichermaßen - im Vorauslaufen zurückblickend - immer damit rechnen muss, den Blicken derer nicht standhalten zu können, die uns nachfolgen, weil man sie enttäuscht haben wird - jene, die uns nachfolgen und für die wir Verantwortung hatten:

"Nichts scheint die ersten Weltraum-Reisenden vorbereitet zu haben auf das, was die Anschauung des Alls in ihnen auslösen würde, demütig und poetisch haben sie sich dem quasi Religiösen einer Erfahrung des Exterritorialen zu stellen versucht und wieder einen ersten Blick geworfen. Einige von ihnen haben für diese Erfahrung das alte Wort 'Ehrfurcht' verwendet, haben im Angesicht der unendlich empfindlichen Hülle der Biosphäre von 'Respekt' und 'Achtung' vor der Schöpfung und vor der 'persönlichen Beziehung' zum 'Heimatplaneten' gesprochen, haben aus diesem Erleben ein Gefühl der Verantwortung abgeleitet und sich in einer tieferen Bedeutung als 'Erdenbürger' erkannt. 'Ich schwebte, als sei ich im Inneren einer Seifenblase', sagte der polnische Kosmonaut Miroslaw Hermaszewski. 'Wie ein Säugling im Schoß der Mutter. In meinem Raumschiff bleibe ich immer das Kind der Mutter Erde'. Es gab Kosmonauten, die auf ihre Reise Musik mitnahmen, aber zuletzt fast nur noch Tonträger mit Naturgeräuschen hörten: Donnergrollen, Regen, Vogelsang. Andere hatten ein Gemüsbeet im All und züchteten Hafer, Erbsen, Rüben, Radieschen und Gurken, strichen mit der Handfläche beseligt über die frischen Pflänzchen oder empfanden tiefe Trauer, als Fische in einem Becken die Reise nicht überstanden. Am äußersten Ende der Exkursion zu den Grenzen des Erreichbaren, die technologische Rationalität mit einer Meisterleistung krönend, entdeckten sie das Kreatürliche, das Spirituelle und das Moralische und kehrten zurück zum Anfang, zum Kind, zum Säugling, der da liegt wie der zusammengekauerte Todesschläfer, der letzte komplette Mensch. Seine Zukunft muss ihm unvorstellbar gewesen sein.

Sie ist es noch (S. 53f.)."

 

 

   
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