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Moritz von Uslar: Wie ist es wohl 50 zu werden? Gewogen und zu leicht befunden - Erinnerungen eines 68jährigen

Heute schreiben wir den 27. Juli 2020, es ist der siebzehnte Todestag meiner Mutter. Ich habe die Erinnerungen an diesen Tag bereits anlässlich des 96sten Geburtstages meiner Mutter vorweggenommen; Geburtstag und Todestag liegen ja nur 24 Tage auseinander. Ich bin unterdessen 68 Jahre alt. 2003 war ich 51 Jahre alt. Mein 50ster Geburtstag ist mir - und möglicherweise auch noch einigen anderen - als denkwürdiges Fest in Erinnerung geblieben,  am 2. März 2002 im alten Café Hahn mit mehr als 160 Gästen, Livebands - wir haben es ordentlich krachen lassen, bis morgens früh um sechs!

Das war die größte Fete meines Lebens, genau zum richtigen Zeitpunkt. Diese Feier - meine Mutter und ihre Schwester waren (noch) mit auf Deck - brachte zum ersten und zum letzten Mal die bis dahin erinnerbaren Lebensalter und Lebenskreise zusammen - ungewöhnlich in der Zusammensetzung und in dieser auch auf gewisse Weise ein Geschenk - ja eine unverhoffte Gnade! Solange ich wach bin, erinnere ich mich - einiges, Bruchteile davon notiere ich, und Bruchteile davon gehen ein in öffentlich zugängliche Spuren dieser Erinnerungsfluten, zuletzt in den durch Botho Strauss' Paare - Passanten ausgelösten Reflexionsschüben. Seinerzeit diesen 50sten Geburtstag  so opulent und ausschweifend zu feiern, verdankt sich jedenfalls einer untrüglichen Intuition. Ich wünsche Moritz von Uslar, dass seine Intuition in auch im Rückblick darin bestätigen wird nicht nur coronabedingt Abstand genommen zu haben von einer vormals geplanten großen Party.

Dazwischengeschoben: 18 Jahre sind -wie gesagt - seit meinem 50sten Geburtstag vergangen. Dass meine Mutter und meine Tante nicht mehr unter uns sind, liegt in der Logik und Zwangsläufigkeit generativer Abfolgen. Dass jedoch das Foto zum Einstieg in den totgesagten Park (siehe Festschrift weiter unten), das die Fünfergang aus Klein-Frankreich im Alter zwischen ca. 8 und etwa 12 zeigt, mich noch als einzigen Überlebenden ausweist, ist zumindest bemerkenswert: Willi, mein Bruder (+1994), Bernd (+1995), Peter-Georg (+2010), Karl Heinz (+2018) - keiner der vier ist mir in die 60er gefolgt. Und wenn ich hier an dieser Stelle einige Namen nenne derer, die damals mit gefeiert haben und zwischenzeitlich verstorben sind, so bin ich  traurig und erschüttert darüber, wie lang diese Liste inzwischen schon ist: Ich denke an: Henry, Peter, Peter- Georg, Karl-Heinz, Achim, Michael, Dieter, Milan, Friedhelm, Hans, Helga, Edith, Jürgen, Marlis, Gerhard, Barbara, Gabi, Klaus. 

Er (MvU) begründet - wie gesagt, nicht nur coronabedingt -, warum er seinen 50sten Geburtstag nicht wie geplant feiert: "Eine Party sollte es geben, mit 120 Gästen, einem großen Abendessen, vielleicht einer Liveband, mit einem DJ, der bei den alten Disco-Klassikern nicht stehenbleibt, sondern auch in den deepen Shit reingeht (Techno)."

Der Text Moritz von Uslars ist allein schon deshalb bemerkenswert, insofern die ZEIT - mein Neffe würde sagen, dieses verspießte, dekadente, neoliberale Scheißblatt - einem ihrer Redakteure gestattet "einige sehr persönliche Erfahrungen und Sichtweisen zu äußern"; die ganze Welt durch das Nadelöhr subjektiven Erlebens zu pressen - und dies alles aus einem Winkel der privilegiertesten Komfortzonen auf diesem Planenten. Als wahren Grund gibt Moritz von Uslar dann auch mit Blick auf seine ganz persönliche Befindlichkeit an, dass er seine eigene Party nicht fühlen konnte:

"Ich begriff schlicht nicht, worauf eine wilde Partynacht in meinem fortgeschrittenen Lebensalter hinauslaufen sollte. Ausflippen, besoffen sein, aufs Herrlichste high sein, tanzen, fremde Leute anfummeln, das Gleichgewicht verlieren, nach der Mitternachtssuppe noch mal richtig Gas geben - das alles ist idealerweise ein Party, und das sind alles Dinge, die bei jungen Menschen wunderbar und bei älteren Menschen, mit Verlaub, ziemlich entsetzlich aussehen können."

Ich hatte mir die Festschrift zu meinem eigenen 50sten selbst geschrieben - über ein ganzes Jahr das getan, was MvU dann auch letztlich von Fünfzigjährigen erwartet und einfordert: "Mit dem Überschreiten des 50. Geburtstages sollte es losgehen, dass der Mann das Leben, das er bis dahin hoffentlich gelebt und erobert hat, ordnet, sortiert, bewertet und damit in den Griff bekommt. Kurzformel: weniger teilnehmen und weniger wirken wollen, öfter einfach nur beobachten, es gut sein lassen."

(MuV ist im übrigen auf der Höhe der Zeit, auch wenn immer nur vom Mann die Rede ist - er ist ja ein Mann, der sieht: "In der Disziplin des Älterwerdens sind Frauen eine Gruppe für sich, sie haben ihren eigenen, am besten von einer Frau verfassten Text verdient.")

MuV hat unzweifelhaft alle triftigen Argumente parat. Wenn du 50 bist - genau so wie MuV -, dann müssen Sätze möglich sein, wie: "Ich habe mich reproduziert (ein Sohn - Hinweis FJWR: MvU hat ja auch schon so einiges hinter sich), ich habe Bücher und Theaterstücke geschrieben [...] Ich habe, zumindest in meiner Branche, einen Abdruck hinterlassen." Wenn daraus allerdings die Schlussfolgerung gezogen wird, für den "Fortbestand der Welt, objektiv gesehen, nicht mehr gebraucht zu werden, dann kann die Idee, genau diese Tatsache - des fünfzigsten Geburtstages vermittele "eine ganz neue Freiheit des Denkens und des Handelns" auch schon einmal zu einer Luftnummer geraten. MuV fragt - eher en passent -, was denn wohl "mein Mitte 80-jähriger Vater (der Link lohnt sich wirklich! Verf.) zu seinem 50-jährigen Sohn sagt?" Immerhin meint der Vater: "Ab sofort ist es wichtiger denn je, im Denken nicht faul und selbstzufrieden zu sein. Wachbleiben!"

Ja, zum Beispiel Nächte durchwachen! Ich weiß nicht, ob Moritz von Uslars Mutter noch lebt. Wenn ja (und der Vater lebt ja noch), möchte ich ihm gerne mit Susanne Gaschke (Die Zukunft der Liebe - Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der Doppelmoral", in: ZEIT, 1/99) zurufen: Jenseits der 50 werden die Fragen, die Erwartungen und Anforderungen drängender! F A M I L I E  rückt stärker in den Vordergrund!

"Vor dem Unausweichlichen dürfte niemand ausweichen: Die liebevolle Fürsorge für Kinder und für alte Eltern, mit anderen Worten, dürfte nicht allein von der Lust oder Unlust der Jungen und Starken abhängen. Gleichzeitig wäre es verboten, das Partner einander ihr Privatleben aufdrängen, um sich moralisch zu entlasten; und ebenso verboten wäre, natürlich, das Kreuzverhör."

Auch Dirk Baecker hat sich daran versucht, prospektiv einmal danach zu fragen, welche Bedeutung und Struktur Familie wohl in der nächsten Gesellschaft haben könnte - Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt 2007 - Familienglück (S. 191-205)

  • „Mit der Strukturform und Kulturform der Gesellschaft ändert sich auch die Aufstellung der Familie. Sie gehört zu den Einmalerfindungen der Gesellschaft. Sie ist in ihrer Funktion der Bereitstellung eines Schutzraumes für die Aufzucht des Nachwuchses der Gesellschaft ebenso unverwüstlich wie unverzichtbar, auch wenn andere gesellschaftliche Einrichtungen, vor allem die Kirche, die Schule und die Politik, partiell oder total mit dieser Funktion zu konkurrieren versuchen können. Die Familie ist der Ort, an dem man geboren wird, aufwächst und stirbt, so sehr man dann auch zeit seines Lebens damit zu tun hat, die Grenzen dieses Ortes kennenzulernen, auszuloten und zu überschreiten (S. 191)."
  • „Für die nächste Familie ist es sicherlich nicht sinnlos, von einem Repertoire der Möglichkeiten des Familienlebens und auch von Schemata der Familiengründung und von Skripten der Kindererziehung und Altenversorgung zu reden. Aber dominieren wird der Eindruck der Vielfalt… Man wird also, so viel ist sicher, noch viel weniger wissen als bisher, worauf man sich einlässt, wenn man eine Familie kennenlernt. Das erhöht Reiz und Risiko des Einheiratens nicht unerheblich. Und man wird noch weniger wissen als bisher, wann man es bereits mit einer Familie und wann mit einer Clique, einer Wohngemeinschaft, einem Team oder einer Projektgruppe zu tun hat. Man wird jedoch als Form der Bewältigung dieser Ungewissheit wissen, dass man es genau dann mit einer Familie zu tun hat, wenn man auf Leute stößt, die Verantwortung dafür übernehmen, wie der andere geboren wird, lebt und stirbt (S. 205).“

Vielleicht kommt es ja nicht von ungefähr, dass MvU beispielweise Professor Christoph Englert zu einem seiner Kronzeugen macht - immerhin hat der mit 58 den Ironman auf Hawaii absolviert. Den Höhen und Tiefen, den Irrungen und Wirrungen des Lebens setzt Englert eine klare Leitlinie entgegen:

MvU notiert aus einem Telefonat mit Christoph Englert: "In seinem Leben habe immer das Gleichgewicht eine Rolle gespielt, also das Bestreben, die verschiedenen Aspekte des Lebens - Frau, Kinder, Mitarbeiter, den Sport, Körper und Geist - miteinander in Einklang zu bringen."

Das allerdings hört sich doch sehr nach einem easy going an.

Kleine Randbemerkung: Auch in den Piagetschen Entwicklungsvorstellungen bleibt die Äquilibration - das Erreichen eines stabilen Gleichgewichts - immer (nur) Zielgröße. Aber zwischen Assimilation und Akkomodation versuchen wir, wenn auch nicht hilflos, so doch häufig genug - hoffentlich ausgestattet mit einem soliden Erfahrungsschatz - um Orientierung ringend, auf dem Fluss des Lebens Kurs zu halten. Ist das nicht so, dann kann das Erreichen der 50 auch schon mal mit dem Vitalitätserleben von Hundertjährigen verwechselt werden.

"Fünfzigsein eine Zeit der Gnade: noch beweglich sein, aber kein Land mehr erobern müssen. Konkrete Ziele, die natürlich immer etwas Lächerliches haben: Ich möchte Italienisch lernen, um noch flüssiger Witze machen zu können mit den Jungs in meinem italienischen Stammlokal."

Hier springt das, was MvU selbst die "Alterspubertät (früher Midlife-Crisis)" nennt, ziemlich aua ins Auge. Nein, Moritz von Uslar, Sie deuten es ja selbst an: alte Eltern - vielleicht (?) schon erwachsene Kinder (ein Sohn). Ein Jahr nach meiner - ich hatte eine gute Intuition - big, big Fete, begann die strenge Schule des Erwachsenwerdens. Zugegeben: ich hatte da bereits meinen Vater (1988) und meinen Bruder, Willi (1994), zu Grabe getragen. Von 2003 an - meine Töchter und meine Nichten waren 17, 16, 14 und 14 - führten das Sterben, die Demenz und das Alter ganz wesentlich mit Regie in meinem nun aufbrechenden Leben. Und die Ziele erwiesen sich dann - ex post factum - alles andere als lächerlich. Und auch wenn die Zielhorizonte abzusehen waren, behält Odo Marquardt doch gewichtige Argumente in seinem Köcher, wenn er meint, wir alle wären weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Gleichwohl hat unsere Wahl hohes Gewicht! Dies gilt sowohl in der Frage, wie wir in verantwortlicher Haltung unsere Kinder und wie wir unsere alten Eltern begleiten.

Der Sandkasten, in dem MvU sich bewegt, spielt ihm dann noch die Förmchen in die Hand, mit deren Hilfe sich nette Liebesküchlein backen lassen:

"Gibt es jetzt, so knapp vor dem 50. Geburtstag, noch etwas übe die Liebe zu sagen? Nur so viel: Die wilde Verzweiflung, die sie früher hatte, weicht auch hier einer stillen Genügsamkeit. Sie, die Liebe muss nicht klappen. Sie ist, findet sie gegen alle Wahrscheinlichkeit dann doch statt, das denkbar schönste Geschenk."

Auch hier möchte ich - im Rückblick, wie gesagt, der siebzigste Geburtstag steht mir vor Augen, MvU uneingeschränkt zustimmen. Aber wenn - wie MvU betont - die 50 auch nicht die neue 30 markieren, so allerdings erst recht nicht neue 70. Das fürsorgliche Finale (Detlef Klöckner) ist da wirklich noch nicht in Sicht. Gerade die Alterspubertät bringt da unter Umständen noch mal einiges durcheinander. Weniger teilnehmen und weniger wirken wollen, öfter nur beobachten, es gut sein lassen, erscheinen dann als wirklich nette Empfehlungen, täuschen aber in der Regel darüber hinweg, dass wir noch mittendrin stecken. Allerdings zielt MvU auf eine alternativlose Haltung, sofern wir alterspubertären Schüben ihre destruktiven Spitzen nehmen wollen. Für eine langes Leben, erst recht für ein langes Paarleben, gibt es keine Blaupausen. Aber das weiß man wirklich immer erst nachher. Schlichte (Selbst-)Beoabachtung reicht da im Übrigen nicht aus. Willst du dir halbwegs auf der Spur bleiben, dann erfordert das - eingedenk aller blinden Flecken zum Trotz - sich immer wieder mal Rechenschaft abzugeben, welche Unterscheidungen (denn deine) biografische Reflexion begleiten und ermöglichen. Wie buchstabiert man Liebe, Sex und solche Sachen denn, wie nähern wir uns dem Alter, dem Sterben, dem Tod und der Trauer? Mit 50 waren es der totgesagte Park (siehe oben), darüber hinaus die Mohnfrau und mit 65 die Idee Kurz vor Schluss noch einmal Rechenschaft abzugeben. Bei all den Versuchen verstärkt sich zunehmend Niklas Luhmanns Idee, dass der Lebenslauf aus Wendepunkten besteht, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Der Kontingenvorbehalt (Wir alle sind mehr unsere Zufälle als unsere Wahl) wird begleitet von dem unstillbaren Bedürfnis, Inkonsistenzen und Widersprüche zu glätten (siehe Luhmanns Skizze zu einer Lebenslauftheorie). Selbst der Lauterste unter uns verfehlt sich, wenn er behauptet den anderen zu erzählen, wie es wirklich war und wer er wirklich ist.

"Aber hey, da waren doch insgesamt so an die hundert Momente dabei, von denen ich im Rückblick sagen würde, ich hätte sie lieber nicht erlebt."

Lieber Moritz von Uslar, es lohnt sich, diese hundert Momente noch einmal genauer zu betrachten. Vermutlich liegen hier die Schätze begraben, die ein Entwicklungsgeschehen überhaupt erst vorantreiben. Und vor allem: Es ist ja nicht zu Ende. Es werden noch so viele solcher Momente kommen. Aber eines ist dabei gewiss. Die Larmoyanz, von der Sie schreiben, wird weniger werden. Vielleicht hängt das mit der Einsicht in die Gesetzmäßigkeit zusammen, dass - wie Sie zu recht bemerken - der Todestag näher rückt, so wie der Tag der Geburt in die Ferne. Die Schlussbilanz steht ja noch aus: "Älter werden bedeutet natürlich auch, Bilanz zu ziehen, und wer 50 wird, der muss, Entschuldigung, auch mal tief Luft holen." Dafür muss man sich im Übrigen nicht entschuldigen. Wird man wirklich alt - so wie meine Schwiegermutter mit unterdessen fast 97 Lebensjahren -, wird es sich erweisen, ob wir den vorletzten Schritt in Erwägung ziehen können. Dies bedeutet die Frage zu beantworten, ob wir uns wirklich aus der Hand geben können; eine Frage, deren Beantwortung mir in der (Selbst-)Beobachtung und der Begleitung der uns anvertrauten (wirklich) alten Menschen mir die größten Schmerzen bereitet.

In der Auseinandersetzung mit Ihrem Text komme ich vorläufig noch zu dem Ergebnis: gewogen und zu leicht befunden. Aber das wird!

Zu guter Letzt mit Arnold Retzer eine kleine Unterstützung beim Nachdenken darüber, was die 50 bedeuten könnten. Der ZEIT würde es nicht schlecht zu Gesicht stehen, wenn sie Moritz von Uslars Beitrag um die Gedanken von Arnold Retzer ergänzen würde, zitiert aus: Arnold Retzer, Miese Stimmung - Eine Streitschrift gegen positives Denken, Frankfurt am Main 2012 (S. Fischer Verlag - ISBN: 978-3-10-064205-9):

Wir werden alle sterben

"Fest steht: Wir alle werden sterben. Die statistische Todeserwartung liegt in Deutschland für Männer etwa beim 77. Lebensjahr und für Frauen etwas beim 82. Lebensjahr. Das Sterben wird mit einer etwas 50%igen Wahrscheinlichkeit im Krankenhaus stattfinden. Bezeichnenderweise taucht der Begriff Todeserwartung in den Statistiken nicht auf, sondern der der Lebenserwartung. Haben wir die Hoffnung, der Tod werde vielleicht schlussendlich doch vermeidbar sein? [...] Bis zum Alter von 25 Jahren besteht für viele das gute Leben im Lernen und täglich neuen und überraschenden Eindrücken. Die 35jährigen verstehen darunter Geldverdienen, Erfolg und Karriere und/oder Familiengründung. Vieles scheint für viele noch möglich. Manche müssen dann aber spätestens ab 50 begreifen, dass man sterben muss und dass man - gemessen daran, worauf man seine Hoffnungen setzte - irgendwie vielleicht doch gescheitert ist. Man ist in der Lebensphase der Herzinfarkte, der gescheiterten Ehen, der Hormonsubstitutionen, des Karriereknicks, der hoffnungslosen Liebe zu dreiundzwanzigjährigen Frauen und der Schlaflosigkeit im Morgengrauen. Manche ziehen eine Lebensbilanz: Es geht zwar irgendwie immer weiter, aber eben nicht mehr schnurstracks in die gute alte Zukunft von morgen und übermorgen. Die Perspektive wechselt. Plötzlich, so scheint es manchem, hat die Biologie die Macht übernommen: biochemische Prozesse, die auch mit noch so viel gutem Olivenöl, Anti-Aging-Therapien, Vitaminpräparaten, Fatburnern, Testosteronsalben oder Entschlackungskuren in Südtirol oder Vorpommern nicht auzuhalten sind.

Wir sind durch unsere enorm gestiegene Lebenserwartung und durch die geringe Kindersterblichkeit verwöhnt oder vielleicht besser: erfahrungsbehindert. Wir können inzwischen lange Zeit ohne den Tod leben, vielleicht sogar mit der Hoffnung, nicht zu sterben. Die Folge: Wir werden immer ängstlicher. Je weniger Erfahrungen wir mit dem Tod machen, umso größer kann die Todesangst werden. Diese Todesangst wiederum kann zur Lebensangst bzw. Lebensverzagtheit führen. Das Leben wird nicht mehr im Angesicht des Todes geführt und genossen. Stattdessen muss man den Tod ständig fernhalten, wodurch der Todesangst aber immer noch mehr stärkende Nahrung zugeführt wird. Ohne den Tod lässt sich einfach nicht gut leben!

Trotzdem ist man hoffnungsvoll versucht, jenen Erschöpfungszustand aufzuhalten, der trotz regelmäßiger Darmspiegelung, Yoga, Fitnesstraining und gesunder Ernährung irgendwann vom Tode beendet werden wird. Erschwerdend zum individuellen Überlebenskampf kommt hinzu, dass der Tod selbst zu einem Problem geworden ist. Den Tod als natürlich, profan und irreversibel zu begreifen ist zwar eine selbstverständliche Erkenntnis der Aufklärung und der Vernunft, aber er steht in scharfem Widerspruch zu den Prinzipien derselben Rationalität: der Verheißung unbegrenzten Fortschritts und der Überzeugung, die Natur in jeder Form beherrschen zu können. Der Tod wird zum  - vielleicht sogar dem - Skandal. Er taucht bei aller aufgeklärten Rationalität wieder auf als der beängstigende Dämon, der durch eine fortwährende Sabotage bewirkt, dass die schöne, gutgetunte Körpermaschine kaputtgeht.

Nach wie vor finden deshalb die unterschiedlichsten Versuche statt, das Paradoxon aufzulösen bzw. des Todes Herr zu werden. Der Kampf ist das verbreiteste Mittel. [...] Der Körper ist aber weiterhin der natürliche und der einzige ernst zu nehmende Feind des Überlebens. In der Tat ein Paradox: In dem Kampf, der das Überleben des Körpers bezweckt, trifft der Einzelne auf eben denselben Körper als seinen Erzfeind. Der Traum vom Überleben macht den Körper zum wichtigsten Angriffsziel. Die persönliche Ungewissheit stärkt die Tatkraft und spornt zum Handeln an. Die Hoffnung ist dabei der wichtigste Energielieferant. Die praktische Betätigung im Kampf mit dem Lebensbedrohenden kann dann vielleicht sogar die Beschäftigung mit dem Tod als dem unausweichlichen Ende vergessen machen. Und es gibt viel zu tun: Sport treiben, vernünftig essen, ausreichend Ballaststoffe zuführen, weniger Fett aufnehmen, Rauch und Raucher meiden, Verunreinigung von Wasser, Erde und Luft bekämpfen. Mit all diesen Praktiken wird das nicht lösbare Problem Tod lösungsorientiert und voller Hoffnung in eine Reihe handlicher Probleme aufgelöst. Altern wird zu einer handhabbaren Angelegenheit. Der unausweichliche Ausgang und Skandal der Anit-Aging-Medizin sieht dagegen anders aus: Jahrelang bereitet man viele kleine optimal zusammengesetzte Mahlzeiten zu, isst zu festgelegten Zeiten, schläft lange in optimal gestalteten Räumen auf optimalen Schlafstätten, walkt nordisch, strecht vorschriftsmäßig und entspannt verbissen. Man schluckt wechselnde Hormone, formt entsprechend den Restkörper, lässt planmäßig alle Vorsorgedaten erheben. Man raucht schon lange nicht mehr, trinkt wenig Alkohol, sorgt aber für eine immer ausreichende Flüssigkeitszufuhr - und stirbt dann eines Tages trotzdem, aber gesund!

Viele Menschen scheinen sich selbst und vor allem ihren Körper in erster Linie als ein Mangelwesen zu empfinden, dessen man sich schämen muss. Nachdem man zunächst geboren wurde, läuft man, je älter man wird, Gefahr, irgendwie geworden zu sein, statt - wie es sich doch überall sonst geziemt - sich regelkonform hergestellt zu haben. Wird dann diese Scham in energisches Handeln verwandelt, wird uns der eigene Körper, wie er uns durch die Geburt, das Leben und die Laune der Natur zugemutet wurde, zur Zumutung, zu einem Zustand, den wir umgestaltend angehen müssen. Schämte man sich in früheren Zeiten, zum Beispiel nach dem Sündenfall, noch seiner Nacktheit, so ist der nackte Körper heute wahrlich kein Problem mehr. Ein Problem ist aber der unbearbeitete oder unzureichend bearbeitete Körper, gleichgültig ob unbekleidet oder bekleidet. Wobei natürlich die Nacktheit die Versäumnisse meist deutlicher hervortreten lässt. Ein Mensch, der sich nach heutigen Vorstellungen korrekt verhält, ist eine Person, die durch hoffnungsvolles Handeln auf sich selbst und ihre Umwelt einwirkt und sich selbst und ihre Umwelt gestaltet. Der Tod bedeutet das endgültieg Ende dieses Gestaltens und daher die radikalste Infragestellung des persönlichen Selbstbildes als handelndes Subjekt. Das gilt nicht nur für die eigene Person, sondern manchmal sogar noch radikaler im Angesicht des Todes anderer. Auch hier erlebt sich der Hinterbliebene als ein Subjekt, dessen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten radikal in Frage stehen. Der Tod wird dann zu einem Problem der Hinterbliebenen, weil sie in ihren Vorstellungen von Machbarkeit und damit in ihren Hoffnungen radikal enttäuscht worden sind (a.a.O., S. 41-45)."

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund