Covid 19 - II - oder: Systemrelevanz
Dieses Mal ist es Robert Pausch, der im Verein mit Elisabeth Raether und Bernd Ulrich (PRU) in einem überschaubaren Fünfspalter auf Seite 3 der aktuellen ZEIT (Plötzlich Elite - 15/20) einen neuen Schlüsselbegriff der öffentlichen Debatte durchbuchstabiert - eigentlich muss man bescheidener konstatieren, dass sie behutsam und brachial gleichermaßen beginnen der Kakophonie in Corona-Zeiten die Agenda abzuringen, um die es fortan und insbesondere in Nach-Corona-Zeiten gehen wird/muss, indem sie den Begriff der Systemrelevanz in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken.
Selbstverständlich teile ich den Artikel mit meinen wenigen Lesern. Da ich aber weiß, dass nicht jeder Zugang zur ZEIT hat, stelle ich den einleitenden Absatz ungekürzt in diesen Beitrag ein:
"Kein Mensch kann mit der ganzen Wahrheit über sich selbst leben, wahrscheinlich nicht einmal mit der halben. Noch weniger kann es eine Gesellschaft, stets müssen Teile der Wirklichkeit abgedunkelt, weich gezeichnet werden, damit die öffentliche Debatte nicht explodiert und letzte Adresse für Klagen und Defizite nicht überstrapaziert wird, also die Politik.
Katastrophen jedoch treiben Wahrheiten hervor, die sich dann nicht mehr so leicht moderierenlassen. Insofern bringt Corona auch eine mentale Erschütterung mit sich, eine intellektuelle, eine emotionale, Zu viel Wirklichkeit in zu wenig Zeit. Plötzlich werden gut gehütete Skandale gewissermaßen fällig, hervorgebracht durch neue Begriffe. Zum Beispiel 'systemrelevant'. Virologen und Ärzte, auf die jetzt die Öffentlichkeit starrt, passen noch ganz gut zu dem Bild, das man sich schon in der vorcoronarischen Gesellschaft von den Wichtigen, den Leistungsträgern machte. Aber Pflegerinnen, Verkäuferinnen, Paketboten, Polizisten, Erzieherinnen, Lastwagenfahrer? Sieh an: Die Elite sitzt also unten. Das sind also die, auf die es ankommt, wenn es ernst wird. Gewöhnlich finden sie aber nur Beachtung, wenn sie streiken oder - das wirksamere Mittel - AfD wählen. Sie sind zugleich auch die, deren Arbeit für sie selbst besonders gesundheitsgefährdend ist und besonders schlecht bezahlt wird."
Meines Wissens liegt die aktuelle Auflage der ZEIT bei etwas über einer halben Million, und ich vermag nicht abzuschätzen, in welchen Ausmaß sie online wahrgenommen wird. Niklas Luhmann vertritt die Auffassung, dass die öffentliche Meinung zugleich ein Medium der Meinungsbildung sei. Es gehe dabei nicht nur - ja nicht einmal primär - um Informationen über Ereignisse, die stattgefunden haben: "Es geht nicht nur um Wissen, sondern vor allem um Beurteilungen [...] Öffentliche Meinung ist demnach ein gleichsam photographisch festgehaltener Zustand eines Systems-in-Bewegung, also, als Prozeß gesehen, das, was sich aus der öffentlichen Kommunikation ergibt und für Weiterverwendung in der öffentlichen Kommunikation angeboten wird (Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt 2000, S. 285ff.)." Sind wir also einmal gespannt auf die nachcoronaren Weiterverwendungsprozesse!
Was bieten PRU an? Fragen, Fakten und Antworten:
- Mehr nüchterne Feststellung als These: "Die Wichtigsten kriegen also am wenigsten?" Vierzehn Tage nach und seit den öffentlichen Dankesbekundungen unterstellt das Autorenteam, schnell solle die Sache mit Gesten wieder zum Verschwinden gebracht werden: In den Stuckdeckenvierteln der Republik trete man allabendlich aus dem Home-Office, um jenen zu applaudieren, die den Laden, wie man jetzt sagt, am Laufen halten. Die den Müll abholten, die Kranken pflegten, die Kinder der Ärztinnen und Ärzte hüteten: "Nun ist Gratissolidarität erste einmal besser als keine Solidarität. Aber nach wie vielen Tagen Ausnahmezustand klingt der Beifall nicht mehr freundlich, sondern höhnisch?"
- Die rückblickende und weit in die Zukunft vorausschauende Frage lautet: "Was genau rechtfertigt, dass ich selbst das Vielfache des Gehalts derer verdiene, die ich beklatsche?" Ich persönlich - aus guten Gründen seit Jahrzehnten (und immer noch Sozialdemokrat) - war in einem spontanen Reflex dazu geneigt, zu sagen: Das ist die Stunde der Sozialdemokratie. Hier kann sie etwas zurechtrücken, was seit Jahrzehnten in Schieflage beharrt. Aber die Antwort auf die von den ZEIT-Autoren aufgeworfene Frage, wann der richtige Zeitpunkt für Verteilungsdebatten sei, ist zweifellos von uns allen zu beantworten. Auch im Luhmannschen Sinne steht sie ganz oben auf der Agenda, da die Krise - wie PRU feststellen - den existentiellen Charakter der Ungleichheit für alle erkennbar offenlege.
- Die alte These Ulrich Becks, Not sei hierarchisch, Smog hingegen demokratisch, befeuert die Frage, ob covid 19 ein Gleichmacher sei, gewissermaßen - wie PRU in den Raum stellen - Sozialismus durch Tröpfcheninfektion? Sie referieren schlicht Befunde aus jüngeren Studien des Robert-Koch-Instituts, wonach sich eindeutig zeigen lässt, dass die Chance, die Pandemie zu überleben, mit dem Einkommen steigt: "Das Virus ist nicht egalitär, es ist selektiv" - und dies entlang unterschiedlichster, aber eindeutiger Parameter: Es treffe Supermarktkassiererinnen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als Software-Entwickler, Hauptschüler eher als Abiturienten. Mein Favorit - mit der Idee ihn ins Langzeitgedächtnis zu übernehmen und die in: Meinen Freundinnen und Freunden und meiner Familie mit Reinhard und Henri J.M. Nouven aufgeworfene Frage, ob wir unser Leben wirklich gelebt haben, wieder aufzugreifen, formulieren PRU folgendermaßen: "Die soziale Frage der sozialen Distanzierung lautet: Ist das eigene Zuhause ein Ort von Privatheit, eine Rückzugsmöglichkeit, oder im Gegenteil gefährlich und deprimierend? Distanz war seit je ein Privileg des Bürgertums. In Ruhe gelassen werden, sich besinnen, zu sich kommen - muss man sich leisten können."
- Die soziale Unterscheidungsdimension wird erweitert und befeuert durch die Feststellung von PRU: "Diejenigen, die in dieser durch ein Virus kenntlich werden Gesellschaft systemrelevant, schlecht bezahlt und besonders gesundheitsgefährdet sind, haben mit hoher Wahrscheinlichkeit noch eine weitere Eigenschaft: Sie sind ganz überwiegend Frauen." Der Frauenanteil in den systemrelevanten Berufen liege bei 75 Prozent. Paradoxerweise liege gerade in der Unverzichtbarkeit ein Grund für die geringe Anerkennung: "Die Arbeit die Frauen leisten, ist so grundlegend, dass man sie nicht wahrnimmt."
- Und nun wieder zur Kernpolitik. W i r w e r d e n e t w a s ä n d e r n m ü s s e n!!! Wir werden etwas ändern müssen an dem kausalen Zusammenhang, dass "die Lieferketten - auch die medizinischen - global organisiert sind, um die Produkte billig und die Profite groß zu machen". Die Frage von PRU lautet knallhart und entlarvend: "War irgendetwas in der Geschichte der Menschheit schon mal so teuer wie die heute fehlende Pflegerin für das Bett auf einer Intensivstation, derentwegen nun ganze Volkswirtschaften drastisch heruntergebremst werden müssen?" Und PRU stellen fest: "So rächt sich - und zwar ökonomisch -, dass die Löhne in der Pflege so niedrig sind und dass es infogedessen auch nicht genug Menschen gibt, die sich das in Kombination mit immenser Arbeitsbelastung antun wollen."
Sytemrelevante gegen Systemvirtuose
PRU stellen fest: Was gestern noch halbwegs logisch klang, wirkt heute ungewollt zynisch. Nochmals Niklas Luhmann:
Niklas Luhmann vertritt die Auffassung, dass die öffentliche Meinung zugleich ein Medium der Meinungsbildung sei. Es geht dabei nicht nur - ja nicht einmal primär - um Informationen über Ereignisse, die stattgefunden haben: "Es geht nicht nur um Wissen, sondern vor allem um Beurteilungen [...] Öffentliche Meinung ist demnach ein gleichsam photographisch festgehaltener Zustand eines Systems-in-Bewegung, also, als Prozeß gesehen, das, was sich aus der öffentlichen Kommunikation ergibt und für Weiterverwendung in der öffentlichen Kommunikation angeboten wird."
Wir w i s s e n also nun dank PRU, dass zwischen den Systemrelevanten und den Systemvirtuosen, zwischen den Wohlhabenden und dem gehobenen Mittelstand einerseits und dem Heer iher schlecht bezahlten Dienstleister andererseits schon länger etwas aus der Balance geraten ist:
- Können bzw. müssen wir uns leisten, dass alle angemessen entlohnt werden und:
- Wer muss verzichten, wenn andere mehr verdienen?
- Der ganze Kreislauf steht in Frage: "die systemische Ausbeutung in unseliger Kombination mit Selbstausbeutung, die für andere die Gewinne in die Höhe treibt".
Sind wir also einmal gespannt auf die nachcoronaren Weiterverwendungsprozesse, dessen, was wir jetzt wissen mit der Mahnung von PRU:
"Es scheint so, als könne sie - die ominöse Gesellschaft -, wenn diese Krise irgendwann vorbei ist, jedenfalls nicht einfach zu einer Normalität zurückkehren, die zu diesem Ausnahmezustand beigetragen hat."