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Danke für Hildes Geschichte (20) - immer mit dem Verweis auf J. Lear - Dankbar? Wofür?
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Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
Erst nach Drucklegung von Hildes Geschichte hatte ich Zugang zu den Auskünften der WASt. Aus diesen Informationen geht hervor, dass Franz Streit nicht unmittelbar nach Rußland zurückverlegt wurde. Er hatte als Anghöriger der 4. Kompanie, dem Panzer-Regiment 39 zugehörig im Juli/August 1941 an den Kämpfen im Raum Smolensk teilgenommen, bevor er dem Reservelazarett Ahrweiler am 15. August 1941 zugeführt wurde. Nach seiner Genesung wurde er dann - nach einem längeren Aufenthalt in St. Pölten der 1. Kompanie der Panzer-Abteilung 212 zugewiesen, die der Heerestruppe in Kreta unterstand. Über Saloniki, Chania gelangte er am 04.03. ins motorisierte Feldlazarett Athen, von wo aus er dann am 17.03.1942 als "garnisonsverwendungsfähig" in die "Heimat, Ersatz-Truppe" verlegt wurde. Am 16. Juni wurde er "dienstfähig" zur Truppe entlassen. Bis dahin war er der "Genesenden-Kompanie Panzer-Ersatz-Abteilung 33, Standort: St. Pölten zugeordnet. Die letzten Zugehörigkeitsdaten beziehen sich vom 31.07.1943 bis zum 23.09.1943 auf die "4. Kompanie des Panzer-Regiments 33 = Feldpost-Nummer: 05474 - das Panzer-Regiment 33 unterstand der 9. Panzer-Division".
Auf diese Weise ist nun klar, dass der faktische Einsatzweg Franz Streits von dem Weg abweicht, den ich in Hildes Geschichte unterstellt habe. Gleichwohl erscheint mir bedeutsam, dass Franz Streit Zeit seines Einsatzes der sogenannten kämpfenden Truppe angehört hat. Davon mag auch die Vielzahl seiner Verwundungen und Erkrankungen zeugen. Insgesamt sind acht Lazarett-Aufenthalte aufgeführt.
Mir liegen keine schriftlichen Zeugnisse (Briefe, Tagbücher etc.) vor. Es verbietet sich Rückschlüsse darüber zu ziehen, wie Franz Streit als mehrfach verwundeter Frontsoldat den Kriegsverlauf, die Kriegsziele und Kriegsereignisse gesehen und verarbeitet hat. Die mehrfach zitierten Zeit-Zeugen (wie Heinz Otto Fausten oder Wolfgang Klafki) hatten Gelegenheit, sowohl ihre Verblendung durch nationalsozialistische Ideologie mit Abstand zu überdenken und einzuordnen als auch einen Weg einzuschlagen, der aus ihrer Verblendung zur Mahnung geriet.
Hilde setzte sich - wie unten zu lesen - mit gänzlich anderen Sorgen und Ängsten auseinander. Und obwohl Hilde ihr Kind in einem Entbindungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) entbunden hat, konnten wir - ihre Kinder - niemals eine Prägung ihres Denkens und Fühlens im Sinne der NS-Ideologie verspüren.
Details
Hildes Geschichte - Franz auf dem Weg an die Front
Franz gelangte pünktlich zum Ersatzgruppenteil in St. Pölten. Er schlief die erste Nacht seit geraumer Zeit tief und fest. Am Morgen des 11. September fühlte er sich frisch und so gut erholt, dass er hätte Bäume ausreißen können. Gut ausgeruht begann die Reise nach Osten.
Franz Streits Division, die 9. Panzerdivision, beteiligte sich am Angriff auf die Sowjetunion als Bestandteil der Heeresgruppe Süd. Bereits am 25. August stand sie fast 700 km tief in der Südukraine und hatte entscheidenden Anteil an der Eroberung der Gebietshauptstadt Dnjeprpetrowsk. Auf der Höhe von Saporoshje hatte man die Energiezentrale am Dnjepr-Staudamm gesichert. In einer Rückwärtsbewegung erreichte die Division am 10. September wieder Kriwoi-Rog, um dann über Krementschug und Mirogorod als Spitze der Panzergruppe 1 südöstlich von Kiew den Zusammenschluss mit der Panzergruppe 2 zu vollenden. Franz Streit erreichte sein Regiment just zu diesem Zeitpunkt und war mit seiner Panzerbesatzung noch an der Einschließung der 5 sowjetischen Armeen im Kessel ostwärts von Kiew beteiligt. Auch die kämpfende Truppe befand sich geradezu in einem Siegestaumel. Wer hätte auch nach Ausmaß und Rasanz der Kesselschlachten von Brjansk, Minsk, Smolensk und der nun erfolgreich endenden Vernichtungsschlacht von Kiew an der von Generaloberst Halder, Generalstabschef des deutschen Heeres, geäußerten Ansicht gezweifelt, dass der Feldzug gegen die Sowjetunion bereits entschieden sei. Ca. 665.000 Rotarmisten geraten in Gefangenschaft, über 3.700 Geschütze und fast 900 Panzer gehen der sowjetischen Armee verloren. Dass das OKW bereits Ende August in einer Adolf Hitler vorgelegten (und in ihrer zentralen These von ihm geteilten) Denkschrift davon ausgeht, dass ein siegreicher Abschluss des Feldzuges gegen die Sowjetunion noch im Jahre 1941 nicht möglich sein wird, erfährt die kämpfende Truppe hingegen nicht. Was das Scheitern des „Blitzkrieges“ für die Wehrmacht (in den nächsten 4 Jahren) bedeutet, die bislang von Sieg zu Sieg geeilt war, kann zu diesem Zeitpunkt noch niemand wirklich ermessen. Innerhalb des ersten Vierteljahres hatte die deutsche Wehrmacht im Ostfeldzug bereits 534086 Tote, Verwundete und Vermisste zu beklagen, 15 % ihrer Anfangsstärke.
So mochte es wenig verwundern, dass Anfang Juli 1941 ein Kamerad, dessen Einheit (46. Infanteriedivision) vom Balkan aus, dem Banat, in Richtung Ukraine verlegt wurde, an Franz unter anderem schreibt: „Auf unserem Vormarsch begegnet uns ein Zug mit Leichtverwundeten. Die Erfolgsmeldungen sind so groß, dass wir befürchten, auch diesmal (wie schon auf dem Balkan) zu spät zu kommen.“ Und an anderer Stelle: „Heute – am 12. 7. ist Ruhetag bei herrlichem Wetter. Ich liege den ganzen Tag in der Badehose auf meinem Schlafsack und lese… Die Werkstattkompanie hat heute Sekt geholt, und da köpfen wir einige Flaschen. Wir freuen uns über die großen Erfolge und trinken auf den Endsieg.“
Noch am 3. Oktober 1941 erklärt Adolf Hitler im Berliner Sportpalast zur Eröffnung des Winterhilfswerks angesichts der großen Erfolge an der Ostfront, „dass dieser Gegner bereits gebrochen ist und sich nie mehr erheben wird“.
Während der Größte Feldherr aller Zeiten wie ein Maschinengewehr stakkatohaft den Sieg des Nationalsozialismus über den Bolschewismus und das internationale Judentum durch die Volksempfänger bellt und den rauschhaften Siegestaumel der jubelnden Massen beflügelt, rauben Hilde ganz andere Umstände den Schlaf. Zwar verging kein Tag, keine Stunde, ohne in Gedanken bei Franz zu sein, in alltäglicher Sorge, wie es ihm wohl ergehen möge, ob er gesund und unversehrt sei und in der stillen Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.
Was sie allerdings zur schieren Verzweiflung trieb, war das Ausbleiben ihrer Regelblutung, ihrer „Tage“, wie Änne das nannte. Änne war die einzige, der sich Hilde früh anvertraute. Und Änne mahnte zur Besonnenheit. Das müsse jetzt noch nichts bedeuten. Es könne sich alles noch „zum Guten“ wenden. Sie beschwichtigte Hilde allerdings unter schlimmsten Vorahnungen. Der eigene Alptraum war auf einmal wieder gegenwärtig, und Änne hoffte inständig, dass das eigene déja vu für Hilde nicht zu einer schrecklichen Gewissheit würde. Hilde selbst führte seit dem 9. September 1941 mehr noch als zuvor das Leben einer zurückhaltenden jungen Frau, die gewissenhaft ihre Pflichten erfüllte. Ihr Hauptaugenmerk, ihr ganzes Sinnen und Trachten war darauf bedacht, in keiner Weise aufzufallen. Die ungeheuerlichen Umwälzungen, die Ausbildung ihrer Persönlichkeit ins Frauliche, die Empfindungen einer liebenden Frau mit zaghaften und zögerlichen Anmutungen ungewisser Zukunftshoffnungen; all dies durfte nicht nach außen strahlen. So überwog angesichts dieser doppelzüngigen und zwiegesichtigen Spannungswelt eine innere Zerrissenheit ohne gleichen.
Schon am Mittwoch, dem 10.9.41, hatte Hilde begonnen, Franz einen Brief zu schreiben. Das Papier hatte sie sich an der Rezeption des „Golden Pflugs“ erbeten und Herrn Broicher auch gefragt, ob sie mit ihrem Namen die Adresse des „Goldenen Pflugs“ angeben dürfe, um so Post „aus dem Felde“ empfangen zu können. Sie habe eine Brieffreundschaft mit einem Soldaten begonnen, und dies würde doch ganz gerne gesehen. Nur ihre Eltern wolle sie damit nicht belasten. Herr Broicher, der als sehr wohlwollender Dienstherr galt, hatte dagegen ganz und gar keine Einwände, zumal er Hilde ohnehin sehr gewogen war.