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Demenztagebuch vom 23. bis 30.5.2007 - mit einer einleitenden Bemerkung

Das Demenztagebuch ist nicht zu verstehen - auch der nachfolgende Hinweis nicht -, wenn man nicht zuvor die Einleitung zum Menüpunkt "Sterbetagebuch" gelesen hat.

Mehr und mehr werden neben Leo und Lisa, Claudia, Laura und Anne regelmäßig Namen auftauchen, die neben den blutsmäßigen verwandtschaftlichen Kernbeziehungen so etwas repräsentieren, wie den wahlverwandtschaftlichen Nexus (der im übrigen Dynamiken unterliegt, die nach dem Motto: nix bleiv, wie et is - aufflackern und wieder verblassen können; etwas, was so im blutsverwandtschaftlichen Kontext selbst schlechterdings nicht vorstellbar ist, weil er auf andere Weise unsere Identität mitbegründet:

Am 19. April 2007 um 00.22 Uhr erreicht mich folgende mail (über meine dienstliche e-Mail-Adresse):

"Hallo Jupp, da ich mich nach so langer Funkstille nicht mehr traue anzurufen, schick mir doch bitte mal Deine/oder Claudias eMail-Adresse. Liebe Grüße Udo. -- Dr. Udo F. Windhövel.

Auch wenn ich mich bemühe, hier ein "Demenztagebuch" zu dokumentieren, sind die über Jahre geschilderten Entwicklungen genau so wenig abzutrennen, von den Beziehungsdynamiken, die wir innerhalb unserer jeweiligen Kernfamilien einerseits wie im wahlverwandtschaftlichen Kontext andererseits mitgestalten und erleben.

Demenztagebuch 23.5.2007:

Jetzt habe ich mir in der Qual der Wahl die mit Abstand teuerste und edelste Kladde angeschafft, die ich jemals für meine Tagebuchaufzeichnungen verwendet habe - sündhaft teuer, fühlt sich an wie echtes Leder. Das verpflichtet - man mag es schon erkennen an der Sorgfalt, mit der ich mein Schriftbild in die Pflicht nehme. Das habe ich ja schon des öfteren versucht und immer wieder darauf hingewiesen, dass sich in meiner Schrift mein Seelenleben widerspiegelt. Nachdem was ich sehe, müsste das vom Feinsten sein - gefühlt erscheint es mir allerdings relativ beschissen. Und ganz offensichtlich fehlt mir wieder einmal der Mut, mich damit ernsthaft, selbstbewusst und aufrichtig auseinanderzusetzen.

Ich habe, wie so häufig, eigentlich kann man sagen wie immer zu viele Baustellen; keine läuft wirklich erfolgreich und befriedigend oder wenigstens zufriedenstellend. Es fällt mir schwer einen halbwegs zutreffenden Blick, eine halbwegs angemessene Perspektive zu entwerfen; obwohl das letzte verlängerte Wochenende mit der Fahrt nach Freiburg recht angenehm verlaufen ist. Es gibt immer wieder die Vorstellung, den Job mit mehr, mit noch mehr Job-Mentalität zu beherrschen und vor allem: den Heyerberg mit Leo (mein Schwiegervater) endlich in eine beherrschbare und händelbare Ordnung zu überführen.

Gegenwärtig zeichnet sich ab, dass ich mir eine mehr oder weniger tägliche - wenn auch überschaubare - Präsenz abnötige. Ausgehend von den letzten drei Wochen muss man natürlich versuchen, wieder auf den Teppich des Machbaren zu gelangen. Eingestellt hat sich unterdessen eine Erwartungshaltung, die mich eigentlich jeden Abend in ein einmal eingeführtens Ritual einbindet:

  • Gegen 20.30 Uhr auf den Heyerberg gehen (ein Gehweg von fünf Minuten), dort mit Leo in einer halben bis dreiviertel Stunde ein Bier trinken und ihn dann für die Nacht fertig machen.
  • Letzteres kann Lisa, meine Schwiegermutter ganz schlicht alleine nicht mehr. Toilette und das Anlegen der Nachtpampers erfordern gleichermaßen Fingerspitzengefühl wie handwerkliches Geschick.

Das heißt: der Abend ist zerschnitten und eine Planung für den ganzen Abend ist nicht möglich. Am Wochenende ist dies nicht so problematisch, weil man ja ab 21 bzw. 21.30 Uhrplannen kann. Claudia hat heute mit der Caritas "gedroht", weil sie meine "schlechte Laune" auf diesen Zustand zurückführt. Mit einem hat sie ja Recht: Der Ausgangspunkt für die jetzige Situatiion war Leos erbärmlicher Zustand vor ca. vier Wochen. Aus der Not ist nun eine Tugend geworden, die ganz offensichtlich nicht in ein pragmatisches Konzept passt, das eher auf externe Versorgung setzt. Katrin (Katazina), unsere Pflegekraft aus Polen, die wir seit April sozialversicherungspflichtig beschäftigen, arbeitet auch so schon weit mehr, als sie "tariflich" müsste. Sie beginnt ja morgens schon zwischen 7.00 und 7.30 Uhr und ist dann eigentlich bis abends  um 19.00 Uhr präsent. Das sind natürlich summa summarum ca. 12 Stuncen pro Tag! Zwar keine Schwerstarbeit, aber gebundene Zeit.

Hinter den Geplänkeln, die sich so ergeben, steckt die grundsätzliche Frage, wie es weitergehen soll? Soeben (18.30) ist Claudia - ein wenig angesäuert - zu ihrem inzwischen ein wenig vernachlässigten "Kieser-Training" gefahren, und ich habe mich gegen den Gang mit Biene über den Heyerberg entschieden und habe diese neue Kladde begonnen. Es ist aber ganz fraglos so, dass ich nicht wirklich an das herankomme, was mich da umtreibt. So ein Blödsinn, nicht wahr?! Wie kann ich irgendetwas nicht sehen (wollen), was mich doch eigentlich umtreibt? Natürlich ist es die drängende Frage, ob alles richtig ist, wie es ist, und ob alles so weitergehen soll, wie es nun mal läuft. Und dann kommt Claudias Idee gerade Recht, in den Wackeler, unsere Stammkneipe zu gehen, um ein wenig Abstand zu gewinnen - immer wieder einmal, bis es zum Ritual wird.

Demenztagebuch 25.07.2015:

Über das Vergessen: Manche sprechen dem Vergessen eine eminent bedeutsame psychohygienische Funktion zu. Offensichtlich ist das Vergessen eine notwendige Voraussetzung für eine offensive und halbwegs unbefangene aktive Lebensführung und -gestaltung; freilich flankiert durch pointierte Akte des Erinnerns - Erinnern ist selektives Vergessen. Mit Hilfe des Erinnerns können wir das Vergessen als einen bewusstseinsfähigen Akt begreifen, wodurch es offensichtlich möglich ist, der Vergangenheit so etwas wie Struktur und Konturen zu verleihen. Was uns dabei leitet und lenkt, beschäftigt primär die Psychotherapeuten, die häufig Hilfestellung leisten bei dem Versuch, dem gelebten Leben im Sinne der Spuren, die es im sozialen System hinterlässt, eine erträgliche und gegenwartsverträgliche Kontur/Färbung zu verleihen. Viele behaupten auch, die Demenz sei die radikalste Form des Vergessens mit einer umfassenden, Erinnerung zunehmend ausschließenden Schutzfunktion. Soll ich so etwas glauben und in Erwägung ziehen? Plausibel im Sinne einer Ausschließung dessen, was in Phasen der intensiven, alle Energie und Aufmerksamkeit beanspruchenden vita activa ohnehin der Verdrängung anheim fällt, erscheint diese Annahme durchaus Sinn zu machen. Zumindest bezogen auf Leo, meinen Schwiegervater, ist es eben nur schwer vorstellbar, dass er sich in einer Haltung der Muße und Gelassenheit mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert hätte. Was früher einem fortgesetzten Akt der Verdrängung ausgesetzt war, fällt heute dem schlichten Vergessen zum Opfer. So erscheint mir Leo als jemand, der mit den Resten von Orientierung, die allerdings dem fortschreitenden Verfall ausgesetzt sind, ein Minimum an sozialen Kontakten noch erlebt und praktiziert. In seinem Bewusstsein bzw. in das, was reflexartig davon für uns über Kommunikation in Erscheinung tritt, spielt außer "uns" niemand mehr eine Rolle. Und was bedeutsam ist, konzentriert sich darüber hinaus auf wenige Fotos und damit verbundene Erinnerungsstützen. Parallel hierzu ist ein zunehmender Verlust dessen zu beobachten, was man implizites Wissen oder auch Alltagswissen - samt der damit verbundenen Kompetenzen und Fertigkeiten - nennen könnte. Dies geht von kognitiv anspruchsvollen, an Feinmotorik gekooppelten Operationen (Schreiben) bis hin zu ganz alltäglichen Verrichtungen (Pinkeln).

Aktuelle Anmerkung vom 8. Dezember 2015:

Die Auslassungen zum Gedächtnis als selektives Erinnern und Vergessen ist unabdingbar an Selbstzensur und Inkonsistenzbereinigungsprogramme gekoppelt. Bei meiner Schwiegermutter - Leos Frau und Claudias Mutter und die Großmutter unserer Kinder -, die unterdessen im Alter von 92 Jahren oben licht und unten halbwegs dicht - wie man bei uns im Rheinland sagt - noch alleine auf dem Heyerberg lebt, sind es radikale Bereinigungsprogramme, die alle Erinnerung - zumindest die, die sie kommuniziert - filtert und alles Konflikthafte tilgt. Bei mir sind es Vorkehrungen, die auch dieses Demenztagebuch einer klaren Bereinung unterziehen, um es in einem Raum von Kommunikation vor allem mit den bedeutsamen Anderen auch als Chance zu erleben.

Demenztagebuch 29./30.5.2007:

Ein intensives, verlängertes Pfingstwochenende; zum dritten Mal innerhalb von vier Wochen besucht uns ein alter Freund - Samstag, Sonntag, Montag. Am Samstagabend gemeinsames Essen mit R., sonntags bei angenehmem Wetter die obligatorische Wanderung nach Winningen mit Rast an unserem Lieblingsplatz und Einkehr in der "Hoffnung"; montags bei Regenwetter immerhin Hundespaziergang bis zum Ausblick "Über'm Rath; gemeinsames Mittagessen mit Leo und Lisa, am Nachmittag noch Besuch von Ulla, meiner Schwester. Der Ertrag? Exorbitant! Es sind Orgien der Selbstvergewisserung in schwierigem Gelände. Man sieht sich mindestens zwei Mal im Leben. F. befindet sich auf dem Weg aus der eigenen Familie - Ende Juni wird er eine eigene, kleine Wohnung beziehen. Er sucht die räumliche Trennung von seiner Frau und unternimmt den Versuch, in Verantwortung der Familie gegenüber Haus und Wohnung zu erhalten. Hier in Güls entsteht - fast in ritualisierter Form - eine Viererbande. Sie vermittelt ein Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen bzw. Vertrautheit bei gleichzeitiger Desillusionierung was die Frage betrifft, unter welchen Bedingungen und wie (Paar-)Beziehungen überhaupt funktionieren können.

"Alles, was uns begegnet, lässt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei; doch ist es gefährlich, sich davon Rechenschaft geben zu wollen                 (J.W. von Goethe)."

Das könnte doch - nein, das ist der überzeugendste Leitsatz zu meinem gesamten Tagebuchunterfangen. Schlicht ist die Feststellung - ähnlich wie in Hartmut von Hentigs Versuch einer Reformulierung des Bildungsbegriffs; warnend hingegen erhebt Goethe seine Stimme im Hinblick auf den Versuch, (sich) Rechenschaft ablegen zu wollen. Im Sinne von Niklas Luhmanns Lebenslauftheorie gerät ein solches Unterfangen unabdingbar unter den Einfluss von umfassenden "Inkonsistenzbereinigungsprogrammen". Wer sich einlässt, gewinnt - ganz gleich wie selektiv er auch vorgehen mag - einen Blick auf das, was ihm begegnet (ist). Das "Gefährliche" ergibt sich aus dem Gewahrwerden von "Inkonsistenzen". Kognitive und emotionale Dissonanzen und das Berühren/Verletzen von Tabuzonen bergen jenes Irritationspotential, das immer auch geeignet ist, unsere Denk- und Fühlwelt aus dem Lot zu bringen. Zu fragen: "Wer bin ich, und wenn ja wie viele?" Diese Fragestellung muss erst erworben und zugelassen und auch ausgehalten werden, bevor sie möglicherweise zu einer basalen Ressource einer Lebenshaltung wird. Wer sich auf "Rechenschaft", wer sich auf das Führen eines Tagebuches einlässt, entgeht nicht den Widersprüchen und Ungereimtheiten seines Denkens, Fühlens und Handelns. Gleichermaßen unterliegen diese modi operandi einer immer auch eigensinnigen autologischen Dynamik, die wir zumindest in unserer Außendarstellung auch zu beherrschen versuchen; allenfalls Verliebte oder debile Grenzfälle gehen hier gnädiger mit sich um.

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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