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Lieber Bert, kann man das Ende verschieben oder gar aussetzen?

Ich bin inzwischen 63 Jahre alt und habe im steten Leben ein unstetes geführt. Dankbar bin ich allen bedeutsamen anderen dafür, dass mit zunehmendem Alter ein stetes Leben die Planken findet, an denen Orientierung möglich ist. Ihr wisst, wie sehr ich Niklas Luhmanns Sicht folge, wonach der Lebenslauf eine Form darstellt, dessen Elemente aus Wendepunkten bestehen, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Vor mehr als 20 Jahren ist jener Wendepunkt zu markieren, in dessen Folge - vor allem im Rückblick - eine Fokussierung auf Wendepunkte einsetzt, immer verbunden mit der Frage, welche Ressourcen, welche Formen von Resilienz, die Wende (m)eines Lebenslaufs an einem jeweiligen Tiefpunkt ermöglichen. Gunthard Weber war mir ein wichtiger Begleiter in der tiefsten Orientierungslosigkeit. Ihm ist zu danken, dass aus den Hellingerschen Einsichten keine Ideologie geworden ist, sondern eine Haltung, wie sie am Ende im "Rasthaus" (siehe "Hildes Geschichte", S. 3 und 4) sichtbar wird:

"Wie er so dasitzt, fühlt er sich wohl in seinem Haus und weiß sich eins mit allen, die kamen und kommen und brachten und bringen und blieben und bleiben und gingen und gehen. Ihm ist, als sei, was vorher unvollendet war, nun ganz; er spürt, wie ein Kampf zu Ende geht und Abschied möglich wird. Ein wenig wartet er noch auf die rechte Zeit. Dann öffnet er die Augen, blickt sich noch einmal um, steht auf und geht."

Der Kampf ist zu Ende, aber ich warte noch ein wenig, bevor ich gehe. Mein Platz ist in meiner Familie an der Seite meiner Frau. In der liebevollen Zuwendung wandeln sich die Sorge und die Fürsorge für die Kinder. Die (Schwieger-)Mutter erfüllt uns nach dem Tod meiner Eltern und dem Tod des Schwiegervaters (siehe im Menü "Sterben, Tod und Trauer" das Untermenü "Sterbebegleitung und Totenreden") mit der liebevollen Sorge und der Fürsorge für ein würdiges Ende.

Aber mein Leben im Wandern durch die Straßen meiner Heimat offenbart - wie könnte und sollte es auch anders sein - ein gerütteltes Maß an Ungleichzeitigkeit. Wandern Eltern und Kinder nicht im Gleichschritt durch die Welt, so tun es auch nicht Paare.

Und heute möchte ich mich mit Bert Hellinger - vermittelt durch Gunthard Weber (Zweierlei Glück, Heidelberg 1997, S. 142) - an etwas erinnern, was ich vor dem Ende - und noch vor dem Ende des Endes - als eine meiner zentralen Entwicklungsaufgaben erfahren habe - in Wiesloch, im Rathaussaal 1998 in einer intensiven Aufstellungswoche unter der Leitung von Gunthard Weber. Ich habe mich damals nicht nur verabschieden können von meinem Bruder, sondern ich habe gelernt, Abschied zu nehmen von meiner  Geliebten, ihr zu danken, sie gehen zu lassen und fortan meinen eigenen Weg zu gehen. Der Dank für ein erfülltes, an Liebe reiches Leben gilt bis heute meiner Frau, die ich liebe, aber nicht verstehe. Dies ist vermutlich auch gut so, denn bedingungsloses Verstehen würde den Wärmetod bedeuten. Alles Verstehen ist differenzabhängig - ist die Differenz zwischen Information und Mitteilung. Insofern enthält mein folgendes Gespräch mit Bert Hellinger und Gunthard Weber wohl auch Informationen. Aber durch die Mitteilung in einem bestimmten Kontext durch mich als denjenigen, der diese Mitteilung aus seinem intransparenten Bewusstseinskosmos in die Welt der Kommunikation entlässt, bleibt sie diffus - stößt einen Transformationsprozess bei jenen an, die lesen - einen Transformationsprozess, dessen Regeln unklar und dessen Effekte unberechenbar bleiben:

Lieber Bert (Gunthard hats aufgeschrieben), warum suchen so viele Menschen im Trennungsgeschehen nach der Schuld oder dem Schuldigen?

"Sobald ich eine Schuld ausmache, habe ich die Vorstellung oder Illusion, ich könnte etwas tun oder der andere oder ich bräuchten sich nur anders zu verhalten, und alles wäre gerettet."

Lieber Bert, das klingt doch eigentlich logisch. Wir sind doch grundsätzlich der Auffassung, dass man durch sein Handeln, die Dinge und die Prozesse zum Guten hin beeinflussen kann. Siehst Du das denn anders?

"Ja, die Größe und die Tiefe der Situation wird verkannt und verlagert sich auf die Schuldsuche und Vorwürfe, die man sich gegenseitig macht."

Lieber Bert, gibt es denn für solche ausgweglos erscheinenden Verstrickungen dennoch Lösungen? Oft ist es doch so, dass dann auch Sündenböcke gesucht werden, für etwas, was nicht mehr zu ändern ist?

"Ja, die Lösung ist, dass sich beide der Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden und alles, was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen."

Und was ist mit der Wut, die beide oft ergreift und die ihre Kommunikation so scharf und unversöhnlich erscheinen lässt?

"Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz und die Trauer."

Lieber Bert, ich danke Dir für dieses Gespräch.

 

Und was machen wir jetzt mit Berts Hinweisen? Sie scheinen ja eher folgenlos im Sinne meiner Wünsche zu bleiben. Und so laufen wir weiter in den alten Latschen und neue Schuhe sind nicht in Sicht!

(Die metaphorischen Anregungen zum Schuhwerk verdanke ich Steffen Zink - er hat sie in einem anderen Kontext mit einer Freundin ausgelotet. Sein Bericht darüber hat mich inspiriert)

Ich kann mich erinnern, dass mein Schwiegervater bis an den Arlberg gefahren ist, um sich von den Schi-Schuh-Experten Strolz Maßschuhe anfertigen zu lassen. Aber alles hat Grenzen und wenn per pedes nichts mehr geht, dann hilft vielleicht der Rollstuhl! Warum ich zwar Glück wünsche, aber nicht mitfeiern kann:

Wir schreiben heute (noch) den 8. Juni. Morgen feiert ein alter Freund seinen Geburtstag. Ein gut Stück des Weges der letzten 9 Jahre sind wir gemeinsam gegangen. Es war ein Weg mit Höhen und Tiefen, kein vorgespurter Weg, kein Trampelpfad. Der Weg entstand beim Gehen, und wir haben manches Schuhwerk verschlissen. Wir haben sogar einmal die Schuhe verwechselt - nicht den rechten mit dem linken, sondern wir sind in der Dämmerung des neuen Tages sogar in die verkehrten Schuhe geschlüpft. Aber immerhin haben wir bemerkt, dass wir in des Kaisers neuen Schuhen nicht voran kamen, dass wir uns eine fette Blase liefen und unsere Füße zu verkrüppeln drohten.

Denn ein gutes Schuhwerk ist wie eine zweite Haut, es schmiegt sich an und gibt nach, wenn der Druck zu groß wird. Aber immer bietet es Halt und schützt uns gleichermaßen vor spitzem Stein und tiefem Morast. Mit festem Tritt erlaubt es den Aufstieg aus den Niederungen des Eros in die Höhen von Philia und Agape - vielleicht. Denn auch mit den rechten Schuhen ist man nicht gefeit vor Fehltritten. Der schmale Grat erfordert ein hohes Maß an Vorsicht und Achtsamkeit. Und auch das beste Schuhwerk findet den rechten Weg nicht von allein. Einer von uns trug sogar lange eine Prothese im Fersenbereich. Aber nicht nur er muss nun Fersengeld bezahlen.

Ja, man sieht nur mit dem Herzen gut. Und trotzdem muss man die Augen aufhalten. Viele haben sich in den Bergen schon verstiegen - mit und ohne Rütli-Schwur. Selbst wenn man die Oberstdorfer Sprungschanze (mit dem Motorrad) meistert, bedeutet das noch lange nicht, dass man fliegen kann. Genau so viele haben sich schon in den Niederungen verirrt und rennen sehenden Auges in Einbahnstraßen. Manche davon werden enger und enger - wie weiland im alten Kern von Leutesdorf dann das Blech vor den Mauern kapitulieren musste; der rechte Zeitpunkt zur Umkehr - verpasst!

Auch wenn man die Bergschuhe tauscht gegen leichtes Schuhwerk und nun glaubt der Wahrheit davon laufen zu können - es sind nicht die Schuhe, die den Dienst versagen, sondern es geht einem schlicht die Puste aus, wenn man den Marathon seines Lebens verfehlt - selbst wenn man in tausend Fitneesstunden glaubt, Iron-Man und Iron-Women geworden zu sein. Und wenn wir mit Menschen- und mit Engelszungen redeten, und hätten der Liebe nicht, so wären wir ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Oder: Kindlein, liebet euch, und wenn das nicht gehen will, laßt wenigstens einander gelten. Goethes Aphorismus definiert immer noch das Wesen eines zivilisierten Miteinanders, genauso wie Hochmut immer noch vor dem Fall kommt.

Kehret um, und ihr werdet leben - oder hört auf Berts Worte, auf dass der Schmerz nachlasse. Ich wünsche allen Geburtstagskindern am 9. Juni alles Gute - ganz besonders meinem alten Freund.

Zu meinen eigenen Einsichten, die im vorliegenden Fall auch einer Resignation gleichkommen, noch so viel: Norbert Bolz greift in seiner Totenrede (auf Niklas Luhmann) eine der zentralen Thesen Luhmanns auf, wonach die moderne Gesellschaft nicht durch Vernunft, sondern durch Evolution überlebe. Bereits aus Darwins Forschungsreisen wissen wir, dass die Evolution sich nicht immer als Ko-Evolution vollziehen muss. System-Umwelt-Konstellationen können tatsächlich im Sinne eines Bio-Tops, eines singulären Ortes, Sonderbedingungen für Evolution bereitsstellen (siehe das Beispiel der Galapagos-Inseln) - in sich und für sich repräsentieren sie dann - wie unter dem Mikroskop - Einsichten in systemische, koevolutive Entwicklungsprozesse. Mir persönlich fällt es schwer der Eule (der Minerva - mit Verweis auf die "Luhmann-Lektüren") noch Mut zuzusprechen. Dass sie ihren Flug erst in der Nacht beginnt, und dass bei ihrem Flug zusätzlich mit einer geschlossenen Wolkendecke zu rechnen ist, lässt wenig Zuversicht aufkommen. Auch wenn wir über Nachtsichtgeräte verfügen, lässt die Deutung der gesammelten Daten bislang keinen Silberstreif am Horizont erkennen. Schade eigentlich! Aber Arnold Retzer vermittelt uns ja schon lange die Idee, dass es eigentlich nichts Anspruchsvollerers gebe als wahre Freundschaft. Da sind schon ganz andere dran gescheitert - sogar welche, die Einblick haben in die Eigenart und Besonderheit des Erototop.

So sorgt das lädierte Gefieder der Eule dafür, dass die Nachtflüge einstweilen unterbleiben müssen, und dass ich heute Abend schluchzend im Winkel verharre.

 

 

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund