Zugehörigkeit und Geborgenheit - Eine Reise nach Trostberg
oder: Wie kommt man von einem unlebbaren zu einem weniger unerträglichen Realitätskonstrukt?
Es ist bemerkenswert, dass wir alle mehr denn je einer potentiellen Ungeborgenheit ausgesetzt sind. Und Karl Otto Hondrich verweist zu Recht auf eine Ausgangsbedingung, die uns auferlegt, die Unfreiheit als Kehrseite der Freiheit immer mit zu bedenken: Wenn ein individueller Schritt in die Freiheit zugleich zwei Unfreiheiten hervorbringe, dann sei die Vorstellung eines Fortschreitens der modernen Gesellschaft zur Individualisierung als Befreiung im Ansatz verfehlt. Der Weg in die Freiheit sei immer auch einer in Unfreiheit, Unsicherheit, Ungeborgenheit, einhergehend mit dem Risiko entbunden und entlassen zu werden: auf Märkten, in Unternehmen, in Bildungseinrichtungen, Religionsgemeinschaften, Parlamenten, Parteien, Vereinen. Dieses Risiko, so Hondrichs Hinweis, mag zu verschmerzen sein, solange es Grundgeborgenheit noch in zwei Institutionen gebe, die uns nicht verstoßen dürften, weil wir ihnen durch Herkunft angehören: Staaten und Familien (vgl. Hondrich 2004, 157f.).
"Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft" betrachte ich als "Vermächtnis" des leider schon 2007 verstorbenen gebürtigen Andernachers Karl Otto Hondrich (Frankfurt 2004). Seit ich es - insbesondere "Meine Lieben" (a.a.O., S. 149-177) - in den Mittelpunkt meines Bändchens "Die Mohnfrau" (hier insbesondere S. 25-46) gestellt habe, regt es mich zu einer Auseinandersetzung über individuelle und kollektive Perspektiven in der modernen Gesellschaft an. Zuletzt und in besonderer Weise bot mir dazu eine Reise - gemeinsam mit meiner Schwester - nachhaltige Gelegenheit:
"Angehörigkeit durch Herkunft" vermittelt nach Karl Otto Hondrich eine "Grundgeborgenheit", verbürgt durch Staat und Familie. Das Fehlen dieser "Grundgeborgenheit" vermag nur zu ermessen, wem diese "Angehörigkeit" verweigert wird. Manchmal ist es "nur" das Wissen um Herkunft, das verweigert wird. So ist es lange geschehen in meiner Herkunftsfamilie, die in ihren genealogischen Zusammenhängen für mich und meinen Bruder immer fraglos und transparent erschien; wir wussten und spürten, wer unsere Mutter und wer unser Vater war. Anders verhielt sich dies bei unserer Schwester, die - zehn bzw. 13 Jahre älter - allein schon aus diesen Altersrelationen heraus, irgendwann begann - zuerst sich selbst und dann auch anderen - Fragen (siehe dazu das Interview mit sabine Bode) zu stellen:
"Wie und durch wen bin ich in diese Welt gekommen, wenn Du, liebe Mutter bei meiner Geburt erst 17 Jahre alt warst, und ein Vater (sich) - bei allem Insistieren - nicht (zu) erkennen, zu identifizieren gab/war?"
Alle diesbezüglichen Fragen sind - zuletzt durch Mutters Mithilfe - beantwortet worden (siehe "Hildes Geschichte"). Die sich ergebenden neuen verwandtschaftlichen und wahlverwandtschaftlichen Konstellationen waren/sind spannend und werfen neue Fragen auf (siehe mein"Gespräch mit Franz Streit"). Durch unsere gemeinsame Reise nach Trostberg vom 9. bis zum 12. Oktober 2014 haben sich viele Fragen auf besondere Weise beantworten lassen. Ich habe jetzt "nur noch" eine halbe Schwester, die einen anderen Vater hat als ich (und unser verstorbener Bruder, Willi). Und meine Schwester hat zu ihren beiden "halben Brüdern" zwei weitere Halbbrüder gewonnen, die ihr - mit ihren Familien (einmal in Trostberg und einmal in der Nähe von Wien) - Zugehörigkeit, Anerkennung und Geborgenheit angedeihen lassen. Das ist eine ungewöhnliche und ganz sicher nicht selbstverständliche Erfahrung: Das in meiner Familie durch meine Schwester verkörperte "Andere", das nuanciert "Fremde" stößt auf "Fremdes" und sucht nach Gemeinsamkeit, nach Verbindendem.
Staunend stehe ich vor der Tatsache, dass und wie sich "Fremde" begegnen, beobachten, befragen - Letzteres eher weniger. Das ist die Rolle, die mir zukommt, manche denken vielleicht, die ich mir angemaßt habe. Die anderen, die Geschwister, die sich nach fast 60 Jahren gefunden haben, lassen von Anfang an erkennen, wie sehr sie schon aufgegebene, kaum noch für mögliche gehaltene Hoffnungen und Entwicklungen begrüßen. Eine vom Leben geprüfte, hartgesottene Schwester trifft auf besorgte Brüder, Kümmerer, die immer um ihr Wohlbefinden bemüht sind. Zu den festen Ritualen gehören gegenseitige Besuche und sonntägliche Anrufe mit wechselnder Telefonhoheit. So ist über die Jahre eine Vertrautheit gewachsen, wie sie leider vielen Geschwistern in "geregelten" Verhältnissen lange verloren scheint. Auf eindrückliche Weise hat sich dies bei unserem gemeinsamen Besuch in Trostberg bestätigt:
Zuvor ein kleiner Exkurs: Bindung - Geborgenheit - Entschiedenheit
Gegen Ende seines Lebens setzt sich Karl Otto Hondrich mit der besonderen Erfahrung der Geborgenheit auseinander: "Solange wir Geborgenheit haben, wissen wir nicht, wie wichtig sie ist; wir wissen nicht einmal, dass es sie gibt." Dieses "Nichtwissen" ist sicherlich eine Bedingung dafür, dass wir - Julia Onken würden sagen vom Eros getrieben - in die Welt drängen: Hondrich formuliert es neutraler und umfassender: "Als Heranwachsender , von Neugier, Lust und Ehrgeiz bewegt, konnte ich Geborgenheit vergessen, es gab genug davon, eher zuviel." Wie viele andere stellt Hondrich im Verlauf seines Lebens allerdings fest, dass sie "aus seinen Sehnsüchten nicht verschwand". Wie sehr sich diese Sehnsucht ausprägt und verdichtet, wie sehr sie unserer Selbstvergewisserung untentbehrlich wird, offenbart sich in Alexander Kluges Resümee, der in der Welt der Postmoderne nach Ankern sucht:
"Sehn sie, wenn die Zeiten sich so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind - wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen... wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern, in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass sie eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen." (Alexander Kluge in einem Interview mit Denis Scheck anlässlich seines 80sten Geburtstags - unter dem gesetzten Link in Gänze!)
Was bewegt Alexander Kluge dazu, dieses drastische Bild vom "Bürgerkrieg bei uns" zu wählen? Den entscheidenden Hinweis gibt er, nachdem Scheck ihn auf ein Gespräch Kluges mit Martin Walser anspricht: Dort beschreibe er, dass er im Grunde schon als Kind versucht habe, die Scheidung seiner Eltern im Jahre 1942 rückgängig zu machen, also ein Widerzusammenkommen zu ermöglichen und weit darüber hinaus eine Art Lebensaufgabe darin zu sehen, als "Friedensstifter" zu wirken. Kluge relativiert sofort und meint: "... unter den Eltern - also nicht im Allgmeinen - ich will nicht mit Verbrechern Frieden haben, aber die Eltern wollt ich gern wieder zusammen haben, und ich würde sie im Elysium doch gerne zusammen wissen."
Die unaufhebbare Bindung verdichtet sich zu einer unstillbaren Sehnsucht nach Geborgenheit!
Meine Schwester, Ulla, hat am 15. März 1988, wenige Tage vor dem Tod ihres sozialen Vaters - meines und Willis Vaters - die Festrede anlässlich seines 65sten Geburtstages gehalten; intuitiv und mit viel Herzblut - immer mit der Botschaft, "einen Besseren als Dich hätte es nicht geben können". In der Tat hat er - unser Vater - seiner Tochter gegenüber diese Vasallentreue, diese unbedingte Loyalität gespiegelt. Er war immer für sie da, er hat sie geschützt, er hat die junge Familie mit seinem ersten Enkel (*1962) nach Kräften unterstützt und war auf diese Weise auch ein hochgeschätzter und geachteter Schwiegervater und Großvater. Der Konflikt war - bei den ersten Regungen, das genealogische Loch zu betrachten und die Ränder zu bestimmen - folgerichtig auch ein Konflikt zwischen Stieftochter und Schwiegersohn, der seiner Frau intuitiv - weil man es nicht besser wusste - Undankbarkeit vorhielt; die Gefahr, das Andenken des Vaters zu beschmutzen. Aber "es gehört zu den Grundrechten des Menschen, dass er weiß, wer sein Vater und wer seine Mutter ist" (Bert Hellinger - siehe dazu vor allem "Abgehängte Decken").
Wie kommen wir nun mit "unserern Müttern und unseren Vätern" (die auch Groß- und Urgroßmütter und väter waren/sind) klar - vor allem unter Umständen, die uns keine Chance eröffnen, Vater oder Mutter (oder gar beide) noch kennenzulernen? Bei Ullas Vater war und ist dies so. Er ist im September 1943, ein gutes Jahr nach Ullas Geburt, gefallen, ohne dass Mutter und Tochter dies erfahren hätten. Erst im Jahr 2000 haben Ullas Bemühungen endlich Erfolg gehabt und ein erstes Licht ins Dunkel gebracht.
Die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, die zugleich Kriegsgeneration war, bekam durch den Film "Unsere Mütter - unsere Väter" in der Veranwortung von Nico Hofmann und durch Bücher beispielsweise von Sönke Neitzel/Harald Welzer (Soldaten, 2011) oder Felix Römer (Kameraden, 2012) neue Impulse. Ich habe versucht sie in "Hildes Geschichte", in meinem Gespräch mit Ullas Vater, Franz Streit, aufzugreifen (siehe auch den Brief an Nico Hofmann). Diese neue Sichtweise der Verstrickungen der Elterngeneration in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft kommt sicherlich spät, aber andererseits zu einem Zeitpunkt, der wenigstens den Kindern und Kindeskindern noch einmal Gelegenheit bietet, die eigene Geschichte im generationenübergreifenden Zusammenhang zu betrachten. Im Falle meiner Schwester hat(te) sie schlicht den Effekt einer Familienzusammenführung zur Folge, die zwar nichts ungeschehen macht, aber ein wenig mehr Licht ins Geschehene trägt und dabei zumindest das geschichts- und gesichtslose Loch füllt, das in seiner Resonanzlosigkeit eine Seite des Lebens meiner Schwester und ihrer Brüder nachhaltig geprägt hat:
Besuch in Trostberg: Seit 14 Jahren besuchen sich die Geschwister im Wechsel zwischen Ahrweiler, Tostberg und Wien. Ich bin zum ersten Mal in Trostberg dabei (habe aber mit Claudia, meiner Frau, Gert - den älteren Bruder, Jg. 1940 - und seine Frau Traudel schon vor Jahren in Wien besucht). Der Empfang ist herzlich und hat etwas von "Selbstverständlichkeit". Das gemeinsame Essen ist Inbegriff des Zusammenlebens - auch und gerade in Süddeutschland, im Chiemgau. In den drei Tagen gibt es Ullas Lieblingsspeisen, vor allem handgemachte Semmelknödel(n) mit Gulasch, Fleischkäse, Weißwurst und Brezzn - und Weißbier. Essen und Trinken verbinden und lösen die Zunge. Nach allen Mahlzeiten sitzen wir zusammen und erzählen. Werner und Heidi sind gute und aufmerksame Gastgeber. Sie leben mit Tochter (Sabine), Schwiegersohn (Uwe) und ihren Enkeltöchtern, Bettina und Anja, in einem Mehrgenerationenhaus. Und auch die zweite (und dritte) Generation, die in Gestalt von Ulla eine Tante bzw. Großtante hinzugewonnen haben, erweisen sich als bereichert und begegnen Ulla familiär. Selbst die "nur" verschwägerte Seite (Heidis Bruder Willi und seine Frau Inge) pflegt eine herzlichen Kontakt zu Ulla - zuletzt bei einem Besuch im schönen Ahrtal und selbstsverständlich auch jetzt bei unserem Besuch in Trostberg.
Ulla führt mich durch Trostberg, und wir beginnen mit einem Besuch des Friedhofs. Dort befindet sich das Grab von Gerts und Werners Mutter. Eine der eindrücklichsten Geschichten erzählt, wie Gerda Streit sich mit ihrer Schwägerin, der "Lieblingsschwester" ihres Mannes überworfen hatte. Nur dem Umstand, dass sich Gerts und Werners Vater seiner Mutter "in Sachen Ursula" anvertraut hatte, und diese wiederum ihre Tochter, die Tante Julie, ins Vertrauen zog, verdanken Gert und Werner die Kenntnis darüber, dass es irgendwo in Deutschland eine Schwester geben muss. Die Tante Julie hatte ihrer Schwägerin in einem Streit Anfang der sechsziger Jahre wohl an den Kopf geworfen, sie solle doch endlich den Franz von seinem Altar herunter holen, der sei ja auch kein Heiliger gewesen. Es gebe da ja wohl ganz sicher noch eine Tochter in Deutschland. Von da an hatten Gert und Werner eine Ahnung, dass es irgendwo in Deutschland eine Schwester geben müsste. Aber da sie darüber hinaus keinerlei weitere Informationen hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Vierzig Jahre später, zu einem Zeitpunkt, an dem dies alles in die Tiefen fernster Erinnerung abgesunken war, meldete sich eine aufgeregte, bis in die letzten Haarspitzen angespannte Frau - zuerst in Mistelbach (Österreich) bei einem Cousin von Gert und Werner, der dann endlich die finale telefonische Verbindung zu den Gert und Werner ermöglichte. Vierzehn Jahre später stehe ich mit meiner Schwester am Grab von Gerda Streit.
Ich habe mich entschlossen, diese und andere Geschichten aufzuschreiben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren:
Aber: "So what's the point?" In "Boyhood" - Richard Linklaters "Langzeit-Filmabenteuer" - fragt Mason als 18jähriger, frisch verlassen von seiner Freundin, seinen Vater genaus dies: "Was ist der Sinn von allem?" Und die Filmzuschauer erinnern sich: "Zehn Lebensjahre (und 90 Filmminuten früher) früher hatte er die gleiche Frage schon einmal gestellt, wenn auch in anderen Worten, da hatte er, als Achtjähriger, den Vater gefragt, ob es 'no magic' im Leben gebe. Und der Vater hatte gesagt: 'No, no elves.' Wenn man beide Szenen übereinanderlegt, die des Achtjährigen und die des Achtzehnjährigen, zerreißt es einem beinahe das Herz (Peter Kümmel in der ZEIT, 23/14)."
Was zerreißt einem beinahe das Herz? Linklater zeigt das Gesicht eines Jungen, das seine Offenheit verliert; ein Gesicht, das düsterer wird und das beginnt sich mit der Idee des Unglücks abzufinden. Und das Leben erscheint als etwas, "was vorbeigeht, während man darauf wartet, dass es beginnt".
Warum beeindruckt mich meine Schwester so sehr? Sie hat dem Loch in ihrer Geschichte ein Gesicht gegeben, aus dem viele Gesichter erwachsen sind. Sie hat mit unendlicher Geduld gewartet; aber sie hat nicht zu lange gewartet: Die unverhoffte Chance auf Zugehörigkeit und Anerkennung ist zu einer neuen Facette ihres Lebens geworden, die einen versöhnlichen Blick auf eine belastete Vergangenheit erlaubt. Einen weiteren Schritt zur Versöhnung mit einer belasteten Vergangenheit hat meine Schwester am Vormittag des 13. Oktober auf beeindruckene Weise geleistet (und auch ich wünsche meinem Schwager alles Gute nach seiner schwierigen OP). Meine Schwester ist einer der ganz wenigen Erwachsenen, in denen ich das Kindergesicht finde, das in ihr aufgehoben und nicht untergegangen ist.