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 Kindheit, Jugend und Studium - Der Zugang zu Bildung (12)

Mit dem Wintersemester 1974/75 begann ich mein Studium an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, Abteilung Koblenz. Hier sollte sich vollends erweisen, dass der Zugang zur Bildung und zum Studium ein unschätzbares Privileg bedeutete. Schon in den ersten Wochen lernte ich Thomas Gauglitz kennen. Er war deutlich jünger als ich (Jahrgang 1956). Zwischen uns stimmte von Beginn an die Chemie, und wir schlossen uns noch im November der GEW-Hochschulgruppe an, einer gewerkschaftlich organisierten Gruppe von Studierenden, die insbesondere die Interessen von LehrerInnen im Blick hatte, aber sehr grundsätzlich gepaart mit einem fortschrittlichen schul- und bildungspolitischen Anspruch, den wir zu einer gesellschaftspolitischen Perspektive erweiterten. Eine Reihe von Altsemestern nahm uns unter ihre Fittiche, dazu gehörten Achim Wichert, Waltraud Dietrich und Klaus-Dieter Mohrs. Mit dessen Vater sollte ich als Neu-Gülser zwanzig Jahre später einer gemeinsamen Sportgruppe angehören, während sein Sohn zuerst Sozialdezernent und später Oberbürgermeister von Wolfsburg wurde. Innerhalb von zwei Semestern gelang es uns die RCDS-Hochburg Koblenz zu schleifen, die Mehrheit im Studentenparlament zu erreichen und damit den Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) zu übernehmen. Unser Studienjahrgang hat von da an die studentischen Gremien dominiert und deren Politik in Koblenz geprägt. Hier ist ein breites Netzwerk entstanden, das bis heute Bestand hat.

Das Studium selbst bot mir durch entsprechende Schwerpunktsetzungen endlich die Gelegenheit meinen Interessen nachzugehen. Die gewählten Fächer für das Lehramt – Deutsch und Sozialkunde – sowie die Wahlpflichtfächer (Philosophie, Soziologie, Psychologie und Didaktik) erlaubten mir recht zügig Fuß zu fassen. Da ich theorieversessen war, hatte ich in den Seminaren relativ schnell einen bestimmten Ruf weg, der mir letztlich ja auch den Zugang zu dem bereits erwähnten DFG-Projekt unter der Leitung von Heino Kaack verschaffte. Ich möchte nicht eine Zeile verschenken, um hier sehr klar und unmissverständlich klarzustellen, dass ich – selbstredend Heino Kaack – meine akademische und damit letztlich auch meine berufliche Laufbahn verdanke; seiner Fürsprache, seinem Vertrauensvorschuss und seiner Art auch abweichenden wissenschaftlichen Optionen Raum zu geben; Optionen, denen sein Wissenschaftsverständnis seinerzeit aus meiner Sicht einer Verengung gleichkam. Heino Kaack hat es hingenommen und nicht – jedenfalls nicht öffentlich – insistiert gegen einen Abgrenzungsversuch meinerseits. Einmal mehr wollte ich deutlich machen, dass ich mein „substantielles Anliegen nicht im dürren Geäst eines empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses verdorren lassen“ wollte (im Vor-/Dankwort zur Drucklegung meiner Dissertation). Der moralische Zeigefinger reichte noch lange über die Schulzeit und über die Studienzeit hinaus in ein Leben, in dem eigentlich alles falsch war: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen!“ (Theodor W. Adorno) Eine linksliberal inspirierte Weltsicht bedeutete aus meiner Sicht, dass es – jenseits aller theologischen Winkelzüge – nicht um den Teufel ging, sondern um die Menschen selber, die unermessliche Schuldbürden auf sich geladen hatten:

Da war zunächst einmal die Kriegsgeneration, die gewissermaßen in Sippenhaftung genommen werden konnte, weil sie den Nationalsozialismus ermöglicht und getragen hatte. Da ich freigestellt war zur Lektüre, war es ein Leichtes und überaus verlockend, die linken Klassiker, ergänzt um den aktuellen Diskurs, zur Weltschelte zu nutzen. Die Deutungshoheit der Frankfurter Schule und das von uns unterstellte Legitimationsdefizit – nicht so sehr der politischen Ordnung –, sondern vielmehr der sie tragenden Akteure, verlieh uns mächtigen Wind in den Segeln. Peter Sloterdijk hat die Motive und die Platzhalter für unsere Generalkritik rückblickend überaus präzise auf den Punkt gebracht: Über aller Kritik schwebte die Frage, warum es eine inzwischen an die Macht gekommene menschliche Freiheitspraxis noch immer nicht zu einer hinlänglich guten Welt gebracht hatte. Ein entsprechender Freiheitsbegriff gipfelte in der Vorstellung die Verantwortung für befriedigende Weltverhältnisse übernehmen zu müssen. Und wo dies nicht gelang, waren zuallererst die Schuldigen auszumachen, um nicht nur den Erwartungshorizont, sondern auch die behinderungsrelevanten und zu beseitigenden Feindbilder vor Augen zu haben. In den siebziger Jahren waren das folgerichtig die bürgerliche Eigentumsordnungdie Klassenherrschaftder Kapitalprozess und – in der Begrifflichkeit von Jürgen Habermas – die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Macht- und Geldsysteme. Vor allem die K-Gruppen, aber auch der SHB oder DKP-nahe Studentenorganisationen beanspruchten stellvertretend das Vorsprecheramt im Hinblick auf noch nicht ausreichend zur Selbstvertretung befreite Gruppen. Der Kampf um eine Verfasste Studentenschaft mit politischem Mandat übernahm in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die Funktion eines klassischen Stellvertreterkrieges. Wir beanspruchten mit unseren demokratisch frei gewählten Vertretungskörperschaften auch Stellung zu allgemeinpolitischen Fragen beziehen zu dürfen. Das auf Bundesebene diskutierte und verabschiedete Hochschulrahmengesetz untersagte den Vertretungskörperschaften der Studierenden eine entsprechende Praxis unter Strafandrohung. Im Verlauf dieser, in bundesweite Streiks ausmündenden Auseinandersetzungen kam es schließlich an der EWH Koblenz zu einem Polizeieinsatz und zu einer Strafanzeige gegenüber einer Reihe studentischer Aktivisten durch die Hochschulleitung. Die Staatsanwaltschaft Koblenz verfolgte vorgebliche Verfehlungen und Straftaten und es kam zu einer Anklage vor dem Landgericht Koblenz. Die Anklage vertrat – neben angeblichen Straftatbeständen der Beleidigung und Nötigung – die Auffassung ein Teil der Aktivisten hätte sich des Haus- und Landfriedensbruchs schuldig gemacht. Das Verfahren wurde 1978 eröffnet und endete mit einem Freispruch der Beklagten. Gleichwohl hatte dies für jeden Einzelnen Konsequenzen. In den Personalakten waren entsprechende Vermerke, die in einer Reihe von Fällen das Placet des Innenministeriums zur Einstellung in den Landesdienst oder gar zur Verbeamtung erheblich erschwerten bzw. verzögerten.

Zur Welt kommen – zur Sprache kommen - Spurensuche III (13)

Geht es aber sehr viel grundlegender noch einmal darum den ursächlichen Einflüssen auf die Spur zu kommen, die mich in der Tat zur der Überzeugung brachten, es könne – im Sinne Adornos – kein richtiges Leben im falschen geben, so muss man in der Tat auf die von Dr. Bauer – dem Schulleiter während meiner Zeit auf dem Are-Gymnasium – geäußerten Zusammenhänge und die schlichte Feststellung zurückkommen, es sei das Vorrecht einer jeden jungen Generation, die Welt an einem selbstgesetzten Ideal zu messen, solange Welt keine Wirklichkeit, sondern nur Vorstellung sei. Da hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.

Meine Unduldsamkeit gegenüber Zuständen, die befriedigende Weltverhältnisse nicht einmal ansatzweise erkennen ließen, hatte ihre Wurzel zuerst einmal im privaten Raum, nämlich in meiner Familie: Meine Kindheit in der Kreuzstraße in Bad Neuenahr, am Ostende der Stadt, war eine gemeinsame mit meiner Cousine Gaby und meinem Bruder Wilfried. Meine Cousine lebt heute noch im umgebauten Elternhaus unserer Mütter. Das Elternhaus meines Vaters haben wir nach dem Tod meiner Mutter an die Tochter einer Freundin aus Kinderzeiten verkauft. Auch sie – die Freundin aus Kindertagen – lebt heute noch gemeinsam mit ihrem Mann in unmittelbarer Nachbarschaft, eng befreundet mit meiner Cousine.

In der Kindheit gehörte das Vater-Mutter-Kind-Spiel zu unserem alltäglichen Spielevorrat. Beide Elternhäuser verfügten über ein gemeinsames Garten-Areal. Wenn wir unter uns waren oder sein wollten, dann war dies unser bevorzugtes Terrain. Gaby kochte Petersiliensuppe, ich kurvte mit dem Rädchen durch den Garten, kam irgendwann von der Arbeit und Willi musste Gabys Suppe essen und unseren Anweisungen folgen. Im Rückblick erstaunt mich dieses Arrangement, weil Vater-Mutter-Kind schon damals – als wir im Alter von sechs bis zehn Jahren waren – aus ganz unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und Motiven zustande kam. Gaby kannte Vater-Mutter-Kind nur bruchstückhaft. Während Willi und ich tagtäglich erlebten, wie das funktionierte – Vater-Mutter-Kind(er) –, lebte Gaby mit ihrer Mutter alleine im Obergeschoss des Hauses unserer Großeltern. Der Vater – unser Onkel Fred – lebte in Köln und hatte dort eine neue Liebe gefunden. Darüber wussten wir allerdings nichts. Unser Onkel Fred war Handelsvertreter und reiste durch die ganze Republik, um Pflege- und Kosmetikprodukte der Firma Schwarzkopf zu vertreiben. Er konnte also nicht zu Hause sein, weil er ja unterwegs war und arbeiten musste. Aber er kam an den Wochenenden zu Besuch, manchmal auch an Wochentagen, um sich zeitig wieder auf den Weg zu machen, weil er ja arbeiten musste. Gaby freute sich immer auf ihren Papa, der ihr – wenn er da war – immer seine volle Aufmerksamkeit widmete. Die Tante – unsere Tante Annemie – war ein ruhiger und zurückhaltender Mensch. Sie war so ruhig und zurückhaltend, dass man eigentlich nie merkte, ob es ihr gut oder schlecht ging. Sie war halt still, ihr Lachen ein Lächeln und sehr verhalten, immer mit einem kleinen Schuss Verlegenheit einhergehend. Für meinen Bruder und mich war dieses immer gleichbleibende, unaufgeregte gemeinsame Leben – Hausbacke an Hausbacke – vollkommen normal. Nie fiel uns irgendetwas auf, weil alles so war, wie es immer war. Unsere Cousine war ein aufgewecktes, lebenslustiges Kind, mit dem wir tagtäglich zusammen waren, weil vor allem die beiden Schwestern über ihre Eltern – man konnte fast meinen – einen gemeinsamen Hausstand pflegten. Alle Feste feierten wir gemeinsam, jeden Tag begegneten wir uns – vor allem im gemeinsamen Garten.

Gaby war ein Einzelkind, und als Einzelkind war sie auch verschlossen. Viel später – sehr viel später – hat sie uns erzählt, dass sie schon im Alter von etwa zehn Jahren im Wäscheschrank ihrer Mutter auf Dokumente gestoßen sei, die sie zwar nicht zur Gänze verstand, die ihr aber so viel Einblick in die merkwürdige Art des Familienlebens eröffneten, dass sie seither wusste, dass ihre Eltern geschieden waren. Sie hat das für sich behalten. Uns hat sie erklärt, dass sie diese Information fest und tief in sich verkapselt hat, mit niemandem darüber geredet hat, sich niemandem anvertraut hat, weil sie Angst hatte, dass dann vielleicht der immer herbeigesehnte Kontakt zu ihrem geliebten Papa hätte abbrechen können. Das Bild der Tante Annemie hat sich denn auch erst nach und nach als ein wirklich problematisches und in hohem Maß belastetes herausgestellt, als sich mir die Zusammenhänge aufdrängten zwischen der Art und Weise wie Gaby mit ihrer Mutter zusammenlebte und den zunehmenden – oder doch zumindest in meiner Wahrnehmung sich stärker ausprägenden – Stimmungsschwankungen meiner Tante; Stimmungsschwankungen, die einhergingen mit einer latenten und immer offener zutage tretenden Antriebsschwäche. Schließlich prägte sich ein Krankheitsbild aus, das ärztlicher Expertise bedurfte und das man seinerzeit mit dem Befund einer endogenen Depression klassifizierte. Lebt man Tag für Tag in einem engen Verbund – Mutter-Vater-Kinder in dem einen Haus, Großmutter-Großvater sowie Mutter-Kind im Nachbarhaus – ist der Blick für das Offensichtliche verstellt. Fürs Verstellen gibt es ein unschuldiges Nicht-Sehen-Können und ein schuldhaftes Nicht-Sehen-Wollen. Etwa im Alter von siebzehn Jahren begann ich die Welt zunehmend durch diese Brille zu sehen und zu bewerten; erste Gedichte entstanden und ich konfrontierte meine Mutter mit meinen Einsichten: Der Tante geht es schlecht, weil niemand ihre schiefe Stellung im Leben sehen will! Das Gestell, in dem sie sich bewegt, führt zu dauerhaften seelischen Verkrümmungen mit somatischen Kollateralschäden. Man kann nun exemplarisch zeigen, wie der Zugang zu Bildung – ich war inzwischen Oberstufenschüler – Voraussetzungen schafft, die sozialen Beziehungen in einem Familienverbund durch andere Brillen zu betrachten. Das führte dann auch zu ersten Konflikten. Wenn dieser Zugang einbricht wie ein Frühlingserwachen und diese Brillen die Wirklichkeit wie einen Abgrund erscheinen lassen, bleibt dies (auch) für den Beobachter nicht folgenlos:

Für die Erklärung meines Unbehagens gab es eine klassische Blaupause. Geliefert hat sie Sigmund Freud mit seiner Abhandlung über das Verhältnis von Kultur und Unbehagen, also Unlust und Leid. Die Quellen der Unlust und des Leids bekommen erstmals konkrete Begriffe und Gesichter. Dass wir alle nach Lustvermehrung streben, leuchtete mir unmittelbar ein. Genauso leuchtete mir ein, dass dies als grundsätzliches Prinzip nicht realisierbar sei; vor allem die Außenwelt erschien mir als die entscheidende Quelle von Unlust. Ich begriff für mich und die beobachteten Widersprüche den Widerstreit von Lustprinzip und  Realitätsprinzip als Sesam-Öffne-Dich, das mich in die Lage versetzte die entsetzliche Wirklichkeit nicht nur zu sehen, sondern auch zu erklären. Als wichtigste Quelle des Unglücks erschien die Kultur bzw. die Art und Weise, wie sie die menschlichen Beziehungen in ein Zwangskorsett zwängte. Der Urkonflikt trat auf den Plan, indem ich mir die Idee zu eigenmachte, dass Triebbefriedigung permanent unterlaufen bzw. unterbunden würde und damit einen strukturellen Gegensatz zu individueller Freiheit in die Welt trage. Das ganz und gar Unerträgliche an dieser Konstellation beruhte auf der gleichzeitigen Annahme, dass es aber doch die Liebe sei, die uns von all dem heilen könne, ja müsse! Die Liebe als Urmotiv der Familie – zumindest der Familie, wie ich sie kannte. Die Liebe umschloss in meiner Vorstellung nicht nur Sexualität, zudem noch in einer vollkommen idealisierten Vorstellung, sondern alle Formen und Spielarten einer liebevollen Zuwendung – und dies zuvorderst in der Gestalt der Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern unter ganz besonderer Betonung der Mutter-Kind-Beziehung.

Nun hatte ich meine Theorie und geriet zunehmend in die Lage, die realen Verhältnisse daran zu messen!!! Was war los mit meiner Tante? Um meinen nachhaltigen Schock vorwegzunehmen – weil er sich in aller umfassenden Dramatik erst mit einer Zeitverzögerung von Jahrzehnten einstellte –, will ich hier etwas in den Raum stellen, was mir meine Cousine – jedenfalls in dieser Umfänglichkeit – erst nach ihren eigenen Lebenskrisen offenbarte. Dass sie es in ihrer gesamten Kindheit, in ihrer Jugend, in ihrem Erwachsenenleben, in der Zeit als sie ihre Mutter zum Sterben brachte, nicht ein einziges Mal erlebt habe, dass ihre Mutter – offen und offensiv – körperliche Nähe, Zärtlichkeit, Schmusen, die oxytocin-geschwängerte Atmosphäre eines vorbehaltlosen Kuschelns, Liebhabens erlaubt oder gesucht habe, macht mich – indem ich es hier aufschreibe – immer noch vollkommen fassungslos (meine Cousine hat dies u.a. niedergelegt in einem Brief an die kleine Gaby – entstanden durch Anregungen im Rahmen einer Therapie). Meine Cousine Gaby ist ein herzlicher, liebevoller Mensch, der seine Liebe in so vielen untauglichen wie tauglichen, für sie unzuträglichen wie zuträglichen Lebenssituationen verströmt (hat), dass sich für mich auch heute noch mehr Fragen als Antworten aufdrängen.

Klar war, dass man in einem eng geschnürten Korsett nicht zu sich selbst kommen kann, wenn die Kultur – die ungeschriebenen Gesetze – jemanden zwingen, sich zu verstellen – ein Leben lang. Unsere Großeltern, die Eltern meiner Mutter und meiner Tante, sind 1968 bzw. 1970 verstorben. Mir ist Jahrzehnte später glaubhaft vermittelt worden, dass unser Großvater bis zu seinem Tod nichts gewusst hat von einer Scheidung – diese Wahrheit hatten Mutter und Tochter tief in sich vergraben, auch verborgen vor der Enkelin bzw. der eigenen Tochter, die ihr eigenes Wissen, das sie zwischen Bettwäsche und Lavendel entdeckt hatte, ebenfalls tief in sich als Geheimnis aufbewahrte. Aber was bedeutet das? Kann man sich ein Leben in Einsamkeit und Lüge in diesem Ausmaß überhaupt nur annähernd vorstellen? Gaby, Willi und ich – wir spielten Vater-Mutter-Kind. Meine Tante spielte über Jahre mit Onkel Fred und Gaby Vater-Mutter-Kind. Es gibt viele Fotos, auf denen die kleine Familie zu sehen ist. Und es gibt unzählige Fotos, die Gaby mit ihrem Vater zeigen.

Unser Onkel Fred war in Bad Neuenahr eine Legende – eine Fußballlegende. Jeder kannte ihn, und fast alle bewunderten ihn. Dass dieser charmante Kölner Junge mit dem linken Bums in Bad Neuenahr schon Vater war, bevor er meine Tante Annemie heiratete, war einerseits so etwas wie ein offenes Geheimnis, andererseits aber auch viel weniger. Solche Tatbestände wurden nicht kommuniziert, darüber wurde nicht gesprochen – sie wurden so nachhaltig verschwiegen und verdrängt, dass selbst die unmittelbar Beteiligten der Amnesie anheimfielen. Immerhin hat sich der Sohn Onkel Freds – Gabys Halbbruder – seinem Vater an einem Rosenmontag in den 90er Jahren vorgestellt. Der Schock für Onkel Fred lag allein schon darin begründet, dass er plötzlich seinem Ebenbild gegenüberstand. Sag mir heute einer, wie das funktioniert hat?

Tatsache ist und bleibt, dass Fred Annemie heiratete. Annemie war eine schöne Frau – gleichzeitig ein Seelchen. Der richtige Mann an ihrer Seite hätte dieses Seelchen nicht nur als schöne Frau gesehen, er hätte all ihre Qualitäten, all ihre besonderen Seiten zum Blühen und Klingen gebracht. Aber dazu hätte er diese Frau aufrichtig lieben und sehen müssen – in der Haltung einer ganz und gar zweifelsfreien Höchstrelevanz. Aber unser Onkel Fred war nicht nur ein Frauenheld; er war offenkundig ein Mann, der eine selbstbewusste, tatkräftige Frau an seiner Seite benötigt hätte, jemand, der ihm Grenzen setzte; also das gerade Gegenteil von meiner Tante Annemie. Natürlich sehe ich heute im Konzert der Nachgeborenen ein großes Glück darin, dass aus dieser Verbindung die Cousine Gaby hervorgegangen ist; auch wenn ihr Leben von Anfang an nicht unter einem glücklichen Stern stand. Fred spielte das Spiel mit Netz und doppeltem Boden, bei dem man eine Frau – wie bei einem billigen Taschenspiertrick – einfach verschwinden lassen kann. Es war fast ein klassisches Doppelleben – aber eben nur fast. Fred hatte lange schon wieder eine Ehefrau in Köln; er war ja rechtmäßig geschieden. So kam er – der Vatermann – in unregelmäßigen Abständen zu Besuch, zu Ausflügen und Unternehmungen, und fuhr abends wieder in seine Arbeitswelt. Die Arbeitswelt war irgendwann nicht mehr die eines Handelsvertreters, sondern die eines kleinen Hoteliers in prominenter Lage, unmittelbar am Dom.

Das alles geht mich nicht wirklich etwas an. Die Anmaßung in den frühen siebziger Jahren war hingegen verständlich, weil mir diese Welt und die Menschen in ihr unverständlich blieben. Noch aus dem Bertelsmann-Lesering – da war ich allenfalls 16 – war mir ein Kompendium von Schriften des Philosophen Karl Jaspers zugekommen. Es liegt hier vor mir; es ist unter allen Büchern das in vielfacher Hinsicht besonderste! Zerlesen, mit Bleistift unterstrichene Passagen, da es noch keine Textmarker gab; es hat in allen existentiellen Krisen immer Botschaften parat gehabt, die mich nicht haben verzweifeln lassen. Um die Bedeutung meiner Tante für mein Weltverständnis aufzuschließen, gibt es – neben der freudschen Lektion – noch heute wesentliche Anstöße. Die wenigen Sätze Karl Jaspers‘ zum Alter entfalten heute erst ihre volle Wirkung. Ich bin inzwischen neunundsechzig Jahre alt:

„Ein Rückblick auf das eigene Leben, zumal im Alter, bringt in eine zweideutige Verfassung. Es ist, als ob man etwas abschlösse, was noch im Gange ist… Das Bewusstsein bewegt, das Wesentliche noch nicht gesagt, das Entscheidende, das sich ankündigt, noch nicht gefunden zu haben. Daher wird ein (philosophierender) Rückblick zu einem besseren Ausgang des Plans für künftige Arbeit. Das Sicherweitern der Vernunft ist nicht eingeschlossen in den biologischen Lebenskreis. Man kann in die für das Alter paradoxe Stimmung geraten, der Blick öffne sich auf Grund der geistigen Erfahrungen in neue Weiten.“

In der – innerhalb der zusammengestellten Schriften – integrierten Kleinen Schule des philosophischen Denkens überschreibt Jaspers einen Abschnitt mit Anker in der Ewigkeit. Darunter finden sich in Kapitel XI und XII Ausführungen über Liebe und Tod. Beide Kapitel sind für mein Denken mit Blick auf diese existentiellen Ewigkeitsthemen richtungsweisend geblieben. In der Phase des Sturm und Drangs, die gleichbedeutend war mit einer zweiten Geburt, in der man zur Welt kommt, indem man zur Sprache kommt, nahmen sich meine eher verzweifelt anmutenden Versuche zu beschreiben, was mich innerhalb der großen Familie bedrängte, dilettantisch aus:

efliH oder: Land des Schweigens - Land des Lächelns (1970)

Eine Frau zerbricht,
ohne Kraft gebiert sie die Krankheit,
provoziert das Mißverständnis,
als das sie ihr Leben langsam begreift.
Leben in sich –
Mikrokosmos:
Fehlentwicklung der stofflosen Materie,
die ausbricht in schütterer krankhafter Anomalie.
Lächelnd begrüßt man (die) Ursachen,
mit denen,
als die man lebt,
als die man redet über Zerredbares,
als da sind Gärten und Krankheit;
die selbst sich entpuppt als Paradoxon!
In wem, worin sei efliH,
die Hilfe?
Gewiß in niemandem,
dessen Stimmbänder
programmiert
zerreden die Wirklichkeit!

Soweit ich mich erinnere, ist dieser erste Versuch etwas mir Unheimliches zur Sprache zu bringen, das einzige Gedicht, das meine Mutter je von mir gelesen hat. Ich habe sie damit konfrontiert und habe gefragt, was los sei mit der Tante? Aber ich habe nicht nur gefragt – ich habe gleichzeitig angeklagt: Ihr könnt doch nicht alle einfach zusehen, wie die Tante zugrunde geht!

Die philosophischen Erörterungen zu einer Vorstellung von Liebe, wie sie Karl Jaspers entfaltet, haben mich 2007 wieder eingeholt. Sehr viel weiter unten wird seine Patenschaft aufleben und dann einen reifen – zumindest gereiften – Wanderer zwischen den Welten antreffen. Anfang der siebziger Jahre traf die Jasper‘sche Lektion mit der Freud‘schen zusammen. Mit einem Paukenschlag erhellte sich mir die missliche Lage meiner Tante: Primeln reagieren unmittelbar auf Liebes-, pardon, auf Wasserentzug; sie lassen buchstäblich die Köpfe hängen und zeigen ihre prekäre Mangelsituation an. Mir kam es so vor, dass meine Tante den Kopf dauerhaft hängen ließ, weil alle lebenserhaltenden Versorgungsleistungen auf ein Minimum abgesenkt waren. Die vitalisierenden Austauschbeziehungen zu den Nächsten waren so sehr geschrumpft, dass auf Augenhöhe ebenso wie nach oben, wo Eltern immerhin sich noch sorgten – wie nach unten, wo jemand gleichermaßen mit seinen Würzelchen in der Luft hing und nach Zuwendung lechzte, ein stetiger Mangel das Leben prägte. Meine Tante trottete Jahr um Jahr, wie der Esel dem Wagen – mit dem frischen Grün vor Augen – hinterher, ohne die geringste Chance, sich daran auch nur einmal laben zu dürfen. Das Opfer, das sie zum Wohlergehen ihrer Tochter brachte, ließ sich offenkundig nicht erweitern zu einer aktiven, liebevollen Zugewandtheit der eigenen Tochter gegenüber. Wenn ich versuche Freud‘sche Begriffe wie Lustvermehrung (im Sinne eines Lustprinzips) im Zusammenhang mit meiner Tante zu denken, drängen sich unmittelbar die Begriffe von Unlust und Leid in den Vordergrund. Meine Tante kam mir – bis auf wenige Jahre der Ausnahme – vor, wie das Ebenbild einer mater dolorosa, einer Schmerzensmutter, in deren Entbehrenserfahrung eigener Lust sich die emotionale Spärlichkeit der eigenen Tochter gegenüber spiegelte. Lust meint hier – vielleicht – am wenigsten sexuelle Lust –, sondern vielmehr das Bedürfnis nach Anerkennung, noch elementarer das Bedürfnis danach, überhaut zuerst einmal gesehen zu werden. Schwer verständlich bleibt die Zurückhaltung auch da, wo sich ein Gegenüber anbot, wo der männliche Blick mit Avancen einherging, und schlicht ein Interesse ihr gegenüber ganz einfach als Frau signalisierte. Die Kränkungserfahrungen müssen galaktischen Ausmaßes gewesen sein, und die daraus resultierenden Ängste vor Enttäuschung so grabentief, dass man kaum von einer Freiheit der Wahl reden mag. Im Brief meiner Cousine an die kleine Gaby erhält diese Annahme weitere Nahrung durch den Hinweis, dass die beiden Schwestern – meine Mutter und meine Tante – 1955 wieder etwa zur gleichen Zeit schwanger gewesen sein müssen. Während im November 1955 mein Bruder Wilfried geboren wurde, stellte sich für meine Tante – bei aller Last und aller Not – auch noch das Mega-Trauma einer Totgeburt ein; Gaby hätte eine Schwester gehabt, so wie ich einen Bruder hatte. Im Rückblick baut sich das Bild einer riesigen Glocke auf, unter der die Tante wohl nie einen anderen Klang gehört hat als den, dass im Leben alles schief läuft, was schief laufen kann. Sie hatte für sich Murphys Gesetz als lebensbegleitenden basso continuo angenommen.

Wut, Enttäuschung, Entrüstung sind gewiss umso ausgeprägter, je machtloser man vor einer Situation bzw. einem Zustand verharren muss. Meiner Mutter gegenüber war ich ungerecht und selbstgerecht gleichermaßen; meinen Vater sah ich in der Angelegenheit gar nicht erst in der Verantwortung. Die Keimzelle des Unbehagens in der Kultur lag zweifellos in der mütterlichen Linie begründet – in einem Lügengespinst, das die einen schützen sollte und die anderen nicht schützen konnte. Die Oma – die moralische Instanz der Familie – war wider Willen Mitwisserin des Ehedesasters; auch der juristischen Konsequenz einer Scheidung im erzkatholischen Mief der Voreifler. Sie schützte ihren jähzornigen Ehemann (vermutlich vor sich selbst); keiner hätte dafür garantieren wollen, dass der dem Stenz aus Kölle nicht ans Fell gehen würde. Die kleine Gaby, die der umfänglichsten und wirksamsten Schutzbastion bedurft hätte, konnte niemand schützen; sie sorgte für sich selbst durch Wohlgefallen und Willfährigkeit; ihre oberste Zielsetzung bestand im unbedingten Erhalt des Kontakts zum geliebten Papa – um jeden Preis.

Zur Welt war – neben Franz Josef und Wilfried, in einem anderen Leben – ja schon Ursula gekommen. Aber zur Welt kommen bedeutete bei uns nicht quasiautomatisch auch zur Sprache zu kommen. Zur Sprache kam eben nichts, außer Alltäglichem, Beiläufigem und Nebensächlichem. Über allem, was das Leben und seine Dynamik in der Familie ausmachte, herrschte tiefes Schweigen. Nein, das trifft es nicht in angemessener Weise. Das Tabu, das ein Schweigegebot hätte auslösen können, wirkte ja selbst im Verborgenen. Das teuflische an einer solch verzwickten Gemengelage liegt ja gerade darin, dass sich niemand auskennt, niemand etwas Genaues nicht weiß und – wenn überhaupt – nur im Trüben fischt. So kam es, dass sich über Jahre und Jahrzehnte die Fragen selbst rarmachten und begannen ein Versteck-Spiel zu treiben. So muss es nicht verwundern, dass uns das Fragenstellen selbst abhandenkam. Tief im Verborgenen kontrollierte die Scham das Miteinander. Wir alle lebten miteinander in einem wohlbegründeten Modus der Dankbarkeit. Dies verhalf dem Tabu zu einem komfortablen Dasein; einmal ganz davon abgesehen, dass das Leben ja nach vorne treibt und gelebt sein will – mit Kind und Kegel, mit so vielen Träumen, Hoffnungen und Erwartungen. So lebten wir alle – nun ja, Adorno würde sagen – unser richtiges Leben im falschen. Da tut es doch gut und lenkt die Aufmerksamkeit in eine ganz andere Richtung, wenn man einfach mal gut 1000 Kilometer südostwärts schaut – in die Nähe von Wien, nach St. Pölten oder nach Mistelbach:

Dort kam es in den frühen 60er Jahren in einer Familie zu einem nachhaltigen, heftigen Streit, weil jemand sich traute an einem Tabu zu rütteln. Franz Streit war nicht heimgekehrt. Ein paar spärliche Informationen gab es ja schon weiter unten zu lesen. Er hinterließ Frau und zwei Kinder, die im ehrfürchtigen Respekt vor ihrem Vater von der Mutter erzogen wurden. Dass Franz nicht nur Vater von zwei Söhnen war, sondern dass er im Rheinland eine Blutsspur hinterlassen hatte, so dass ihm dort genau zwischen den beiden Söhnen eine Tochter geboren wurde, hatte er bei seinem letzten Besuch in der Heimat der Mutter anvertraut. Die Mutter ihrerseits hatte sich irgendwann ihrer Tochter – der Julie – anvertraut, weil sie mit dieser Gewissenlast nicht alleine leben konnte. Wie sein Vater, war Werner Panzersoldat geworden und hatte während des Mauerbaus in stetiger Alarmbereitschaft eine ferne Ahnung davon bekommen, was dies wohl im Ernstfall bedeuten könnte (dass Werner Soldat in der Bundeswehr sein konnte, war eine Folge seiner Entscheidung – im Gegensatz zu seinem Bruder Gert – die deutsche der österreichischen Staatsangehörigkeit vorzuziehen. Gerda Streit, die Mutter, stammte aus Duisburg und war Deutsche). Bei einem seiner Besuche in Österreich nahm in sein Bruder bei der Ankunft beiseite und bereitete ihn auf dicke Luft vor. Etwas Ungeheuerliches war geschehen: In einem Streit zwischen der Gerda, ihrer Mutter, und der Julie, ihrer Tante und somit Schwägerin der Mutter (von der gesagt wurde, sie sei die Lieblingsschwester von Franz gewesen), hatte die Julie der Gerda in ihrer Wut – vielleicht auch in wohlüberlegtem Kalkül? – an den Kopf geworfen, sie solle doch endlich mal den Franz vom Altar holen. Diese Heldenverehrung sei ja nicht auszuhalten, wo doch jeder wisse, dass der Franz noch eine Tochter in Deutschland habe. Die Entrüstung und der Schock saßen gleichermaßen tief und lösten die unterschiedlichsten Reaktionen aus. Fest steht nur, dass die beiden Söhne Franz Streits von da an nie mehr der Gedanke losgelassen hat, diese Schwester zu finden – ihre Suche war ziel- und erfolglos, so ganz anders als die Bemühungen ihrer Schwester.

Ein kleiner Abschnitt – einfach so eingefügt in den Gedankenfluss – verändert das Bild einer heilen Familie, gar einer Familienidylle nachhaltig. Die Kreuzstraße 113 war ein ehrenwertes und vor allem ein offenes Haus. Es wäre ein lohnendes Unterfangen die Geschichte dieses Hauses und seiner vielen Bewohner zu erzählen.

Ein ehrenwertes Haus I (14)

In der Kreuzstraße 113 wohnten seit den frühen fünfziger Jahren Theo, Hilde mit Franz Josef und ab 1955 auch mit Wilfried. Theos Eltern waren 1948 – die Mutter – und 1951 – der Vater – verstorben. Theos Schwester, Agnes, bewohnte zu Beginn der fünfziger Jahre noch das Erdgeschoss, während die kleine Familie im ersten Obergeschoss Quartier genommen hatte. Im Dachgeschoss wohnte die Familie Siepen, der Vater Alkoholiker – im Übrigen der erste, von dem ich hörte, dass er in Ermangelung von Nachschub auch schon einmal Kölnisch Wasser getrunken haben soll. Die beiden Söhne Hermann und Toni erlernten ein Handwerk (Dachdecker und Anstreicher) und waren nebenher passionierte Fischer; die Ahr floss etwa 150 Meter – jenseits des Fußballplatzes –, und lieferte damals noch vom Aal bis zur Forelle einen ergiebigen Fischfang. 1959 wurde der Altbau saniert und umgebaut; eine Zentralheizung, fließend Kalt- und Warmwasser wurden installiert. Durch den Einbau einer Toilette und eines Bades mit Toilette ging die elende Zeit des Plumpsklos über den Hof endlich zu Ende. Heute muss ich mir deutlich vor Augen führen, dass die Eltern, die zwar durch die Angestelltentätigkeit des Vaters als Croupier im Spielcasino über ein regelmäßiges und durchaus ansehnliches monatliches Budget verfügten, drei der im Haus befindlichen Zimmer vermieteten, um ein Zubrot zu erwirtschaften. Im ausgebauten Dachgeschoss entstanden zwei Dachgauben; im ersten Obergeschoss wurde eines der Zimmer abgetrennt und gleichermaßen vermietet. Einige Jahre lebte ein Arbeitskollege des Vaters gemeinsam mit seiner Frau in diesem Zimmer. Im Dachgeschoss gab es wechselnde Mieter.

Die folgen- und segenreichste Vermietung ergab sich 1959 durch den Mietvertrag mit einem Zivilangestellten der Bundeswehr, die in Bad Neuenahr einige Dienststellen unterhielt: Bert Skala war technischer Zeichner (Bauzeichner). Er kam aus Nördlingen, wo er mit Frau und Schwiegermutter nach der Vertreibung aus dem Sudetenland (Karlsbad) eine neue Heimat gefunden hatte. Bis zum Tode meines Vaters und darüber hinaus bis zum Tode von Bert und Traudel entstand eine lebenslange Freundschaft der besonderen Art. Für mich persönlich ganz entscheidend waren die mehrwöchigen Besuche Traudels in größeren Abständen. Nach meiner Einschulung nahm sie sich meiner immer wieder an und half mir mit ihrer unendlichen Geduld einen Weg ins Buchstabenchaos zu finden. Gegenüber ihrer so ganz anderen, wohltuend unaufgeregten Art fasste das Muttersöhnchen tiefes Vertrauen zu diesen beiden fremden Menschen, die auf so ungewöhnliche Weise das Bild eines skurrilen, liebenswerten Paares verkörperten; er groß gewachsen, fast ein Hüne und dennoch rundlich. Sein Gesicht verströmte grundsätzlich gute Laune, verschmitzt, dominiert von aufsteigenden Linien mit einem eigenwilligen überaus gepflegten Oberlippenbärtchen – und außergewöhnlich lebendigen, kleinen Schweinsäuglein; sie klein und rundlich, weich, mollig in allen Körperregionen und immer in der Lage, gleichermaßen Freundlichkeit und Gleichmut zu verströmen. Allein schon die liebevolle wechselseitige Anrede mit Burli und Weibi vermittelten eine so ganz und gar andere idiolektalische Herkunft und einen über alle Maßen wertschätzenden Umgang miteinander. Um es vorwegzunehmen: Der Suizid Berts – etwa ein Jahr nach dem Tod Traudels – offenbarte die umfängliche Bedeutung jener soziologischen Definition einer intensiven Paarbezogenheit, die Peter Fuchs eingefallen ist: Bert und Traudel verkörperten für mich in Totalität die Idee einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz auf eindrückliche Weise. Und doch gibt es da eine Nuance, die gleichermaßen irritiert und beeindruckt. Sie liefert wiederum George Steiner wohl ein gewaltiges Argument für seine Annahme, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt: Und es waren bei Bert und Traudel offenkundig  „Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs; jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse“ – und vor allem – „jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist“.

Meine Mutter hat mir erzählt – so innig und vertrauensvoll war wohl die freundschaftliche Bindung zwischen ihr und Traudel –, dass die beiden nie in ihrem Leben eine sexuelle Beziehung miteinander gelebt haben. Traudel sei in den Kriegswirren der letzten Wochen in Karlsbad gemeinsam mit ihrer Mutter in die Hände russischer und tschechischer Soldaten geraten, mehrfach vergewaltigt worden und seither fernab jeglicher Form sexuellen Empfindens gewesen. Frappierend für mich war dabei, dass dieses Paar – Traudel und Bert – auf so ungewöhnliche Weise einen liebevollen Umgang miteinander pflegte, so dass es für mich in meiner Erinnerung – wenn dies je für ein Paar Sinn gemacht haben sollte – die vollkommene Symbiose, die komplementäre Ergänzung platonischer Hälftigkeit verkörperte. Ungewöhnlich für mich und eher kaum zu glauben, dass ich bereit war – als 13jähriger – eine Woche, 400 Kilometer von zu Hause, eine ganze Woche zu verbringen; die Korda-Oma und Traudl, und natürlich auch Bert, haben mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Szegediner Goulasch, jede Form von Strudel, alle erdenklichen Variationen von Mehlspeisen, gefüllte Paprika und vieles mehr erweiterten meinen kulinarischen Horizont. Meine Schwester mochte vor allem Bert und verbrachte als Jugendliche Ferienzeiten in Nördlingen und Siegsdorf – die Äußere Einfahrt 28 wird mir immer als Willkommensadresse in guter Erinnerung bleiben.

Das ehrenwerte Haus als offenes Haus sorgte durch die Beherbergung so unterschiedlicher Menschen, die vor allem auch unterschiedlichster landsmannschaftlicher Herkunft waren für so etwas – man könnte sagen – wie frühe kulturelle Vielfalt. Bendixens waren Nordlichter – aus Hamburg oder Schleswig-Holstein, Fräulein Butzke ist mir in Erinnerung geblieben vor allem als extravagante Erscheinung mit Turmfrisur – ein eher dunkler Typus; Elke Bendix hingegen war blond und eine gleichermaßen aparte Erscheinung. Dafür hatte ich allerdings noch nicht wirklich einen Blick und auch noch kein ausgeprägtes Interesse. Major Seidenschnur war in Uniform eine imposante Erscheinung; ihn umgab eine würdevolle Aura. Meine Schwester legte für ihn jene typische Teenager-Schwärmerei an den Tag – ähnlich wie bei ihrem hochverehrten und heißgeliebten Onkel Fred.

 Ein ehrenwertes Haus II - Die vierte Generation (15)

Im Dachgeschoss der Kreuzstraße 113 gab es gartenseitig eine kleine Kammer, die auch gaubenartig ausgebaut wurde. Nach der Heirat meiner Schwester mit meinem Schwager Ernst wurde diese Kammer zum ersten eigenen, abgeschlossenen Rückzugsort der jungen Eheleute. Michael, der im Januar 1962 geboren werden sollte, war ja ein typisches sogenanntes Sechsmonatskind. Dieses Schicksal teilte er mit vielen seiner GenerationsgenossInnen – nichts besonderes! Diese Sprachregelung diente selbstredend nur der Verschleierung der Tatsache, dass meine Schwester bereits in Umständen war, als die beiden heirateten – standesamtlich und kirchlich an einem Tag im Sommer 1961. Am Tag der Hochzeit – nach einem gemeinsamen Kaffee in der Familie – traten die beiden ihre Hochzeitsreise an! Wohin wohl? Nach Flammersfeld – back to the roots – an den Geburtsort meiner Schwester. Sie fuhren mit Ernstens Isetta die gleiche Strecke, die Ullas Mutter im Frühsommer 1942 – zwanzig Jahre zuvor – gefahren war, um sich in Flammersfeld in die Obhut des NSV-geführten Entbindungsheims zu begeben.

So bekam das ehrenwerte Haus alles zu sehen, was in Klein-Frankreich – so wie allerorten – zu einem ganz normalen Leben dazu gehört. In der Sippe und in der Wohngemeinschaft im Umfeld der beiden Nachbarhäuser – Backe an Backe – gab es den Alkoholiker, den notorischen Fremdgeher, Sechsmonatskinder, kinderlos gebliebene Liebende platonischen Zuschnitts, damals schon versingelte Einzelgänger. Vor allem gab es aber ein Geheimnis, dass alle anderen gewöhnlichen Vorkommnisse noch ein wenig an Tragweite in den Schatten stellte. Meine Schwester hat mir erzählt, dass es immer wieder Ereignisse gab, die ihr zumindest ungewöhnlich erschienen – jenseits des allzu alltäglichen Gewöhnlichen. Dazu gehörten auch die Hänseleien, dass ihr Vater ja gar nicht ihr richtiger Papa wäre.

Gewiss spielte dies ganz sicher keine Rolle vom 14. Januar 1962 an; das ist der Geburtstag meines Neffen. Knapp zwanzig Jahre nach der zufälligen Geburt seiner Mutter, erblickt ein strammer Junge das Licht der Welt. Alle kommen zusammen, um das Kindlein anzuschauen und fortan wohlwollend zu begleiten – ein besonderes Kindlein? An dieser auch nicht ganz selbstverständlichen Geburt und dem, was sich anschließt, lässt sich mit einem Abstand von fast sechzig Jahren so außerordentlich Ungewöhnliches, vielleicht Besonderes zeigen: Die Mutter ist jung – ein Backfisch typischen Zuschnitts für die ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahre. Ihr wird ein wildes, ungestümes, teils widerborstiges Wesen nachgesagt. Immerhin hat sie es zu einem Aufenthalt in einer Haushaltsschule klassischen, ultrakonservativen Zuschnitts gebracht. Nach dem Abschluss der Volksschule kam man auf die Idee, das Einschleifen von Zucht und Ordnung sowie die Grundfertigkeiten zu einer rollenbewussten Haushaltsführung in fremde Hände zu geben. Bensberg war aber nur eine kurze Episode mit einem fluchtartigen Ende. Die anschließende Lehre in der Weinbrennerei Both in Ahrweiler machte sie dann zur Grenzgängerin zwischen Bad Neuenahr und Ahrweiler. In den beginnenden sechziger Jahren heiratete man eigentlich nicht über die Stadtgrenzen hinweg; die Rivalität zwischen den seinerzeit kommunalpolitisch noch unverbundenen Städtchen war legendär.

Sieht man sich frühe Fotos von Michaels Eltern an, so mag man meine Schwester schon auch verstehen können. Der Schwager verkörperte auf einer Skala von 0 bis 100 das Männerbild der ausgehenden fünfziger Jahre ganz sicher mit einem Extremwert – athletischer Körperbau, ausgeprägte männliche Gesichtszüge, starker Bartwuchs. Entscheidender war aber wohl die Männlichkeitsattitüde. Meine zum Auftakt erzählte Einbrecher-Geschichte hatte – wie angedeutet – ganz sicher auch eine endokrine Dimension. Der sogenannte chemotionale overkill war zweifellos ein vernunftminderndes Antriebsmoment. Ganz gewiss war es aber nicht eine strukturelle Variable im Sinne einer auf Permanenz gebürsteten, testosterongesteuerten Männlichkeitsfalle. Das war bei meinem Schwager anders. Willi, mein jüngerer Bruder und ich bewunderten diesen jungen, kraftstrotzenden Mann, der eine andere Weltsicht und eine andere energetische Präsenz in unsere Familie brachte. Und er gehörte ja dann – nolens volens – ruck-zuck dazu. Unser Mittagstisch wurde erweitert. An den Wochenenden allemal saßen wir nun zu sechst am Küchentisch in der Kreuzstraße 113. Auch hier eine Vorwegnahme kleineren Zuschnitts: Wenn Claudia und ich auch heute noch regelmäßigen Kontakt zu meine Ex-Schwager pflegen, dann beruht dies auf einer fortgesetzten Loyalitätshaltung gegenüber seiner verlustig gegangenen Schwiegerfamilie, die mir bemerkenswert vorkommt. Hier war die Integrationsfigur unsere Mutter. Ganz gewiss kann man von einer respektvollen, dankbaren Haltung gegenüber Ullas Mutter sprechen. Und dies bedeutet nicht im Geringsten eine auch nur halbwegs sichtbare Differenz gegenüber unserem Vater. Ernst betont bis heute, dass er in der Kreuzstraße 113 zum allerersten Mal Familie in einer umfassenden, für ihn ungewohnten Form erlebt habe. Diese Haltung hat die gescheiterte Ehe überdauert. Die Differenz, die sich aufbaut im Zuge einer männlichen Identitätssuche sowohl zu seinem Sohn als auch zu mir, berührt einen lebensbegleitenden Grundkonflikt, an dem wir auf unterschiedliche Weise die Erosion eines klassischen männlichen Selbstbildes nachvollziehen werden.

Der Schoß der Familie war ein weicher und tiefgründiger für meinen Neffen Michael. Meine Cousine Gaby konnte es kaum erwarten, ihn endlich in Augenschein und auch in den Arm zu nehmen, nachdem sie sein Zur-Welt-Kommen verpasst hatte. In ihren Erinnerungen an einen traumatischen, sechswöchigen Erholungsaufenthalt an der Nordsee (Wyk auf Föhr) deutet sie an, dass sie an jedem noch verbleibendem Tag die Stunden und die Minuten zählte, bis sie endlich nach Hause durfte. Natürlich weiß ich das alles, weil ich inzwischen schon so unendlich alt bin. Das Ei, aus dem ich gekrochen bin, lag ja in genau so einem Nest, wo man als Säugling und als Kleinkind alles bekommt, auch wenn nichts da ist. Michaels Ankunft erfreute eine Uroma, einen Uropa, eine Oma, eine Großtante, zwei Onkel und eine Großcousine. Da konnten die Eltern getrost ihrer Arbeit nachgehen. Für alles war gesorgt. Vergessen habe ich jetzt den Opa. Allein am liebevollen und ehrenden Andenken, das ihm sein Enkel bewahrt, lässt sich ermessen, in welch sicherem Hafen sich das Schiffchen des Heranwachsenden bewegte. Ein zweites Mal zeigte sich, dass dieser Theo Witsch nicht ganz von dieser Welt war.

Mein Freund Hans, der sich einige Jahre in häuslicher Gemeinschaft mit dem Sohn seiner Lebensabschnittsgefährtin arrangieren musste, hat mehrfach betont, dass er – wäre er ein Löwe – die missratene Brut (seine Worte) längst totgebissen bzw. weggebissen hätte. Entspannung kehrte in der Tat erst wieder ein, als der Sohn sich entschloss, sich fortan in väterliche Obhut zu begeben. Die kleine Randbemerkung zeigt, dass eine erkennbar vollständige Akzeptanz blutsmäßig artfremder Familienmitglieder (aus der Sicht des Vaters bzw. Großvaters) – zumal noch in der Ausprägung einer liebevollen Zuwendung – alles andere als selbstverständlich ist.

Es ist in der Tat hier nicht die Rede von einer oft beobachteten blinden Loyalitätshaltung der Kinder und Enkel ihren Eltern/Großeltern – insbesondere dem blutsmäßig nicht verwandten Stiefvater/Stiefgroßvater gegenüber; das ganze Gegenteil ist der Fall: Zeit seines Lebens – je älter er wurde, umso intensiver – praktizierte Theo Witsch eine rückhaltlose Loyalität seiner Stieftochter und seinem Stiefenkel gegenüber.

Was Michael für seine Großmutter bedeutet haben mag, beschäftigt mich bis zum heutigen Tag. Da kam ein Wesen zur Welt, das in unmittelbarer Blutslinie zu Franz Streit stand – ein durchaus besonderes Menschenwesen. Ohne Franz Streit keine Ursula – ohne Ursula kein Michael. Wir schauen heute unsere Enkelkinder an und rätseln, welche Linie sich hier wohl zeigt. Ich folge auch hier George Steiner, der andeutet, dass das Universum, das sich in einem Menschen heranbildet und verkörpert, mit dem Libidinösen gleichzusetzen… es mit biogenetischen, fortpflanzungsbezogenen Präferenzen zu erklären, einer fast verächtlichen Reduktion gleichkommt. Und auch wenn ich ihm folgen möchte in der Annahme, dass alle Zweifel an genetischer Vaterschaft, sofern sie zu den schmerzhaften Verrücktheiten der Eifersucht führen mögen, aus einer sozialen Perspektive kontraproduktiv sind, so gehören sie doch zweifelsfrei zu unseren alltäglichen banalen Erfahrungen. Das Schuldenkonto Hildes – der Mutter, Großmutter und Ehefrau – mag auf diese Weise nochmals angewachsen sein; zumal angesichts eines Ehemannes, Stiefvaters und Stiefgroßvaters, der dem sozialen Imperativ folgte und keinerlei Tötungsphantasien an den Tag legte. Es mag ihm keiner Überlegung wert gewesen sein. Er hatte eine (Stief-)Tochter, der er zu keinem Zeitpunkt stiefväterlich begegnete. Dies übertrug er nahtlos auf den Enkel Franz Streits. Die Zuspitzungen, die ich hier bewusst auch in einer nüchternen sprachlichen Logik erzeuge, indem ich zwischen sozialer und genetischer Großvaterschaft switche, sollten uns zumindest dazu ermuntern, beide Aspekte gleichermaßen in Augenschein zu nehmen.

Wir sind also in einem ehrenwerten Haus aufgewachsen, das in der Folge – hinein in die wilde Zeit der Endsechziger und der frühen siebziger Jahre – all die Qualitäten offenbarte, die man im besten Sinne mit der Vorstellung von einem offenen Haus verbindet. Hier war jeder willkommen, hier hatte jeder Zugang, hier wurde niemand abgewiesen oder ausgeschlossen. An den Samstagen fanden sich am Mittagstisch häufig Gäste, die Willi oder ich mitbrachten – Schulkameraden, Freunde, später selbstverständlich die Freundinnen der Söhne. Dieses lebendige, offene Haus ließ uns alle Möglichkeiten; Rudi Krawitz würde sagen: „Wir mussten nichts – und durften alles.“ Dies funktionierte sicherlich auch deshalb so reibungslos, weil die private und die öffentliche Dimension der Familie über viele Jahre aufging im Engagement für den Fußballverein, dessen sinngebende und sozialisationsmächtige Bedeutung wir bereits alle mit der Muttermilch in uns aufgenommen hatten. Bis zum letzten Tag seines Lebens hat mein Vater – wie so viele andere seiner Generation – das Seelenschmalz und das Gelenkschmiere für ein reges, vielfältiges Vereinsleben verkörpert. Mir ist heute wichtig zu wissen, dass mein Vater den Niedergang seines innig geliebten SC 07 Bad Neuenahr nicht mehr miterleben musste; mit der sinngebenden Bedeutung des Vereinslebens ist hier ein essentielles Identitätsmoment gemeint, dessen Verlust für unsere Väter ein krisenträchtige Enttäuschung bedeutet hätte. Kurzum, die Spielsaison, die vereinsmäßig organisierten Feste und Unternehmungen hatten im Jahreskreis ihren festen Platz im Sinne vollkommener Alternativlosigkeit. Zwei Beispiele veranschaulichen diese Behauptung auf eindrucksvolle Weise. Kirmes – im Oktober – wäre ohne das Festzelt des SC 07 eine schale Angelegenheit geblieben, genauso wie die vereinsgestützten Anstrengungen zur Fastnacht. Hier ist mein Bruder in die Fußstapfen unseres Vaters getreten – 25 Jahre lang haben die Sportkameraden  um meinen Bruder herum ein Wilfried-Witsch-Gedächtnisturnier organisiert, um seiner zu gedenken.

Das ehrenwerte Haus hat sich gewandelt im Laufe der Jahre und Jahrzehnte. Die enge Welt in Klein-Frankreich hat Freigeister hervorgebracht. Es ist eine untergegangene Welt, die heute nur noch in der Erinnerung lebt. Eine erste folgenreiche Zäsur ist sicherlich mit dem Tod unseres Vaters verbunden. Die allerdings wäre noch im generativen Wechselspiel zu verkraften gewesen, wäre ihm nicht 1994 mein Bruder gefolgt. Die zentrifugalen Kräfte gewannen an Einfluss und ihre Dynamik war weder in ihren ursächlichen Zusammenhängen erkennbar noch beherrschbar.

 Ein ehrenwertes Haus III - Erosion und Verfallserscheinungen (16)

Um einen Laden zusammenzuhalten braucht es viele Arme und einen langen Atem. Eine Zentrifuge übt auf diejenigen, die ihr ausgesetzt sind, die unterschiedlichsten Wirkungen aus. Während die einen sich anklammern und den Fliehkräften trotzen, nutzen sie andere einem Katapult gleich, um Abstand zu gewinnen. Mitte der sechziger Jahre war es meinem Schwager gelungen, als städtischer Angestellter die Leitung des Ahrweiler Freibades zu übernehmen. Dazu gehörte eine Dienstwohnung innerhalb des Schwimmbadgeländes. Michael war Ende der sechziger Jahre der zweite aus unserer Familie, der ein Gymnasium besuchte. Nach dem Abitur entschloss er sich entgegen seiner Neigungen – die hätten ihn vermutlich zu einem (Lehramts-)Studium der Fächer Germanistik und Geschichte veranlasst – zu einem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn. Er wohnte anfangs noch zu Hause. Unterschiedliche Lebensauffassungen belasteten zunehmend das Verhältnis zu seinen Eltern. Mein Schwager und meine Schwester beantworteten dies mit einer eher autoritären Haltung; sie weigerten sich vor allem, ihn dabei zu unterstützen, seine Wohnung an seinen Studienort nach Bonn zu verlegen. Willi, Gaby und ich entschlossen uns ihn mit vereinten Kräften finanziell zu unterstützen, so dass er – gegen den Willen seiner Eltern – gemeinsam mit seiner damaligen Freundin nach Bonn zog. Sehr viel später ist zumindest mir bewusst geworden, dass diese Intervention einer ziemlich verqueren Form eines Kontenausgleichs gleichkam. Die Idee des Kontenausgleichs bekam nach dem viel zu frühen Tod meines Vaters zusätzliche Nahrung. Die Konflikte zwischen meiner Schwester und der Mutter wurden schärfer; anfänglich noch durch den Einfluss meines Schwagers abgemildert. Er vertrat die konsequente Haltung, dass das Rühren an der Vergangenheit nichts als ein demonstrativer Akt der Undankbarkeit darstelle. Die beiden entfernten sich zunehmend voneinander bis zum offenen Bruch 1992 und der anschließenden Scheidung. Die Männer verschwanden aus unserer Familie – zuerst mein Vater, dann mein Schwager und schließlich mein Bruder. Michael hatte den Absprung nach Bonn geschafft und vermied es selbstredend auch bei seiner Rückkehr aus Bonn noch einmal mit seinen Eltern unter einem gemeinsamen Dach zu wohnen. Meine Schwester entschloss sich nach Jahren der Einsamkeit zu einer zweiten unglücklichen Ehe mit einem Zivilangestellten im Verteidigungsministerium (Dienstsitz Bonn). Diese Verbindung hatte zumindest den Vorzug, dass die ziellose Suche meiner Schwester nach den väterlichen Wurzeln nicht nur Struktur gewann, sondern auch einen erheblichen Motivationsschub erfuhr.

Ich fand mich – wie schon so oft – in der Rolle des Mediators wieder. Meiner Mutter konnte ich vermitteln, dass ihre Söhne – auch ihr 1994 verstorbener jüngster Sohn – den Bemühungen ihrer Tochter nach einer Klärung ihrer väterlichen Herkunft immer positiv und verständnisvoll gegenüber standen, und dass es nun an ihr sei, die Tochter zu unterstützen.

Ulla wusste zumindest, dass ihr Vater Österreicher war – so viel hatte sie von ihren Tanten erfahren; auch der Vorname Franz war gefallen. Bevor sich die Mutter nun so weit öffnete, dass die Suche trennschärfer werden konnte, hatten wir alle erdenklichen Versuche gestartet, die allesamt nicht zielführend waren. Erst die Kombination des Namens Franz Streit und seine wahrscheinliche Nationalität als Österreicher sowie der Hinweis, dass er sich als Rekonvaleszent zu einem Erholungsurlaub im Spätsommer 1941 in Bad Neuenahr bzw. in Ahrweiler aufgehalten hat, führte dann schließlich und endlich zum Durchbruch. Meine Schwester bekam die Mitteilung, dass die Familie wohl zuletzt in Mistelbach/Österreich gemeldet war. Nach einigen Fehlversuchen erhielt sie die Telefonnummer eines Mannes in Mistelbach, der nach wenigen Sätzen zu ihr sagte: „Auf diesen Anruf haben wir 40 Jahre gewartet!“ Es handelte sich um einen Neffen Franz Streits, den Sohn seiner Schwester Julie, der sofort die Zusammenhänge herstellte und meiner Schwester – seiner Cousine – erklärte, wie sich dieser Hinweis erklärte, seit 40 Jahren auf diesen Anruf zu warten. Von ihm erfuhr sie umgehend, dass aus der Ehe Franz Streits mit seiner Frau zwei Söhne hervorgegangen waren. Er vermittelte ihr die Telefonverbindungen, und die Geschichte nahm endlich ihren erhofften Verlauf. Das alleine ist ja schon eine gewagte Annahme, denn die Kontaktaufnahme glich ja einem ungedeckten Scheck – vor allem Ulla, meine Schwester konnte ja nicht wissen, wie ihre Brüder reagieren würden. Es ist anzunehmen, dass ihr Blutdruck mächtig durch die Decke schoss, als sie erstmals einer der Söhne ihres Vaters am anderen Ende der Telefonverbindung abhob. „Das Abwesende muss präsent gemacht werden, weil der größere Teil der Wahrheit in dem steckt, was abwesend ist.“ Diese Anregung Adornos hat sich in der Enthüllung des so lange Abwesenden tatsächlich für meine Schwester und ihre beiden neu hinzugewonnenen Brüder bestätigt. Das Auffinden des Verborgenen bedeutet für beide Seiten bis heute ein Gewinn. Wahr ist aber auch, dass dort, wo sich für meine Schwester eine lang gehegte Sehnsucht erfüllt hat, für ihren Sohn die Ambivalenz deutlich überwiegt. Er kann zwar seinen beiden späten Onkeln begegnen, eine Auseinandersetzung mit seinem Großvater hingegen lehnt er strikt ab.

Nun werde ich im nächsten Jahr siebzig, meine Schwester wird 80 Jahre alt und ihr Sohn vollendet die 60 Jahre. Solange ich zurückblicke auf diesen Teil meiner Familie, erinnere ich zuerst den tiefen Unfrieden, der seine Nahrung zieht aus der eklatanten Ungeeignetheit der beiden Elternteile füreinander. Bis in das Jahr 2014 dauerte der Krieg der beiden Eheleute, zwischen dessen Fronten der gemeinsame Sohn stand – er hat als Jurist im Übrigen auch die Scheidung seiner Eltern begleitet. Genau so gewaltig war der Zorn auf Vater und Mutter, dass es zu zeitweiligem Hausverbot für die beiden führte: „Ich kann meine Mutter nicht leiden“ und „Ich bin nicht so wie mein Vater“ – dies waren lange die Leitsätze meines Neffen. Die Eltern hingegen, die zweifellos Krieg gegeneinander führten – mit übler Nachrede, mit gegenseitiger Abwertung und Missachtung, konnten den Zorn und schließlich die lebensbedrohliche Erkrankung ihres Sohnes nicht in einen Zusammenhang bringen mit ihrer unseligen Kriegsführung. Ihr Sohn erlitt 2008 einen völligen Zusammenbruch mit einem kombinierten Herz- und Hirninfarkt. Er verbrachte nahezu drei Monate in der Uni-Klinik Bonn, fast acht Wochen davon in einem künstlich herbeigeführten Koma.

In der Summe gibt es eine lange Kolonne von erkennbaren – auch selbst eingeräumten – Fehlern auch im Sinne von falschen Weichenstellungen im eigenen Lebensentwurf – bzw. –vollzug. Michael hat nach seiner Erkrankung Abstand nicht nur von seiner beruflichen Tätigkeit genommen, sondern er hat im Sinne einer Generalabrechnung auch mit seinem Berufsstand gebrochen. In dieser Abrechnung klangen Töne an, wie sie vielleicht am eindrücklichsten Michael Stolleis in einem Beitrag „Furchtbare Juristen“ (in: Deutsche Erinnerungsorte II, C.H. Beck, München 2003, S. 538) kompakt zusammenstellt:

„Juristen sind akademisch ausgebildete Spezialisten. Im 20. Jahrhundert bedeutet dies in Deutschland eine vier- bis fünfjährige Universitätsausbildung mit Staatsexamen, eine staatlich geleitete und finanzierte ‚Referendarausbildung‘, in der Praxis von etwa zweieinhalb bis drei Jahren, schließlich eine zweites, das ‚Große‘ Staatsexamen. Das Ergebnis ist der ‚Volljurist‘, der in Deutschland etwa dreißig Jahre alt ist und nun, nach einer weiteren Einarbeitungszeit von zwei bis drei Jahren, endlich zur Praxis verwendet werden kann. Kommt noch ein Doktorgrad hinzu, dann müssen noch einmal etwa zwei Jahre Lebenszeit hinzugerechnet werden.
Dieser lange Lauf durch die Hörsäle, Bibliotheken, Repetitorien und Prüfungsräume hinterlässt Spuren in der Seele. Im kreativsten Jahrzehnt des Lebens lernen die Adepten wenig über Freiheiten, aber alles über deren Schranken, ja über die Schranken der Schranken. Wichtig sind nicht die Inhalte der Freiheiten, sondern der Vorgang des methodisch angeleiteten ‚Abwägens‘ konkurrierender Freiheiten. ‚Jede Lösung ist vertretbar, Sie müssen es nur richtig begründen‘, hören die Studenten unentwegt. Also fragen sie: Was sagt die h.M. (herrschende Meinung)? Was sagen Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht? Wer ihnen folgt, ist als Anfänger gut beraten; denn es kann nicht ‚falsch‘ sein. Die ganze Apparatur der Juristenausbildung dient, kurz gesagt, nicht nur der Vermittlung von Kenntnissen, sondern ist zugleich auch eine Wegstrecke der Sozialisation. Am Ende sucht der juristisch ausgebildete Verstand schon instinktiv diejenige Lösung, mit der man sich im Rahmen des ‚Vertretbaren‘ hält, ‚Mindermeinungen‘ vermeidet, kurzum: am wenigsten aneckt.“

Mit Ende vierzig hat sich die Masse der Juristen etabliert, ihre Nische gefunden und führt zumeist ein angepasstes und auskömmliches Leben. Was sich bei meinem Neffen zuspitzte, vereinte alle Elemente einer ausgewachsenen Krise in der Lebensmitte und endete in einem Desaster. Meilenweit von irgendeiner Auskömmlichkeit entfernt, wurde er zu einem Versorgungsfall, dem fortan nur ein unzureichender Anspruch aus dem Versorgungswerk der Rechtsanwaltskammer zustand. Intakte berufliche Identität ist ein wesentlicher Bestandteil personaler Identität.  Ihr Verlust hatte nicht nur materielle Konsequenzen, sondern erzeugte in der Folge eine vollständige Identitätskrise, die auch innerfamiliäre Spannungen und Konflikte nach sich zogen. Schon nach wenigen Seiten bricht das Manuskript zu einer weit ausholenden Spurensuche – nach einer Einleitung: Bevor es losgeht – ab. Das Motiv für diesen Aufbruch begründet mein Neffe für mich auf nachvollziehbare Weise unter anderem damit, dass er – trotz aller Vorbehalte – „und nicht ohne ein wenig Vergnügen“ von den Menschen seiner Familie, seiner Herkunft und Heimat berichten wolle, „vor allem damit meine Kinder irgendwann nachlesen können, was mir wert erscheint, nicht vergessen zu werden“.

Daran unmittelbar schließt sich der Hinweis an, verzichten zu wollen auf die Suche nach Erinnerungen an Menschen, „die mir niemals begegnet sind“, und über deren Leben man ja nur „vom Hörensagen“ berichten könne: „Mir fehlen  Überzeugung und Glaube daran, dass diesen Abstammungslinien eine wichtige Bedeutung für mich und meine Kinder zukommt. Meine Wurzeln, wenn man es so nennen mag, liegen mit einer Ausnahme, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, offen zutage. Und etwas Geheimnisvolles ist an dem, wovon ich nun erzählen möchte, auch nicht.“

Die Geheimnisse sind enthüllt. Mit Hildes Geschichte und den akribischen und in diesem Zuge auch dokumentierten Nachforschungen  zur Biografie Franz Streits liegen die Sachverhalte offen zutage. Michael hat noch 2010 in der Begründung zu: Bevor es losgeht bemerkt, dass er – so schwer es ihm auch falle – „die Veränderungen, die sich in allen Bereichen meines Lebens eingestellt haben, als Wirklichkeit anzunehmen, ohne ständig Klage darüber zu führen“, doch daran glauben wolle, „dass meine sprachliche Ausdrucksfähigkeit noch nicht an ihr Ende gekommen ist, sondern deren langsames Wiedergewinnen möglich bleibt. Solange werde ich eben, was mir erzählenswert erscheint, aufschreiben“.

Ich habe selbst lange darum gerungen, das Wort zu nehmen und eine eigene sprachliche Ausdrucksfähigkeit sowohl zuzulassen als auch zu kultivieren. Erst mit Ende vierzig habe ich systematisch damit begonnen, dem eigenen Ozean des Erinnerns und dem permanenten Anbranden von Gegenwartsmomenten eine Sprache zu geben; die dabei möglichen Absonderungen aufzuspüren und aufzubewahren – in Gedichten, in Geschichten, in mühsamen Selbst- und Fremderforschungen, schlicht in Tagebuchaufzeichnungen.

Nun bewahre ich also den Glauben in mir, mein Neffe möge endlich wieder zur Sprache finden. Und so kommt mir – überaus sentimental, wie ich mir vorkomme – sein eigenes Sentiment wie eine Mahnung vor, dich ich beherzige, und für die ich sein Herz wieder aufschließen möchte, weil ich weiß, dass er Recht hat. Er schreibt:

„Wer seinen Gedanken und Gefühlen mit dem Mund Ausdruck verleihen, sie be-sprechen kann, der besitzt einen wertvollen Schatz, dessen ganze Pracht erst nach seinem Verlust empfunden wird. Aber das ist ja oft so im Leben. Mein spürbarster Verlust ist das Nicht-mehr-Vorlesen-Können. Ich vermisse es sehr, vor allem, weil ich es früher gerne und häufig getan und wohl auch nicht schlecht gekonnt habe.“

Vielleicht möchte ich den Glauben deshalb nicht aufgeben, weil ich meinen Neffen zwar nie als Vorleser erlebt habe; aber ich habe ihn erlebt als wortmächtigen und kultivierten Beobachter des Zeitgeschehens. Der Schmerz will nicht weichen. Er speist sich aus der Annahme, dass jemandes Aufbruch versiegt – schon Bevor es losgeht –, weil ihm die Komplexität und die Widersprüchlichkeit all dessen, was Beobachtung uns zumutet, den Gestaltungswillen und den Mut zur Auseinandersetzung nimmt. Dass die Krise in der Lebensmitte sich verstetigt, mag darin einen authentischen Ausdruck finden. Mehr noch drängt sich dem fernen Beobachter ein Eindruck auf, der mit einem schleichenden und subtilen Prozess der Aushöhlung und Auszehrung der auf Liebe – nichts als der Liebe – gründenden sozialen Kernbeziehungen einhergeht. Weiter oben steht eine Bemerkung, die ich mir selbst – tatsächlich gespeist aus den vielen beobachteten Niedergängen einstmaliger Liebesbeziehungen – mit auf den Weg gegeben habe:

In einem ersten Gespräch über diese Aufzeichnungen mit einem langjährigen Freund, kamen wir auf die Schwierigkeiten zu sprechen, erstens die Frage redlich zu beantworten, wen all dies hier überhaupt interessieren könnte? Zweitens, wen es überhaupt etwas anginge? Und drittens, ob man nicht um des lieben Friedens willen sowieso den Blick viel besser nach vorne richten, und die Vergangenheit (endlich) auch Vergangenheit sein lassen sollte! Und mehr noch stellt sich die Frage, ob genau diese letzte Empfehlung nicht so etwas sei, wie die Überlebensgarantie für so viele, die beim Betrachten ihrer Vergangenheit ohnehin zu Totstellreflexen neigen (müssten)!

Die heute alltäglichen Konstellationen von Familiengeschichten enthalten zuhauf jene Zutaten, die sich auch rückblickend nicht mehr zur Zubereitung eines schmackhaften Menüs oder auch nur einer Notspeisung eignen. Und der ein oder andere mag dann vielleicht ins Grübeln geraten: So vielen bist Du gleichgültig, und so viele sind Dir gleichgültig geworden. Beziehungen sind flüchtig, waren immer nur Episoden und dort, wo sie Generativität nicht verhindern konnten, hast Du Deine Kinder aus den Augen verloren; Du bist ihnen fremd, und sie sind dir fremd. Irgendwann beginnen Deine Enkel zu fragen: wer sind wir, wo kommen wir her, wer ist uns vorausgegangen? Und wer mag uns antworten?

Nähe – Abstand schafft Beziehung: Symmetrie und Asymmetrie in Beziehungen (17)

Lebt man weit über die Lebensmitte hinaus, dann weiß man, dass die Lebensweisheit: „Es ist selten zu früh, und niemals zu spät“ nicht wirklich überzeugt. Selbstverständlich kann man vieles im Leben versäumen, so dass man selber irgendwann an eine Grenze stößt, die man gemeinhin mit jenem point of no return bezeichnet, hinter dem das Niemandsland beginnt, hinter dem wir absinken in den unendlichen – jeder Chance eines Erinnerns – entzogenen Raum des ewigen Vergessens und des Vergessen-Seins. Vor diesem Abgrund schrecken viele Menschen zurück. Immer weniger Menschen finden Trost in den großen Erzählungen, die uns als Lebenden die Wurzeln unserer Identität suggerieren wollen. Vielfach ist die Rede vom Ende der großen Erzählungen. Aber was tritt dann an deren Stelle? Viele kleine Erzählungen? All diese Fragen entscheiden sich heute mehr denn je im Zuge der Regulation von Nähe und Abstand.

Der obige Hinweis auf heute alltägliche Konstellationen von Familiengeschichten hängt auch zusammen mit der Beobachtung, dass viele Menschen davor zurückschrecken, überhaupt einmal zurückzuschauen. Zu welchen Ergebnissen kommen wir, wenn wir über die wesentlichen Beziehungen, in denen wir leben und gelebt haben, nachdenken? Welche Welt tritt da zutage – zwischen Wahlmöglichkeiten und Festlegungen? Für uns Ältere erweist sich der Blick zurück häufig als erschreckend und schmerzhaft. Schauen wir beispielsweise in Familienalben, begegnen wir Bildern, die noch Unikate waren; konfrontieren wir uns doch mit einer Zeit, da Instagramm noch eine vollkommen willkürliche und sinnfreie Buchstabenfolge bedeutete. Wir treten ein in eine Zeit, in der es noch nicht möglich war, in Bilderfluten untergehen und unkenntlich zu werden. Unter dem Gesichtspunkt von Wahlmöglichkeiten und Festlegungen eröffnen uns die alten Alben mit ihren eingeklebten vergilbten und verblassten Schwarz-weiß-Fotos die verkrusteten, zementierten Beziehungsverhältnisse in unseren Herkunftsfamilien. Jedes erinnerungsträchtige Foto offenbart, wie es vermeintlich ein für allemal war in unserer Kindheit und in unseren Familien. Kaum jemand vermag hier Spielräume für Wahlmöglichkeiten entdecken, trotz der Verheißung, dass es nie zu spät sei für eine glückliche Kindheit!

Das ein oder andere Mal kommt es vor, dass gute Freunde mir Aufzeichnungen anvertrauen mit der Erwartung – gar dem Versprechen, sie diskret und vertraulich zu behandeln. Sie seien nicht für eine Öffentlichkeit gedacht; eine Öffentlichkeit, der sich viele Menschen andererseits aussetzen, indem sie posten und mit Blick auf das, was sie (auch) umtreibt, zu verbergen suchen, wer und was sie eigentlich sind. Freilich ist es auch mit der Eigentlichkeit nicht weit her. Gleichwohl sind aber bei vielen – zumindest meiner Generation – Reflexe noch aktiv, die ihnen suggerieren – trotz aller nach öffentlicher Wahrnehmung gierenden Selbstvergewisserung – das Eigentliche im Verborgenen zu belassen: Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll! (Peter Sloterdijk) Dieses Grundgesetz eines takt- und respektvollen Umgangs miteinander ist genauso ambivalent und fragil, wie die unausgesprochene Prämisse im Umgang miteinander, wir sollten tunlichst unsere Eigentlichkeit als unseren eigentlichen Identitätskern schützen und nicht ständig allerorten mit heruntergelassenen Hosen herumlaufen.

Wenn z.B. die Realsatire – wie sie Ingo Appelt Berti Hahn in seiner Gratulation zum 40jährigen Jubiläum des Café Hahn angedeihen lässt – zum unverblümten Exhibitionismus gerät, dann will man nichts mehr  verbergen. Selbst die Ungeniertheit, die aus einem ruinierten Ruf resultiert, ist dann keine sinnvolle Unterscheidung mehr. Man versteht, warum Face-Book und Instagramm tatsächlich den gläsernen Menschen in einer gläsernen Welt meinen. Die lapidarste Erklärung für einen Striptease der erwähnten Art ist rein pecuniärer Art – pecunia non olet! Ingo Appelt – dat Äppelche – macht dem Berti auch heute noch die Bude bis auf die letzte Kloschüssel voll, wenn nicht gerade corona der Corona im Wege steht. Insofern haben wir es bei Berti Hahn und Ingo Appelt mit einer sogenannten symmetrischen Beziehung auf Schwanz- bzw. auf Augenhöhe zu tun. Berti Hahn hat dies bestätigt, indem er die Jubiläums-Laudatio Ingo Appelts auf seiner Face-Book-Seite gepostet hat, wir mir erzählt worden ist.

Dirk Baecker (Nie wieder Vernunft, Heidelberg 2008, S. 627-633) hilft uns zum besseren Verständnis mit einer schlichten Unterscheidung von symmetrischen und asymmetrischen Beziehungen auf die Sprünge:

„Wer auch immer in symmetrischen Beziehungen Erfahrungen sammeln durfte, weiß, dass darauf Verlass ist, dass irgendwann der Punkt kommt, an dem man aus dem Wissenwollen ins Handelnwollen umkippt, weil man merkt, dass man anfängt, zu viel zu wissen, was man so dann doch nicht wissen will. Die Asymmetrie, das dürfen wir nicht vergessen, ist auch eine Markierung der Grenzen einer Beziehung, nämlich eine Definition dessen, was in ihr sachlich zu erwarten, sozial auszuhalten und zeitlich zu gewärtigen ist. Der Reflexionsraum der Symmetrie ist unerträglich offen im Verhältnis zu den Regeln der Asymmetrie, die mich darüber informieren, wer was darf,  worum es geht und wie lange es dauert.“ (Bei Berti und dem Äppelchen war der Kipppunkt offenkundig erreicht, und eine wohltuende Asymmetrie offenbart, wer was darf, worum es geht und wie lange es wohl dauert.)


Welche Welt tritt da zutage – zwischen Wahlmöglichkeiten und Festlegungen? (18)

Mit den Unterscheidungen, die uns Dirk Beacker anbietet, lässt sich der soziale Raum noch einmal neu vermessen. Und viele der Nöte, der Konflikte – manchmal auch Ausweglosigkeiten –, die wir in uns verspüren und die wir bei anderen beobachten, werden verständlicher. Dabei hilft mir eine Metapher, wie sie Dirk Baecker in den Raum stellt:

„Stellen Sie sich vor …] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen.“

Mir ist das widerfahren. Ich werde weiter unten erzählen, wie ich beinahe verrückt geworden wäre. Zuvor möchte ich allerdings an Beispielen erläutern, warum uns die Unterscheidungen Dirk Baeckers tatsächlich helfen können, den Sinn im Unsinn oder den Unsinn im Sinn besser zu verstehen. Beginnen wir einmal mit der Unterscheidung von Symmetrie und Asymmetrie. Zu Beginn ist das ganz simpel: Zwischen Säugling und Mutter, zwischen Kleinkind und Mutter – zwischen Heranwachsenden und Eltern gibt es keine Symmetrie. Im Normalzuschnitt familiärer Triangulation gibt es nichts unerträglich Offenes. Es herrschen – wenn man Glück hat, im Modus liebevoller Zuwendung – die Regeln der Asymmetrie, die bestimmen, wer was darfworum es geht und wie lange es dauert. Auch in diesem Regelwerk gibt es selbstredend ein unendliches Maß an Variation.

Beginnen wir einmal mit der schlichten Erfahrungswelt eines Muttersöhnchens: Aus der Sicht eines Muttersöhnchens lässt sich summa summarum resümieren, das der Muttersohn den Schub zum Erwachsen-Sein erst mit dem Sterben der Mutter erfuhr (siehe das Schlusskapitel in Hildes Geschichte). Das dauerte in unserem Fall ein knappes halbes Jahr. Am 27. Juli 2003 – nach einem langen intensiven Abschied, den wir in allen Nuancen, wie einen Schierlingsbecher, bis auf den Boden ausgekostet bzw. ausgetrunken haben, entließ sie mich endgültig ins Leben. Sie gab mir ihre besten Seiten mit auf den Weg, und ich steckte den Schierlingsbecher weg. Alle Kraft und Energie – mit der sie weiß Gott im Übermaß gesegnet war – ging auf mich über. Für den Rest des Jahres (2003) war ich nicht von dieser Welt. Begonnen hatte all dies natürlich mit meiner ersehnten Geburt am 21. Februar 1952. Ich war der Augapfel meiner Eltern – bis Willi, mein Bruder, dazu kam. Von da an konnten die beiden auf beiden Augen sehen.

Mein Vater – dies habe ich schon mehrfach betont – war mit drei Augen gesegnet. Er hatte den Blick für seine Adoptivtochter und hütete sie (und ihren Sohn), bis er seine Augen endgültig schloss. Das war leider schon im April 1988 der Fall. Dass wir alles durften und nichts mussten, trifft die Wahrheit nicht ganz. Aber für alles, was wir anpackten, gab es den notwendigen Rückhalt. Unser Vater war weder zimperlich bei den Konsequenzen, die aus einem Fehlverhalten drohten noch bei unverhofften Solidaritätsbekundungen. Vor Gericht hat er einmal den Amtsrichter ermuntert, seinem jüngsten Sohn eine ordentliche Lektion zu erteilen, weil er – gemeinsam mit anderen – eine stämmige, gesunde Birke aus dem Neuenahrer Kurpark zwecks Verwendung als Mai-Baum (Ritual am 1. Mai im Rheinland, um das Herz der Erwählten aufzuschließen bzw. zu beglücken) gewildert hatte. Mir gegenüber hingegen ließ er absolute Milde walten, als ich ihm nachts – wenige Stunden vor Antritt einer Klassenfahrt nach Berlin – schuldbewusst den in einem Anfall akuter Liebesblödigkeit geschrotteten VW meiner Cousine (die in England weilte) vor die Türe stellte. Er drückte mir hundert  Mark in die Hand, wünschte mir augenzwinkernd viel Spaß in Berlin mit der Zusicherung, sich zu kümmern. Nachsicht und absoluter – ich möchte sagen bedingungsloser – Rückhalt zeichneten die Haltung beider Elternteile gleichermaßen aus.

Früh begleitete mich die Sorge um die Eltern. Schon in meinem achtzehnten Lebensjahr bangte ich um das Leben meiner Mutter. Nach der Entfernung der Gallenblase ergaben sich Komplikationen; eine Not-Operation wurde notwendig. Es entwickelte sich eine Krisis, die letztlich dazu führte, dass meine Mutter – seinerzeit noch die letzte Ölung (die Sterbesakramente) erhielt.. Meine Mutter erholte sich, um aber dann wenige Jahre später eine – vermutlich – wechseljahrbedingte Epilepsie auszubilden. Es dauerte recht lange, bis die unangenehmen, belastenden Anfälle durch eine zielführende Medikatierung minimiert werden konnten. Dafür kränkelte zunehmend unser Vater – wie weiter oben schon angedeutet – auch ausgelöst und begünstigt durch seine Kriegsversehrtheit. Theo Witsch, der Begründer des buena vista social club innerhalb eines Fußballvereins, musste seine Tätigkeit als Croupier im Spielcasino Bad Neuenahr aufgeben, arbeitete einige Jahre als Bühnenmeister im Kurtheater, bevor er Frühinvalide wurde. Die letzten Jahre widmete er sich seiner Familie und – wie gesagt – seinem heiß geliebten Fußballverein; er war Kärrner und Seele, Fan und Unterstützer in Personalunion.

Wem dies alles zu idyllisch, zu rosa-rot, zu inkonsistenzbereinigt vorkommt, dem sei versichert, dass die von Dirk Baecker angebotene Unterscheidung von Symmetrie und Asymmetrie vom ersten bis zum letzten Atemzug als Leitunterscheidung bestand hatte. Ich möchte es nicht Regeln nennen, sondern Habitus bzw. bindungsspezifischer genetischer Code, die in einem radikal asymmetrischen Beziehungsfeld gleichermaßen keinen Zweifel daran ließen, wer was durfte und die vor allem präzise die Informationen enthielten, worum es (eigentlich immer) geht und ging. Dass sie darüber entschieden hätten, wie lange es dauert, ist nur insofern richtig, als es so lange dauerte, wie es dauerte; nämlich ein endliches ganzes Leben lang! Die von Karl Otto Hondrich im sozialen Feld der Familie betonten Kategorien der Bindung, der Geborgenheit, der Entschiedenheit und der Zugehörigkeit sind von meinen Eltern erfunden und gelebt worden.

Verlässt man das familiale Umfeld und beobachtet sich mit Blick auf die ersten Liebesbeziehungen, so wird schnell deutlich, dass – wie Dirk Baecker – betont, der Reflexionsraum der Symmetrie irgendwann fragwürdig, gar unerträglich wird, selbst wenn man felsenfest davon überzeugt ist, nichts anderes anzustreben, als die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz (Peter Fuchs); und zwar mit nur diesem, und nur diesem einen einzigen Menschen! Paradoxerweise ergibt sich aus der Ernüchterung für denjenigen, der aus diesem Sommernachtstraum irgendwann erwacht, eine radikale Umkehrung. Demjenigen, der an symmetrischer Kommunikation festhält, mit einer nun plötzlich aymmetrisch daherkommenden Haltung zu begegnen, gehört wohl zu den brutalsten Erfahrungen, die man im Liebesleben machen kann. Denn nun wird einseitig und neu definiert, wer was darf, worum es geht und wie lange es dauert. Ist es vorbei, oktroyiert der Erwachte nun für den anderen unverständlich und brutal, dass es vorbei ist. Und wenn es dann nicht nur Wochen und Monate dauert, sondern Jahrzehnte, bis sich die Enttäuschung und die Kränkung aufzulösen beginnt, taucht vielleicht am Horizont eine neue erlösende und auflösende Symmetrie auf. Mit Blick auf die Asymmetrie, die die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz in Frage stellt und relativiert, weist Dirk Baecker darauf hin, dass sie eben die Grenzen einer Beziehung markiert, nämlich die Definition dessen, was zu erwarten ist, was sozial auszuhalten und zeitlich zu gewärtigen ist

 

Ich schreibe, also bin ich! (19)

Und nun stellt sich die Frage erneut: Welche Welt tritt da zutage zwischen Wahlmöglichkeiten, Festlegungen, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Symmetrie und Asymmetrie?

Die letzten 25 Jahre habe ich darüber geschrieben, dass ich nichts anderes konnte als Achterbahnfahren – eine sanfte Achterbahn im Großen und Ganzen, so dass die lange Fahrt mich zeitweise einlullt(e). Dass es eine sanfte Achterbahn war, ist selbstverständlich nichts als eine Selbstbeschwichtigung und hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Die Schwindelattacken setzen unvermittelt ein, wenn ich mich tatsächlich einlasse auf das, was man eine authentische Wahrnehmung des eigenen Driftens in der Welt nennen könnte. Ich vertrage Achterbahnfahrten nicht. Das ist der Grund, warum ich in den Momenten des Absturzes nie das Gefühl hatte, dieser Absturz nähme ein Ende; mir war sterbenselend zu Mute. Allerdings all dies nicht, ohne dass ich vorher in schwindelnde Höhen aufgestiegen wäre wie weiland Ikarus. Im Gegensatz zu ihm habe ich meinen finalen Absturz und alle kleineren Abstürze überlebt, denn: Ich schreibe, also bin ich! Woher ich das alles weiß. Seit 22 Jahren führe ich Tagebuch. Wenn ich eine Ahnung bekommen will davon, wie es war, dann schaue ich in meine Tagebücher. 42 Jahre (siehe: Am Anfang war die Tat) geraten – neben dem Vorher – in den Blick. Fast 368.000 Stunden haben sich addiert. An diesem unvorstellbaren Stundenhaufen lässt sich erahnen, wie Körper und Seele über diese Zeitspanne jene Gestalt annehmen; eine Gestalt vor der wir gleichermaßen erschrocken wie fasziniert innehalten, wenn wir zurückschauen – und vor allem, wenn wir in den Spiegel schauen. Zorn und Schmerz haben ihre Falten und Furchen gegraben, und wenn es gut geht, hinterlassen sie ihre sichtbaren Spuren ebenso wie die offene und verhaltene Freude, wenn wir die Früchte ernten und betrachten, die uns ein langes Leben geschenkt hat.

Ins Erzählen komme ich allein schon deshalb nur mühsam und mit ständigen Vorbehalten, weil Skrupel und Ängste überwiegen. Die Sloterdijksche Devise, dass diskret sei, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll, bedeutet in Selbstanwendung die fatale Konsequenz, sich immer wieder und immer neu zu verfehlen. Man merkt ja – wie Dirk Beacker meint –, „dass man anfängt, zu viel zu wissen und etwas zu wissen, was man so dann doch nicht wissen will“. Wem will man schon zu nahe kommen? Das ganze Geheimnis eines angenehmen Lebens gründet auf der Kunst des Abstands. Dir Baecker schreibt:

"Es ist die Kunst des Abstands, von der hier die Rede ist. Es ist eine Kunst, die mit der Distanz, mit der Differenz, mit dem Unterschied beginnt und sich von dort aus die Verhältnisse anschaut, um sich dann in ihnen und mit ihnen zu entscheiden. Es ist eine Kunst, die in der Lage ist, jede Einheit in eine Beziehung zu übersetzen und aus der Beziehung heraus zu variieren. Wer am längsten stillhält, hat verloren. Wem jene Bewegungen einfallen, die auch den anderen zu einer Bewegung verleiten, hat gewonnen. Leichter gesagt als getan. Aber deswegen reden wir ja auch von einer Kunst. ‚Nahe genug‘ ist mir das, wozu ich einen Abstand suche, weil ich die Beziehung nicht aufkündigen möchte. Ich übersetze fest Kopplung in lose Kopplung, rechne nicht mit der Zukunft, sondern mit der Gegenwart, und weiß, dass die Wahrheit Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen.“

Ja, die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen! Um diese Blockade zu überwinden hilft nur eines: Ich muss das Pferd – meine Geschichten – von hinten aufzäumen. Diese Vorgehensweise bietet den großen Vorteil, dass ich mich sozusagen rückwärts hineinarbeite in eine verrückte Welt, die ich eher ungläubig betrachte ob der Tatsache, dass ich sie überlebt habe. Bereits die Mohnfrau stellt den Versuch dar, das schier Unglaubliche begreifbar zu machen. Ich möchte es erneut versuchen. Dirk Baecker hilft meine Vorgehensweise und meine Motive präzise zu entziffern. Es hilft zunächst einmal mit Blick auf die letzte große Krise zu verdeutlichen, dass mir eine unendlich lange – und zuletzt steile – Lernkurve die Chance eröffnet hat, Handeln zurück in Kommunikation zu übersetzen. Ein überaus delikate und bemerkenswerte Konstellation über Wochen und Monate – und in modifizierter Form über Jahre – hat nicht verhindert, dass wir – Claudia und ich – glücklich sind, in diesem Jahr vor unserer Rubinhochzeit zu stehen. Allein in dieser Tatsache manifestiert sich das vorstellbare Glück in seiner umfänglichsten Dimension: Wir begegnen uns heute – nach vierzig Jahren – mit Blick auf ein fürsorgliches Finale. Wir sind gesegnet mit unseren Kinder und Schwiegerkindern. Unsere Kinder haben uns – in einem unmittelbaren Umfeld, das Abstand und Nähe ermöglicht. Wir haben inzwischen zwei Enkelkinder, und es könnten mehr werden. Generativität erleben wir als großes Glück. So bedeutet das späte Glück – einen starken Anker in den erodierenden sozialen Gefügen; ein solides Fundament der Bindung, der Geborgenheit, der Zugehörigkeit und der Entschiedenheit in einer dynamischen Welt.

Ein paartherapeutisches Husarenstück - Zwischen Durchreise und Landnahme (20a)

„Manchmal sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit zurück. Was läge näher als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in einer Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft – Emotionale Entwicklungen in Paarbeziehungen, Stuttgart 2007, S. 214).“

Als meine Mutter am 27. Juli 2003 starb, bewegte sich mein Schwiegervater zunächst behutsam, dann mit zunehmender Dynamik in die Demenz. Von 2006 an wurde er zuletzt – immerhin drei Jahre andauernd – zum bettlägerigen Schwerstpflegefall. Im März 2010 wurde er von seinen Leiden erlöst. Meine persönliche Lebensführung und –planung war umfassend an diese Entwicklungen gekoppelt; Dirk Baeckers Leitkriterium „das ist nahe genug“ schrumpfte auf ein Minimum an Abstand, weil ich es so – genauso – wollte. Was ich meinem Schwiegervater – meinen Schwiegereltern – verdanke, ist in den vorgeschalteten Aufzeichnungen ansatzweise angedeutet worden. Eine materiell begründete Asymmetrie habe ich im Modus der Dankbarkeit in eine emotional-fürsorgliche Komplementärhaltung übersetzt, die es mir erlaubte, von dem, was sie mir zugedacht haben, etwas zurückzugeben. Der 19. April 2007, von dem im nächsten Abschnitt die Rede ist, bedeutete in mehrfacher Hinsicht in gewisser Weise so etwas wie einen Wendepunkt im System Rothmund – in meinem Tagebuch findet sich unter dem 19.4.07 folgender Eintrag:

„Die Urinflasche nimmt Leo (mein Schwiegervater) nicht an, und seine nächtlichen Eskapaden führen langsam aber sicher zur völligen Auszehrung und Überforderung meiner Schwiegermutter. In der Nacht von Sonntag auf Montag kam eine Eskalationsstufe hinzu, die größten Anlass zur Sorge gibt: Lisa, meine Schwiegermutter, fühlte sich von Leo bedroht. Zum ersten Mal in all den Monaten rief sie mitten in der Nacht – um 2.45 Uhr – an mit einem dringenden Hilferuf. Ich war zehn Minuten später auf dem Heyerberg – einen Schlüssel hatte ich vorsorglich schon seit Monaten. Als ich aufschloss und eintrat, sah ich Leo in der Schlafzimmertüre stehen; meine Schwiegermutter war nicht zu sehen. Offenkundig erkannte er mich sofort. Ich ging auf ihn zu und beruhigte ihn durch beharrliches Zureden. Wir gingen gemeinsam ins Esszimmer und setzten uns dort an den Tisch. Leo versuchte mir zu vermitteln, dass er sich gegen böse Menschen zur Wehr setzen müsse. Erst zehn Minuten später kam Lisa – noch immer blass und zittrig – hinzu. Sie hatte ihren Mann ausgetrickst, ihn ins Wohnzimmer gelockt und dort das Licht ausgelöscht. Geistesgegenwärtig hatte sie das Telefon gegriffen und hatte sich dann über die Küche und die Diele in das rettende, abschließbare Gäste-WC geflüchtet. Anscheinend war Leo aus einem Traum erwacht, aber dabei nicht wirklich wach geworden. Er begann Lisa zu beschimpfen und handgreiflich zu werden: ‚Mach, dass du rauskommst, du dreckiges Luder!‘ Jedenfalls habe ich dann die restliche Nacht auf dem Heyerberg verbracht, meine Schwiegermutter zum Schlafen ins Bett geschickt und mit Leo die Zeit vertrieben. Zum Schluss lagen wir beide in den Liegesesseln im Wohnzimmer und haben die Dämmerung und den Sonnenaufgang über der Karthause erlebt – zeitweise selbst im Dämmerzustand.“

Im Frühjahr 2007 – an diesem 19.  April 2007 – erreichte mich eine e-mail, mit der ein alter Freund aus längst vergangenen Zeiten den Kontakt suchte. Eigentlich hätte die mail an Claudia gerichtet sein müssen, da es sich um ihren ersten langjährigen Freund – ich nenne ihn Freund – handelte. Der Freund – gut zwei Jahre jünger als ich – bewegte sich seinerzeit auf dem Höhepunkt jener Krisendynamik, die als Krise in der Lebensmitte in der Regel nicht eine Individualkrise bleibt, sondern auch in der Paarbeziehung und in der Familie für Turbulenzen sorgt. Wir hatten uns als Familien gegenseitig jeweils einmal besucht in den letzten 25 Jahren. Dass zwei Menschen eklatant ungeeignet füreinander sein können, stand bei den beiden immer außer Zweifel, zumal der Freund diese Lesart selbst bevorzugte und die Heirat erklärte aus einer frühen ungeplanten Elternschaft. Die kleine Familie lebte zunächst am Studienort des Freundes. Die Hochzeit selbst wurde seinerzeit bereits von den Eltern des Freundes boykottiert, weil sie aus ihrer Sicht nicht standesgemäß erschien. Der ältere von zwei Söhnen hatte eigentlich das Zeug dazu, elterliche Erwartungen zu erfüllen. Er schloss sein Studium mit einer Promotion ab und arbeitete zur Zeit unserer Kontaktaufnahme bei einem Global-Player im Management. In einem aufstrebenden Rheinstädtchen hatte man eine alte Villa gekauft und so renoviert, dass sich die Familie – mit inzwischen drei Kindern – ein standesgemäßes Refugium geschaffen hatte. Der Freund hatte auf dem ersten Höhepunkt der manifesten Krise keinen anderen Weg gesehen, als sich eine eigene, kleine Wohnung zu nehmen, um mit Abstand herauszufinden, wohin die Reise gehen könnte. Seine Wurzeln lagen in Neuwied, wo seine Eltern und sein Bruder mit Familie aktuell auch noch lebten. Die Eltern hatten es mit einem gediegenen Bimshandel zu Vermögen gebracht, begannen aber nun – ähnlich wie Claudias Vater – zu kränkeln und waren mit der Organisation des Alltags zunehmend überfordert. Hinzu kam die lebensbedrohliche Krebserkrankung des jüngeren Bruders, dessen berufliche und familiäre Probleme die elterliche Aufmerksamkeit und Fürsorge nahezu vollständig beanspruchten.

So stand der Freund eines Tages im Frühjahr 2007 vor unserer Haustüre. Es beginnt nun eine wunderschöne, über die Maßen romantikträchtige Geschichte, deren Verlauf – eingeschlossen das Handeln der Hauptakteure – nur verständlich wird, indem ich mir gestatte gewissermaßen rückwärts zu erzählen und das Pferd von hinten aufzuzäumen. Denn viele haben mich für verrückt erklärt – oder doch zumindest meine Rolle in diesem Stück nicht verstehen können, weil diese Geschichte nur mit meinem Zutun und gewissermaßen mit meiner Duldung sich so und nicht anders vollziehen konnte. Es ist gewiss ein glücklicher Zufall, dass 2007 Detlef Klöckners „Phasen der Leidenschaft“ (Stuttgart 2007) erschien. Seine Hinweise wirken wie eine Blaupause der Geschehnisse. Er schreibt:

„Die Einhaltung der Treueregel ist oft genug ein Pyrrhussieg der Liebe über die Leidenschaft …] Verlangt ist ein Aufeinander-Eingehen, das Einhaltungen anstrebt und Ausnahmen lösungsorientiert kommuniziert, das sich als Paar fördert, ohne sich persönlich zu vernachlässigen. Das ist einfacher ausgesprochen als getan. Manche Paare versuchen ein gutes Klima herzustellen, indem sie eine ungemütliche Unterscheidung bemühen. Sie differenzieren zwischen Situationen, die passieren, also gleichsam körperlicher Untreue und dem übergeordneten Versprechen, im Zweifelsfall zum bisherigen Partner zu stehen. Die bestehende Beziehung hat auf einer höheren Ebene uneingeschränkte Priorität, und vorübergehende Sekundärpartner erhalten den Stempel von Durchreisenden. Darin steckt durchaus eine Lösung zum Erhalt einer vitalen Beziehungskultur, die aber ein enormes Selbstbewusstsein und viel Vergebungswillen erfordert (S. 216).“

Bei unserer ersten Begegnung hatte von uns dreien keiner eine Ahnung, was das nächste Dreivierteljahr uns bescheren würde. Dass wir alle reich beschenkt worden sind, kann sozusagen als Prämisse vorweggenommen werden. Auch fast vierzehn Jahre später begegnen wir uns freundschaftlich, weil wir alle miteinander unsere Lektionen gelernt haben. Ich teile die Auffassung Detlef Klöckners im Hinblick auf den Vergebungswillen vollständig. Dass wir unter dem Strich und auf lange Sicht miteinander eine win-win-win-Bilanz erreicht haben, mag eine gewagte Behauptung sein – und in einzelnen Nuancen von den Beteiligten auch unterschiedlich bewertet werden. Zu verstehen ist meine Annahme nur unter zwei Maßgaben: Erstens beruhte mein Vergebungswille auf einer Vergangenheit, die mich heilsökonomisch – so würde Peter Sloterdijk es ausdrücken – ins Defizit gebracht hatte und zwar in einem so gewaltigen Umfang und aussichtsloser Überziehung aller Konten, dass ich selbst ohne eine Schuldenerlass-Aktion seitens der Gläubigerinstanz nie mehr aus meiner Schuldenfalle heraus hätte gelangen können. Zugegeben, dies ist meine ganz und gar subjektive Sichtweise – nicht jeder würde sie uneingeschränkt teilen –, aber meinem Lebens- und Schuldgefühl entsprach sie zur Gänze. Dies ist im Übrigen der Grund, warum ich so sehr darauf aus bin, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Zweitens bin ich der Auffassung, dass die Lernkurven, die wir genommen haben, insgesamt im Saldo einen außerordentlichen Reifeschub ausgelöst haben. Gewiss sind die Kurvenverläufe unterschiedlich steil. Ich hatte schlicht einen unlauteren Vorsprung, so dass ich schon intensiv im Lerngeschehen war, als die beiden anderen noch träumten.

Es ging alles sehr schnell – vielleicht zu schnell, so dass wir denkenden, fühlenden, kommunizierenden Menschlein gar nicht hinterherkamen: Denkwürdig das Pfingstwochenende Ende Mai 2007. Ich notierte in meinem Tagebuch:

„Ein intensives (verlängertes) Pfingstwochenende – zum dritten Mal innerhalb von vier Wochen besucht uns der Freund; Samstag, Sonntag, Montag. Am Samstagabend gemeinsames Essen mit Rudi, sonntags bei angenehmem Wetter (obligatorische) Wanderung nach Winningen mit traditioneller Rast an unserem Lieblingsplatz und Einkehr in der „Hoffnung“; montags bei Regenwetter immerhin Hundespaziergang bis zum Ausblick „Überm Rath“ hoch über der Mosel. Der Ertrag? Enorm und exorbitant!!! Warum? Es sind Orgien der Selbstvergewisserung in schwierigem Gelände. Der Freund befindet sich auf dem Weg aus der Familie – am 27.6. wird er eine eigene Wohnung beziehen. Er sucht die räumliche Distanz und will versuchen in Verantwortung für die Familie Haus und Lebensstandard zu erhalten bzw. zu garantieren. Er reduziert sich auf gut 50qm. Das hat Rudi vor Jahren bereits realisiert. Er ist ein excellenter Gesprächspartner. Da stimmte die Chemie buchstäblich ohne Fremdeln. Er ist darüber hinaus geübt in der Praxis von Dreiecksbeziehungen. Und wir? Nun, bezogen auf das vergangene Wochenende ist Ergebnis und Befund nahezu eindeutig: Mosaikstein 1 – die Konstellation beflügelt uns! Mosaikstein 2 – In der Nacht von Sonntag auf Montag, nach einem schönen Abend im Landgasthaus Höreth in Kobern gehe ich müde und zufrieden gegen 0.30 Uhr ins Bett. Claudia und der Freund verkosten bis 4.00 Uhr in der Frühe Rieslinge. Sonntags in der Frühe, während ich zum Fußball gehe, absolvieren Claudia und der Freund ihre Einheiten im Kieserstudio. Das finde ich angenehm. Ich finde es entlastend – frage mich immer, wie exklusiv sind da meine Vorstellungen, insbesondere auch bezogen auf die von mir selbst beanspruchten Freiräume? Mosaikstein 3 – Angenehm, von viel Zustimmung getragen, die ‚Männergespräche‘ mit dem Freund; weitgehende Übereinstimmung in Fragen, unter welchen Bedingungen denn Beziehungen überhaupt ‚funktionieren‘ können. Mosaikstein 4 – Recht angenehm, jetzt schon ritualisiert die Vierer-Konstellation unter Einschluss von Rudi: erlaubt das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen und Vertrautheit bei gleichzeitiger Desillusionierung.“

Mitte Juni bricht der Freund einen geschäftlichen Aufenthalt in Dubai vorzeitig ab, weil sein Bruder nach einer OP das Krankenhaus nicht mehr verlässt und innerhalb weniger Tage verstirbt. Die Eltern sind überfordert. Der Freund kümmert sich und bittet uns um Asyl, weil er sich unter den gegebenen Umständen im Elternhaus unwohl fühlt. Die Mail-Kontakte zeugen schon nach wenigen Wochen von einer außerordentlichen Vertrautheit. Es ist ein Schweinsgalopp, der da einsetzt. Der Freund bedankt sich überschwänglich für die gemeinsamen Unternehmungen und ist vor allem gewillt, die Energie und die Erkenntnisse aus unseren nächtelangen Gesprächen in die Reparatur des familiären Desasters einzubringen. Legendär eine der ersten Mails mit dem Auftakt: „Ich bin gegen 16.00 Uhr mit wenig Stau um Köln – die geile Mucke von Van Morrison hat mich da entschädigt – und kleinem Umweg – musste mich zunächst beim Kieser entspannen, bevor ich in die ‚Höhle der Löwin‘ bin.“ Der Tenor ist positiv und zukunftsoffen.

Schon im Juni erreicht mich eine erste mail, mit der die Frau des Freundes das Feld sondiert und in Erwägung zieht, dass es vielleicht wirklich das beste sei, wenn man sich räumlich trenne, um mal Abstand und Ruhe zu bekommen. Aber es wird auch deutlich, warum es zwischen unseren Familien nicht funktionieren konnte. Seine Frau schrieb Ende Juni:

„Schön ist, dass er in euch zwei gute Freunde gefunden hat. Was mich nur an der ganzen Sache ziemlich schmerzt ist, dass er in Claudia eine besonders gute Freundin gefunden hat. Er hat mir jedes Mal, wenn sie anrief, und ich ein großes Unwohlsein vom Bauch her hatte, gesagt, das ist eine gute Freundin. Da ist nichts. Er hat mich die ganze Zeit angelogen, womit ich im Moment furchtbar zu kämpfen habe… Ich muss gestehen, ich habe sein Tagebuch gefunden und darin gelesen. Ich weiß, das tut man nicht, aber ich war so in Brass, da ist es eben passiert.“

Wenn ich die Schlüsselpassage meiner Antwort lese, ist mir sofort klar, dass dies für mein Gegenüber den Eindruck erweckt haben muss, ich sei komplett übergeschnappt. Ich habe aus Susanne Gaschkes ZEIT-Artikel zur Begrüßung eines neuen Jahrtausends der Paarkultur zitiert unter anderem, dass es verboten wäre, dass Partner sich gegenseitig ihr Privatleben aufdrängten, um sich moralisch zu entlasten, und ebenso verboten sei natürlich das Kreuzverhör – einmal ganz zu schweigen davon, dass es ein absolutes No-go sei, das Tagebuch des Partners zu lesen. Und zum Schluss der Totschlaghammer:

„Ich weiß, das ist starker Tobak. Der zwingt uns, dass wir uns unserer Eifersucht und unserem Besitzdenken stellen. Mit einer ausgeprägten Haltung der Kontrolle und des Misstrauens gibt es keinen Weg zurück. Wir sind zwar verheiratet, aber wir sind nicht das Eigentum unseres Partners.“ Das simple Geheimnis unseres Neubeginns liege in einer völlig neuen Bedeutung der Verantwortung, die wir jeweils für uns selbst tragen. Sie solle weder Mut noch Geduld verlieren! Ich wünschte ihnen beiden, dass sie im Gespräch miteinander blieben.

So gänzlich ist mir nicht klar, ob hier ein absolut cooler – und vielleicht auch unterkühlter – Stratege schon akribisch Regie führte, oder ob nicht doch irgendeine Art von Hybris dafür sorgte, dass hier zwar jemand intuitiv, aber doch auch ziemlich unberechenbar an Fäden zog, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie die Akteure im einzelnen (re-)agieren würden. Schon am 15. Juli unterbreitete der Freund Claudia das Angebot ein kombiniertes Köln-Düsseldorfer Kulturpaket zu buchen. Wenn sie wolle, könne sie bei ihm („ich nehm die Matratze im Wohnzimmer) oder auch sonstwo übernachten: „Ist das ein Angebot?“ Sie solle doch einmal mit mir darüber sprechen. Kurzum: Claudia nahm das Angebot an. Am Horizont winkte in der Tat die von Detlef Klöckner avisierte „lustbetonte und verantwortungsfreie Zeit – frei von aktuellen Belastungen“. Schon am 20. Juli signalisierte der Freund Schlagseite. „Nach zwei für mich wertvollen Tagen mit Claudia ist sie inzwischen wieder wohlbehalten nach Koblenz zurückgekehrt. Darüber bin ich froh.“

Ich war auch froh und wurde Zeuge einer zarten, aber sehr konsequenten Annäherung. Ich erfuhr das außerordentliche Privileg, meine Frau durch die Augen unseres Freundes sehen zu dürfen:

„Du hast eine Frau, die mich fasziniert – wohlmöglich heute mehr als früher. Mir scheint, sie ist wie ein guter Wein, wird mit zunehmender Reife immer noch attraktiver. Aber was erzähle ich Dir? Du weißt das alles selbst, hast mir gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht, was Claudia Dir bedeutet. Ich mache das an dieser Stelle genauso und kann nur sagen, ich empfinde mehr als Freundschaft, wenn ich mir ihr korrespondiere, telefoniere oder wenn wir zusammen sind.“

Zieht man an dieser Stelle bereits die Reißleine? Nichts lag mir ferner! Nun dachte ich zwar nicht primär an das weiter oben erwähnte heilsökonomische Defizit. Gleichwohl war mit latent permanent gegenwärtig, hier lauere eine Chance aus meiner Schuldenfalle herauszugelangen. Mit Interesse und Faszination las ich das vorläufige Resümee des Freundes:

„Ihr Interesse an meiner Person empfinde ich als sehr angenehm und aufbauend. Nach Paracelsus macht die Dosis die Wirkung. Ich frage mich inzwischen, ob ich nicht schon anfange unter den Folgen einer Überdosis zu leiden, denn nach zwei Tagen Claudia geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Das ist der Grund, wenn ich Dir jetzt sage, ich werde am Wochenende nicht nach Güls kommen, die Quadriga muss ohne mich starten. Ich will meine Entwicklung weiter so positiv fortsetzen und habe das Gefühl, ich muss dazu wieder mehr Wasser unter den Kiel bekommen, brauche Abstand zu Claudia. Ich weiß, was jetzt kommt, Abstand erzeugt Nähe… wirst Du denken. Ich habe aber kein Rezept, als die Droge abzusetzen. Mit allen Nebenwirkungen …] Noch einmal, ich würde liebend gerne kommen, mag Euch alle – Claudia im Moment etwas zu sehr. Jetzt muss ich den Kopf wieder frei bekommen. Da kann es nur gut sein, wenn wir uns am Wochenende nicht sehen.“

Die coole Socke ist hin und weg und zieht selbstverständlich nicht die Reißleine – seine Reißleine. Er schreibt dem Freund, wie gut es ihm geht, seit er sich von der buddhistischen Haltung eines Wu-Wei – eines Handelns durch nicht Handeln inspirieren lasse. Ich signalisierte ihm, dass mir die Geschenke des Lebens – seit ich diese Haltung in mir kultiviere – nur so zuflössen. Reicher sei mein Leben nie gewesen als in den letzten Jahren, woran auch er einen Anteil habe. Ich betonte meine Hoffnung, dass die „offenkundigen bzw. die bekannten Veränderungen dies nicht wirklich in Frage stellen“ sollten. Das war wohl irgendwie ein bisschen eindeutig, andererseits aber nebulös genug, dass der Freund nun vollends auf eine gediegene Sandbank auflief und den letzten Tropfen Wasser unter dem Kiel verlor.

„Der Freund kommt heute (doch). Doch? Ja! Claudia ist eine Naive mit einem kleinen Anteil ‚femme fatale‘. Sie fährt zwei Tage nach Düsseldorf und verbringt zwei Tage bzw. zwei Nächte mit dem Freund und verdreht ihm den Kopf. Es gibt ein Spiel, das nur zu zweit geht. Claudia hat aber mit alldem ‚nichts‘ zu tun. Das heißt schlicht, sie genießt die ihr zukommende Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die ‚Nebeneffekte‘ sind ihr unangenehm. Sie möchte, dass es ‚so schön‘ bleibt, wie es war. Der Freund kann/muss noch viel lernen. Warum die Offenbarung. Verfolgt er mehr, sollte er es diskret tun. Will er es ‚beherrschen‘, rationalisieren, sollte er eh schweigen. Zumindest wird es spannend.“

Am 21.7.07 habe ich diese Eintragung in mein Tagebuch vorgenommen. Wer im Erotop wandert und bereit ist, sich die Segel von den erotischen Übertragungsenergien blähen zu lassen, muss zuweilen auch mit stürmischer See rechnen. Adam Phillips kommentiert lapidar: Monogamie, aber drei sind ein Paar (siehe: FJWR: Kopfschmerzen und Herzflimmern, Koblenz 2005). Nach Peter Sloterdijk gehört zur Anthroposphäre prägend das Erototop. Es organisiert die Gruppe als einen Ort der primären erotischen Übertragungsenergien und setzt sie als Eifersuchtsfeld unter Stress. Es markiert Eifersuchtsfelder und Stufen des Begehrens. Sloterdijk meint, das erotische Feld werde unter Spannung gesetzt, indem die Gruppenmitglieder durch eine Art von begehrlich-argwöhnischer Aufmerksamkeit ein Eifersuchtsfluidum entstehen ließen, das durch prüfende Blicke, humoristische Kommentare, herabsetzende Nachreden und ritualisierte Konkurrenzspiele in Zirkulation gehalten werde:

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt (umso mehr), sobald ich annehmen darf, dass ein anderer dich liebt und deine schöne Gestalt ihn genügend reizt, um dich in Besitz nehmen zu wollen.“ Zur Gruppenweisheit – so Sloterdijk – gehöre ein Eifersuchtsmanagement, das die Selbstirritationen in einem lebbaren Tonus halte.

Ich hatte sozusagen in dieser Disziplin 2005 mit Kopfschmerzen und Herzflimmern habilitiert. Die von mir zusammengetragenen Theoriebausteine traten nunmehr ihre ultimative Bewährungsprobe an. Mir war klar, dass ich mich in dem von Sloterdijk reklamierten Eifersuchtsmanagement zu bewähren hatte. Bis zur Verteidigung meiner Theorie sollte ich noch ziemlich genau ein halbes Jahr Zeit haben; Zeit, in der ich aus der (vermeintlich) komfortablen Position eines Beobachters zweiter Ordnung den Sturmlauf eines liebestrunkenen und liebesblöden Hasardeurs vor Augen geführt bekam; im Übrigen eine Rolle, die mir bestens vertraut war (siehe erstes Kapitel dieser Aufzeichznungen). Nur dass das Objekt der Begierde meine Frau war. Ich erinnerte mich der Analysen Sloterdijks. Seine Annahme, dass je ruhiger der Besitz gepflegt werde, desto eher die Eskalation verhindert werde, war zu überprüfen. Denn im Verbot mache sich bereits die Anwesenheit des Dritten bemerkbar,

„der bereits zwischen Mich und Dich getreten ist […] Da aber weder Verbote noch Tabus die schielende Aufmerksamkeit auf das fremde Gut neutralisieren können, sondern eher zur Fokussierung der Begehrens auf das Entzogene beitragen, müssen fortgeschrittene Kulturen zu einer aktiven Desinteressierung der Menschen gegenüber den Objekten ihrer Eifersucht übergehen.“

Soweit der gute Peter Sloterdijk. Schon am 31. Juli (2007) kann ich in meinem Tagebuch nachvollziehen, wohin die Reise gehen sollte: Claudia und der Freund haben sich schon vor vielen Wochen in die Hand versprochen, gemeinsam Ski zu laufen. Und ich mag kaum glauben, dass ich in Sloterdijkscher Bierruhe notiert habe:

„Claudia begibt sich nach der Liebeserklärung des Freundes (die natürlich auch seiner Frau gegenüber alte Vorurteile und Einschätzungen bestätigt) in eine Situation, in der sie genau weiß, dass sie mehr ist als nur eine gute Freundin. Und eine solche Ausgangslage in einer Umgebung, die Claudia (die leidenschaftlichste Ski-Läuferin, die ich kenne) vermutlich erst so ganz und gar zu sich kommen lässt (in einer nicht vermeidbaren Zweisamkeit) - die halte ich für brisant und prickelnd. Sie unterscheidet sich auch von der Düsseldorfer Exkursion, insofern sie – Claudia – jetzt weiß, was sie vorher nur vermuten konnte! Das heißt, auch Claudia wird sich weiteren Entwicklungsschritten und Anforderungen stellen müssen, ob sie will oder nicht (da sollte man vermutlich schon eher wollen).“

Nun ja, sieben Wochen später hatten wir uns in einem stabilen Dreieck eingependelt; daneben war Rudi oft mit von der Partie. Zum 51sten Geburtstag von Claudia gab es Rosen über Rosen – die meisten und die schönsten von unserem Freund. Auch die alten Griechen wussten schon, worauf es ankam; Epicharmos (550 v.Chr. – 460 v.Chr.) wird der Aphorismus zugeschrieben: „Ein weiser Mann scheut das Bereuen, er überlegt seine Handlung vorher.“ Auch die alte Sloterdijksche Definition von Diskretion lässt sich hier bemühen, wonach diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll. Die gemeinsamen Ski-Exkursionen standen schon in Aussicht, als ich für mich vermerkte – am 20.09.2007:

„Das Wochenende naht. Erstmals seit langer, langer Zeit begibt Claudia sich auf eine Fortbildung – von Freitag bis Sonntag; erstmals seit längerer Zeit ist dies ganz sicher auch ein Wochenende ohne den Freund. Auch er hat seinen Anteil daran, dass Claudia nun konsequenter erste eigene Schritte macht. Immerhin verbringt sie drei Tage an der Nahe mit Menschen, die sie allesamt nicht kennt. Ich freue mich darüber.“

Erst vier Jahre später - ich bearbeite die Steuererklärungen (auch für 2007) stelle ich fest, dass der gute Freund mit Claudia gemeinsam teilgenommen hat an diesem Zeichenkurs. Er hat sich im Übrigen auch schriftlich bei Claudia für diesen Zeichenkurs bedankt. Claudia hatte eine ursprünglich für Laura reservierte Buchung (nach deren Abspringen) für den guten Freund umgewidmet und auch buchungstechnisch beide Rechnungen beglichen. Es gehört mit zu meinem ungestillten Bedürfnis nach Schuldenerlass diese nun auch diskreten Strategien nüchtern einzuordnen – gewissermaßen als Auftakt zur Wiedergeburt des guten Freundes dort, wo vor 35 Jahren alles begonnen hatte. Die erste Woche der Herbstferien im Oktober war der Auftakt zu einer Reihe von Schi-Exkursionen, in deren Verlauf sich vielleicht auch erstmals die Frage stellte: Wer ist das Paar – wer und was passt hier zusammen. Die zweite Exkursion über den Nikolaustag hinweg nahm Claudia als Geschenk an und schrieb der Restfamilie:

„Ihr Lieben, finde es wirklich gut, dass Ihr mich bei meinen Ski-Touren unterstützt. Ich weiß genau, dass ohne Euch, ich diese Fahrten nicht machen könnte – allein schon wegen des Heyerbergs; habe außerdem den besten und tolerantesten Mann geheiratet, den man sich nur wünschen kann. Hoffe, Ihr habt einen schönen Nikolausabend, entspannte Tage ohne Mama/Moselperle. Hab Euch sehr lieb!!! Lasst die Bude stehen und sorgt für Biene!

Wahre Toleranz hat gewiss etwas von Selbstlosigkeit/Altruismus; man schreibt diese Haltung eher Engeln und anderen Außerirdischen zu. Es zeigt sich an meinem Tagebucheintrag vom 10.12.2007, dass ich zwar ein wenig weltentrückt erscheine, dabei aber ganz weit weg von der Haltung eines selbstlosen Menschenfreundes:

„Du kannst den Zauber nur selber nehmen; den Zauber und die Gelassenheit einer fragilen Situation, die nur Leichtes, Beglückendes und Positives für alle Beteiligten enthält. Du musst nur beginnen darüber zu reden und Eindrücke erwecken, die unangemessen sind. Das ist ein ausgeklügeltes, fragiles Gebilde, in dem der Freund und ich genau wissen, was wir zu tun und zu lassen haben. Nichts von alledem bedroht irgendwen, nichts von dem nimmt irgendwem irgendetwas – alle gewinnen …] Wäre es anders, würde all das, was uns gegenwärtig beschwingt und beglückt, vielleicht unwiederbringlich zerstört, zumindest irritiert. Ich weiß das, und ich lebe danach. Zum ersten Mal in all den Jahren herrscht diese unbedingte Entschiedenheit vor, von der Karl Otto Hondrich spricht, kein Taktieren, keine Unklarheiten, keine Rückfälle in alte Welten mehr. Von Anfang an habe ich die einmalige Chance begriffen und sie auch ergriffen, die in des Freundes Avancen und in seiner Offenbarung begründet liegen – ohne Angst; die habe ich auch nicht mehr vor mir selbst. Diese Haltung gibt mir Kraft und Sicherheit. Sie erlaubt mir ganz und gar zuerst bei mir selbst zu bleiben, ansonsten gäbe es den Freund in meinem Leben schon lange nicht mehr, womöglich keinen Heyerberg und auch keine Claudia mehr. Das alles ist so fundamental anders als noch vor zehn Jahren.“

Zukunft braucht Herkunft sagt Odo Marquard. Für die Zukunft erhoffe ich ein Fürsorgliches Finale! Wir schreiben inzwischen immerhin das Jahr 2021! Dass diese Hoffnung überhaupt im Raum steht, verdankt sich entscheidend der Tatsache im beginnenden Jahr 2008 nicht die Nerven verloren zu haben. Selbst diejenigen, die im Rückblick pauschal davon ausgehen, irgendwie im Leben klargekommen zu sein, werden unruhig, wenn sie sich nicht nur pauschal, sondern noch einmal en detail einlassen sollen auf das, was seinerzeit ihre Lebenswirklichkeit ausgemacht hat. Nun ist das zweifellos mit der Wirklichkeit so eine Sache. Ich will sie nicht überstrapazieren, sondern werde nun nach einem langen Auftakt den Zusammenhang zwischen Durchreise und Landnahme sehr kompakt wiedergeben:

Claudia und der Freund beschlossen – innerhalb eines Vierteljahres – über die Karnevalstage die dritte Ski-Exkursion – dieses Mal ins Montafon, das uns aus langjährigen eigenen Ski-Unternehmungen vertraut war. Mit zunehmendem Alter – und je nach Charaktertyp, Prägungen und Grundeinstellungen – schätzen Menschen den Zustand der Äquilibration. Damit beschreibt Jean Piaget einen Zustand, der uns nahelegt – geknüpft an ein authentisches Erleben – alles sei im Lot, in einem stabilen Gleichgewicht. In der Regel beruht diese Wahrnehmung auf einer (Auto-)Suggestion und verdeckt die Tatsache, dass wir ständig zwischen Assimilation, die uns leicht(er) leben lässt und Akkomodation hin- und herpendeln. Ständig sind wir gefordert zu prüfen, ob Geschehnisse, Anforderungen, Zumutungen eher mühelos in bestehende Problemlösungs- und Bewältigungsmuster zu integrieren sind, oder ob sie uns zu einer Erweiterung der gewohnten Muster veranlassen. Manchmal reicht der Hinweis: „Bring das in Ordnung, und wir reden nie wieder darüber!“ Manchmal reicht dieser Appell jedoch nicht hin. Mir lag ein solcher Kurzschluss ohnehin fern. Immer noch überwogen die Motive zu einem gediegenen Kontenausgleich.

Ein merkwürdiger Zufall fügt es, dass kein Geringerer als Bernhard Schlink in seinen 2020 veröffentlichen Abschiedsfarben in der von ihm konstruierten Dreiecksgeschichte den männlichen Hauptprotagonisten, Bastian, so agieren lässt, dass es zu einem Wochenendtripp  ins Montafon kommt. Von Seite 139 an beschreibt er die Fahrt – hoch in Gargellener Tal: „Dann kamen die Kurven, in denen sich die Straße zum Tal hochwand, dann das Tal, schneeweiß, sonnenbeschienen. Schon von weitem sah er die Pisten und die Lifte und die Skifahrer und Skifahrerinnen, zum Glück nicht viele …] Sie fuhren Ski, bis die Lifte abgestellt wurden. Sie lieferten sich kleine Rennen, überraschten einander mit plötzlichem Abschweifen von der Piste, fuhren vor- und hinter- und nebeneinander, als sei’s ein Tanz, saßen schwatzend und lachend im Lift. Als sie sich nach Sauna und Dusche zum Abendessen trafen, waren sie von schwereloser, beschwingter Müdigkeit…“

Claudia liebt genau diese beschwingende Atmosphäre, die tiefverschneiten Alpentäler – tagsüber bei strahlendem Sonnenschein und gegen Abend, mit einsetzender Dämmerung begleitet von leichtem Schneefall, der anderntags die Pisten bestens präpariert und die Welt einmal mehr in zauberhaftem Glanz erstrahlen lässt. Es fällt mir sogar leicht, zu begreifen, dass kaum eine eindrücklichere Wahrnehmung, kaum ein authentischeres Erleben vorstellbar ist, dass uns gleichzeitig unserer Endlichkeit vergewissert; ein memento mori der zuckersüßen wie der bitteren Art. Im Rückblick wissen wir – Beteiligten – alle miteinander, dass dieser Urlaub für den Freund den point of no return ausgelöst hat. Von nun an galt die Devise: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Alle Schranken und jede durch Loyalitätsimpulse begleitete Selbstdisziplinierung wurden orkanartig hinweggeweht. Auch wenn der reale, meteorologisch dokumentierte Orkan Emma erst am Tag des Showdowns – an einem Tag den es eigentlich nicht gibt, am 29. Februar – die Bühne weltuntergangsverheißend betrat, bewegten wir uns nach den Gargellener Tagen in stürmischer See. Der Freund bekundete seine feste Absicht künftig in Bigamie zu leben und machte meiner Frau einen Heiratsantrag und ließ keinen Zweifel mehr daran, dass Claudia die Frau seines Lebens sei.               

Ein kleiner Rückblick in das Jahr 1978:

Wie schreibt Detlef Köckner so verheißungsvoll: „Manchmal sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit zurück. Was läge näher als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in einer Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen.“ Der Freund knüpfte an alte Zeiten an. Er war Claudias erster Freund. Die familiäre Enge und die Bedrängnisse beider schweißten sie zu einer Liebes- und Leidensgemeinschaft zusammen. In Briefen tauschten sie sich über ihre Nöte aus und fanden Trost in Gemeinsamkeit – in gemeinsamen Unternehmungen auf Augenhöhe; beide sind excellente Ski-Läufer. Das Fluidum dieser frühen Gemeinsamkeit erschloss sich in der gemeinsamen Lektüre dieser Briefe, die der Freund sorgfältig gehütet hatte, wie auf wundersame Weise, Vergangenheit und Gegenwart zerflossen in sich wechselseitig durchdringenden Interferenzen.

Aber kehren wir noch einmal kurz zurück in den Dezember 1978 – als mir Claudia bereits die Sinne vernebelte und mich wenige Wochen später zu semi-kriminellen Handlungen motivieren sollte. Kurz vor Weihnachten kam es zu einer amüsanten Begegnung in der seinerzeit einzigen Studentenkneipe, die Koblenz aufzuweisen hatte. Gemeinsam mit einem Wohngemeinschaftskumpel, meinem Bruder und dem verrückten Jopa (das ist der Meisterfotograf, der unsere Kindheit in ikonografisch so beeindruckender Weise verewigt hat – jenes Foto, das mich als einzigen Überlebenden der K9-Gang zeigt) waren wir zu einer Kneipentour aufgebrochen, ohne Frauen, die schmollend zu Hause saßen. Im Armen Josef kam es dann zu einer Zufallsbegegnung mit einer anderen – allerdings gemischten – Viererbande. Claudia war mit dem weiter oben bereits erwähnten R. – Claudias dritter, ohrfeigenerprobter Lebensgefährte –, einer Freundin und eben jenem besagten Freund, der in diesem Kapitel die Hauptrolle spielt, gleichermaßen auf einer Kneipentour. Es kam an diesem Abend im Armen Josef nur zu einem kurzen smalltalk. Jahre später erinnerten wir uns gemeinsam der durchaus delikaten Hintergründe, so dass ich heute die Kontinuitätsgedanken – man könnte auch von Vorhersehung sprechen – des guten Freundes durchaus nachvollziehen kann. So ziemlich genau dreißig Jahre später sollte die Vorsehung endlich zu ihrem Recht kommen. Es galt eben nur noch Claudia davon zu überzeugen.

Ich habe am 26.2.2008 um 4.10 Uhr folgende Eintragung im meinem Tagebuch vorgenommen – keine Bange: Alle Wiedergaben sind hygienezertifiziert und jungendfrei; dabei wird es auch im Fortgang meiner Erzählungen bleiben, deren einziges Motiv darin besteht, dem Unglauben und er Dankbarkeit eine Sprache zu geben, dass Claudia und ich uns heute tatsächlich auf ein gemeinsames fürsorgliches Finale einrichten!

„Fünf Tage nach meinem Geburtstag scheint sich etwas anzudeuten, wie eine Zeitenwende – ein Datum, das Vorher und Nachher deutlich voneinander scheidet. Über das schimmernde Glück, über das unbeschwerte einer silber geadelten Ehe scheint sich nun doch der Schatten einer beschwerten und von den Dynamiken des Eros beflügelten Zukunft zu senken. Des Freundes Mail vom Juli 2007, mit der er mir gegenüber seine Liebe – damals vielleicht noch seine Verliebtheit -  offenbart, hat Ende Februar eine Dimension erreicht, die uns alle einer nunmehr doch nicht mehr so ohne weiteres steuer- und kontrollierbaren Dynamik aussetzt: Der Freund ist am Samstag auf meine Einladung hin unser Gast gewesen. Nach einem schönen Samstag in seiner inzwischen ritualisierten Form (Wanderung nach Winningen – Abendessen in der Hoffnung – anschließend Wolf Maahn im Café Hahn) haben Claudia und der Freund ihr eigenes Ritual (Trinken bis in die frühen Morgenstunden) gepflegt. Wie will man mit der Frau seines Lebens leben?“

Es deutete sich ein Dilemma an, das wir wohl alle miteinander unterschätzten; selbst ich geriet jetzt in eine Situation, die durch ein Handeln im Sinne eines Nicht-Handelns, wohl kaum noch zu händeln war. Hier spielte nun Vieles ineinander, was einer schnellen Lösung des Dilemmas Vorschub leistete und einen weiteren Handlungsstau nicht zuließ. Eigentlich war das Ende einer Haltung markiert, die – wie man so treffend bemerkt – als Gestalt gewordene Inkonsequenz irgendwann nicht mehr trägt: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ führt schließlich zu einem Realitätsverlust, man könnte auch sagen zu einem Hitzestau, der nach Lüftung giert. Dass die Triebabfuhr nun mit Emma zu einem aufgewachsenen Orkan geraten musste, war letztlich auch nicht mein Wunschtraum. Im gediegenen Rückblick nach immerhin inzwischen mehr als 13 Jahren liest sich der letzte Akt dann auch wie das Drehbuch zu unserer Lieblingsserie – Claudia und ich lassen keine Folge des Bergdoktors aus (und wenn wir tatsächlich einen aktuellen Sendeplatz verpasst haben, muss das über die Mediathek nachgeholt werden).

Wir handelten das Drehbuch gemeinsam aus – unter Beteiligung aller drei Protagonisten (sollte mich der Mut nicht gänzlich verlassen, werde ich der Geschichte irgendwann auch einmal den ihr gebührenden literarischen Rang verleihen). Hier sei nur so viel angedeutet, dass ich so tapfer war, Claudia zu begleiten an den Koblenzer Hauptbahnhof. Dort ist sie in den Zug nach Düsseldorf gestiegen und am 29. Februar – das ist der Tag, den es nicht gibt – mit dem Freund wieder nach Koblenz zurückgekehrt. Emma erreichte in der Nacht vom 28. auf den 29. Februar Spitzengeschwindigkeiten bis zu 150km/h. Ich verbrachte diese Nacht alleine – wachend und schreibend; anders hätte ich nicht standgehalten:

Ich danke Euch für diese Nacht

Es ist ein Sturm in dieser Nacht.
Er tobt wie ein Orkan in meinem Herzen,
Hat mich um meine Seelenruh gebracht,
Gebar die Mutter aller Schmerzen.

Das Wüten der ganzen Welt in meiner Seele,
Doch mein Verstand bleibt kühl und klar:

Von nun an können alle sehen
Und müssen sich und andre überstehen.
Ein Sturm zieht über's Land,
Regiert gebieterisch mit harter Hand.

Und was uns ankommt hart und süß zugleich,
Das macht uns arm und reich zugleich.
Dionysos regiert in dieser Welt,
In der kein Stein den andern hält.

Er lässt die alte Welt vergehen,
Und eine neue wird entstehen!

Dionysos, der Gott des Leidens und des Sterbens
Treibt die Veränderung und drängt das Leben.
Der Eros ist die Sprache allen Werbens
Und lässt die Seelen ungleich beben.

So lad ich uns nun alle ein
Den Weg zu gehen - gemeinsam und allein!

Wie sehr liebst Du - mein lieber Freund - dies einzigartig Weib,
Nimmst einen Ehegatten gar in Kauf?
Ich liebe diese Frau, bei der ich bleib
Seit vielen Tagen schon, in denen Du bestimmst der Welten Lauf,

Ich liebe sie und kann's ertragen
Und will den Weg in die ménage à trois gar wagen;
Wohlwissend das an den Tag da drängt,
Was alte Ehen treibt und engt!

Doch bleibt Dein Weg ein Weg zu Dir;
Er führt Dich hin zu ihr und ihr!
Und Freundschaft mag uns zeigen,
Wohin sich unsre Herzen neigen.

 

 

 Ein paartherapeutisches Husarenstück - Ein Nullsummenspiel (20b) 

Zu diesem Gedicht entstand ein Text, mit dem ich unserer gemeinsamen Geschichte eine Wende geben wollte. Der 28./29.2.2008 markiert einen Wendepunkt, an dem sich mit aller Deutlichkeit ein Vorher und ein Nachher scheiden lassen. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass das Motiv für das gegenwärtige Unterfangen, die Ereignisse aus den Jahren 2007/08 und auch darüber hinausgehend vor allem bis 2012 bzw. 2014 noch einmal durch eine analytische Brille betrachten zu wollen – sine ira et studio – sich primär aus dem Umstand nährt, dass uns keine wirklich erfolgreiche Anknüpfung gelungen ist. Mein Vorsprung in der Einschätzung solcher Dynamiken resultierte ja aus meiner eigenen desaströsen Dreiecksgeschichte aus dem Jahr 1997. Vermutlich ist selten eine Lehre aus dionysisch-erotischen Verirrungen so gründlich und so allumfassend gezogen worden. Meine beiden Mitprotagonisten von vor 14 Jahren haben da leider auf halbem Wege abgebrochen.

Nüchtern zu bilanzieren bleibt – nach einem kurzen Aufschwung – schlicht eine vollkommen zerstörte Beziehung der in der Tat eklatant füreinander ungeeigneten Eheleute (im folgenden Brief – Hera und Zeus), deren Auflösung sich über viele Jahre hinzog. Die Kontrahenten rede(te)n nur noch über Anwälte miteinander. Die beiden seinerzeit innig Verbundenen pflegen – vordergründig betrachtet – nur noch eine distanzierte und abgekühlte Begegnungskultur; es herrscht eine Ernüchterung aller Orten vor. Das hätte man früher haben können. In meinem Brief konnte ich endlich auch meinen Erkenntnissen und den daraus folgenden Argumenten Raum geben – aber aus guten Gründen erst nach der eingetretenen Wende:

                „Liebe Claudia, lieber Freund,

ich konnte es Euch nicht sagen. Verliebte leben auf der Venus – ich lebe auf dem Mars. Eigentlich finden wir da keine gemeinsame Sprache. Dies wir so ungemein deutlich, wenn man betrachtet, worum es eigentlich geht. Zu den vielen aufschlussreichen Studien zu Dreiecksbeziehungen gehört an vorderster Stelle Hans Jellouscheks Standardwerk: Die Rolle der Geliebten in der Dreiecksbeziehung. Ich versuche jetzt einmal die letzten Zeilen meines Gedichts zu erläutern und unserem damit verbundenen Dilemma etwas näher zu kommen:

Doch bleibt Dein Weg zu Dir –
er führt Dich hin zu ihr und ihr!

Und dies auf jeweils eigene Weise, denn: Unsere ménage à trois in allen Ehren. Aber in dem primären Dreieck bin ich nicht gemeint, ich habe damit nichts zu tun!!! Und ich will damit auch nichts zu tun haben. Und das konnte ich im Vorfeld des 29. Februar nicht sagen. Aber jetzt ist es an der Zeit tacheles zu reden:

Was Ihr beiden miteinander entwickelt, das ist Eure Sache: Im primären Dreieck gibt es keinen Dritten im Bunde, sondern nur eine Dritte, und das ist Deine Frau. Das ist deshalb so eindeutig, weil das von Jellouschek analysierte Dreieck ein Dreieck ist, in dem Claudia Semeles Rolle hat. Sie ist die heimliche Geliebte (ich möchte hier nicht auf die mails Deiner Frau vom Juli vergangenen Jahres eingehen). Deiner Frau kommt die Rolle der Hera, die der betrogenen Ehefrau zu, und Du, lieber Freund hast die Zeus-Rolle. Ihr beiden kennt dieses Buch. Die Eindeutigkeit dieses Dreiecks ergibt sich schlicht aus der Tatsache, dass Du – aus welchen Gründen auch immer – Claudia als heimliche Geliebte in Deiner Wohnung empfängst („wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“). Du hast keinen Ansatz gemacht, Deine Verhältnisse zu klären. Wenn Ihr in absehbarer Zeit erwachen werdet, werden diese Zusammenhänge auch Euch glasklar erscheinen. Die Haltung der drei Affen – nicht reden, nicht sehen, nicht hören – wird hier nicht wirklich weiterhelfen!

Das ist der auch der Grund, warum ich von Eurer Sache spreche. Das zweite Dreieck ist ein sekundäres, gleichwohl ein brisantes. Es ist umso brisanter, weil das primäre Dreieck überhaupt nicht geklärt ist. Aus diesen Zusammenhängen lässt sich für mich jetzt auch nachvollziehen, warum Du – mein Freund – ein wirkliches Problem hast, dieses ‚nicht gesellschaftsfähige Dreieck‘ zu Hause auch wirklich transparent zu machen. Du hast noch einen privaten Rückzugsramu und wirst ihn bis auf weiteres haben. Gleichwohl ist da Deine eigene Familie, und natürlich die Beziehung zu Deiner Frau, die völlig ungeklärt ist, die nach wie vor mit dem Prinzip der ‚Heimlichen Geliebten‘ konfrontiert wird. Hinweise auf das, was daran ungeklärt ist, finden sich haufenweise bei Jelllouschek. Und daran möchte ich persönlich nicht beteiligt sein. Claudia ist daran unabdingbar und ohne jedes Wenn und Aber beteiligt, weil sie verstrickt ist in dieses primäre Dreieck.

Und jetzt kommen die Delikatessen – und über die sollten sich alle Beteiligten im Klaren sein:

  1. ‚Wenn wir uns außerhalb unserer Beziehung in einen anderen verlieben und plötzlich das Gefühl haben, wir seien zur allumfassenden Liebe fähig und könnten ohne weiteres noch einen anderen dazu lieben, dann ist das ein Irrtum. Solange Eros mit hineinspielt, befinden wir uns nicht in der Agape, sondern im Eros. (Julia Onken, Geliehenes Glück – Ein Bericht aus dem Liebesalltag, München 1991).‘
  2. ‚Das Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen erzeugt Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führen. Die Tragik liegt heute nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinander kommen – wie Romeo und Julia –, sie liegt vielmehr darin, dass sexuelle Beziehungen (zuweilen) Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch voneinander loskommen kann (Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt 1991).‘

Ich beanspruche für mich, da einen Erfahrungsvorsprung zu haben. Ich muss ihn ja haben mit meiner desaströsen Vergangenheit. Und so habe ich kommen sehen, was da kam seit dem Juni/Juli 2007.

Was mein Dilemma vollständig und ausweglos gemacht hat, hängt damit zusammen, dass ich keinerlei Chance sah – vor der Zeit – auf etwas hinzuweisen, was Hans Jellouschek zur Conclusio seiner Gesamtargumentation macht. In Liebesbeziehungen mit sexueller Ausprägung regiert Dionysos – er verkörpert im Gegensatz zu Apoll, der für das Vernunftprinzip steht, die Leidenschaft und den Eros. Und es war und ist selbstverständlich nicht meine Aufgabe, Euch in dieser Hinsicht zu belehren. Aber es wird Euren gemeinsamen und individuellen Lernprozess fortan begleiten:

„Dionysos ist weder ein Gott der freundlichen Harmonie, der niemandem weh tut, noch ist er ein Gott der schnellen Lösungen, die die alten Ordnungen wieder herstellen. Dionysos ist ein Gott des Leidens und des Sterbens, ein Gott, der immer wieder zugrunde geht. Sich auf ihn einzulassen heißt, mit dem Tod Bekanntschaft zu machen. Semele lernt diesen Tod kennen… Sie lässt die heimliche Geliebte sterben: mit ihrem Wunsch den Zeus in seiner wahren Gestalt zu sehen. Damit gibt sie das heimliche Dunkel auf, lässt den frühlingshaften Anfang los. Sie nimmt Abschied von der strahlenden Kind-Frau (oder von dem Elchkälblein, das gar nichts gemacht hat), in die manche Geliebte ihrerseits so verliebt sind, dass sie sie nicht loslassen können, weil ihre ein besonderer Charme, ein besonderer Zauber, eben der Zauber des Anfangs, zu eigen ist. Semele macht den Schritt vom Frühling in den Sommer, von der Tochter zur Frau. Sie lässt zugleich damit ihren Vater los und sich als sein Kind.“

Aus all dem folgt, warum unser Dreieck auf Veränderung drängt:

  1. Wir sind – wie zu sehen – nicht das primäre Dreieck, sondern das sekundär-nachgeordnete. Alle therapeutischen Erfahrungen legen nahe, dass nichts gelingen kann, wenn da nicht aufgeräumt wird. Claudia hat dabei die fast singuläre Rolle heimliche (Deiner Frau gegenüber) und unheimliche Geliebte (mir gegenüber) zu sein. Dies ist eine ganz besondere Hypothek, von der ich seit langem weiß; ein Wissen, das Ihr Euch aneignen müsst.
  2. Jellouschek ist mit vielen anderen der Überzeugung, dass Dionysos ebenfalls seine Potentiale nicht entfalten kann, wenn Zeus mit Semele und Hera ein ‚göttliches Dreigestirn‘ bilden, also das Dreieck als offizielle Beziehungsform etablieren würde: ‚Dies ist eine in der Anfangssituation der Verliebtheit oft auftauchende Phantasie: ein friedliches Zusammenleben zu dritt… Ich will nicht bestreiten, dass wir, was Vielfalt der Beziehungsformen angeht, einen sehr eingeengten Horizont haben. Allerdings bin ich sicher, dass ein bruchloser Übergang  von der Zweierbeziehung in einen Dreiecksbeziehung und Vorstellungen von einem friedlichen In-, Mit- und Nebeneinander zum Scheitern verurteilt sind. So, wie ich dieser Vorstellung begegne, ist sie meist eine sehr regressiv-kindliche Phantasie. Es ist der Versuch Dionysos zu verniedlichen. Was durch ihn bei allen dreien (vieren) aufgebrochen ist, ist so tief  und so erschütternd, dass man es nicht schnell wieder in ein friedliches Zusammenleben einfangen kann. Da, wo es versucht wird, geht es bald mindestens auf Kosten eines der drei, und Eifersüchteleien, offen oder verdeckte Feindseligkeiten machen dem Experiment schnell ein Ende.‘

Und dabei wird hier sogar noch völlig abgesehen von der fortgesetzten Kränkungsgeschichte deiner Frau gegenüber, die endlich ein Recht auf Offenheit hat.

Ich hoffe meine moderate Marsperspektive erreicht die Venus-Reisenden irgendwann. Was irreversibel angestoßen worden ist, das hat mit Jellouschek alle krisenhaften Attribute und alle systemisch sattsam bekannten Hintergründe – vom schlichten Wunsch, einmal wieder gut zu ficken bis hin zu Tod und Trauer, ungelösten Bindungen und unaufgeräumten inneren Behausungen. Ich habe vor zehn Jahren angefangen meine Bude zu entrümpeln, zu lüften, basierend auf dem Sturm, der mein/unser Leben 1996/97 durcheinander gewirbelt hat. Emma hat nunmehr das ihrige getan, um auf Augenhöhe aufräumen zu können.

Euer Jupp

Dass uns nach dem Hinwegfegen letzter Loyalitätsreste zunächst das Abrutschen in einen Kriegsmodus drohte, zeigte sich an dem hieran anknüpfenden Briefwechsel. Ungewöhnlich genug hatten wir zu dritt versucht, irgendeine Perspektive zu erkennen, um einen Ausweg aus dem eigetretenen Desaster zu finden. Nach meinem Brief an die beiden Venusmenschen schrieb mir der Freund am 2. März 2008:

               

„Lieber Jupp,

ich hab mir gerade noch einmal das durchgelesen, was du in ‚stürmischer Nacht‘ verzapft hast. Mir ist die Differenzierung primäres/sekundäres Dreieck erst durch diesen bemerkenswerten Brief zugänglich geworden, und ich kann nun sehr wohl nachvollziehen, dass du diese Trennung betonst, dich aus dem primären Dreieck heraushalten willst. Es ist in der Tat

  1. an mir und Claudia gelegen, unsere Beziehung vor dem Hintergrund meiner noch bestehenden Ehe mit meiner Frau zu definieren und
  2. liegt es an mir, den ‚Arsch in der Hose‘ zu haben, Bärbel und meiner Familie das Ergebnis aus 1. Endlich mitzuteilen.

Damit hast du in der Tat nichts zu tun und dennoch ist es dir ein Anliegen ‚Tacheles‘ zu reden, wie du schreibst, als ‚betroffener Zuschauer‘. Das hast du getan mit deinem Brief und in unserem heutigen Gespräch, für das ich mich bedanke. ‚Infantile Regression‘ lautete der terminus technicus für das Spiel, das C. und ich im vergangenen ¾ Jahr (beide!!!) gerne gespielt haben. Da sind wir (C. und ich) uns viel zu ähnlich, als dass ich das nun abstreiten könnte oder wollte.

Der heutige Tag, die stürmische Nacht davor, werden tiefgreifende Folgen haben für uns Drei. Das sehe ich, wie du. Nichts bleibt ohne Folgen. Aber ich habe seit der Trennung von meiner Frau keine Angst mehr vor Veränderung, kann diese mehr denn je als Chance begreifen. Was auch immer sich nun als Chance (für jeden von uns Dreien) herausstellen wird – der Käs ist noch nicht gegessen. Die ménage à trois eine Option, die uns ‚in allen Ehren‘ in der eigentlichen Sache nicht wirklich weiter bringt.

Ich habe vor einigen Wochen erst angefangen, ‚Die Rolle der Geliebten…‘ von HJ zu lesen, habe leider nicht die Zeit gefunden, konsequent dran zu bleiben. Das werde ich jetzt nachholen.

Ich danke dir, Jupp,  und natürlich Claudia, für all das, was ihr mir in den letzten Monaten gegeben habt. Das war nicht wenig. Ich frage mich nun, was kann davon bleiben und was ist der Preis??? Kann unsere (J + C + F) Freundschaft weiter bestehen? Das werden die nächsten Wochen zeigen, und ich wünsche mir die Muße, auf die Antworten auf meine Fragen abzuwarten.

Ich fand, es war ein bemerkenswerter Tag heute und sage nun ‚gute Nacht‘.

Ganz liebe Grüße

Der Freund

Viele offene Fragen standen im Raum. Und dennoch blieb mir in meiner Antwort nichts anderes übrig, als die vollkommen verstellte Perspektive des Freundes zu registrieren. Wenn man nur wenige Zentimeter vor dem eigenen Spiegelbild steht, lassen sich keine Konturen erkennen; eine unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt wieder handlungsfähig zu werden:

               

„Lieber Freund,

ich habe deinen Brief mit Interesse zur Kenntnis genommen und das meiste – wie ich hoffe – auch verstanden. Was ich nicht zu deuten weiß, vielleicht ist es einfach ein Versehen, möglicherweise auch das Gegenteil, ist der einleitende Satz: ‚… was du in stürmischer Nacht verzapft hast‘. ‚Verzapfen‘ wird, egal wo du nachschaust, immer nur pejorativ/negativ konnotiert: Unsinn, wirres Zeug, Mist verzapfen, Unfug erzählen!

So ganz passt das, was sich anschließt, nicht dazu. ‚Ich danke euch für diese Nacht‘, die Nacht, die ich unter etwas anderen Prämissen durchlebt habe, als sie sich dann am Samstag darstellten, ist ein Eingeständnis meiner Betroffenheit. Und ich wiederhole noch einmal: Keinen Monat, keine Woche, keinen Tag, keine Stunde, keine Minute länger hätte dieser Schwebezustand, der seine ‚kritische Masse‘ erreicht hatte, andauern können. Dass mir diese Situation die Gelegenheit verschafft hat, genauer hinzuschauen und etwas zu erkennen, was bis zu diesem Zeitpunkt niemand sehen konnte/wollte, ist rein logisch und argumentativ der eigentliche Gewinn. Das primäre vom sekundären Dreieck zu unterscheiden, hat den Durchbruch und die rasante dynamische Veränderung ermöglicht, die seit Freitag, dem 29.2.2008 eingetreten ist. Was es mir möglich macht, dir heute zu antworten und die Form, die ich dabei wähle, hängen damit zusammen, dass du dich in einer vergleichbaren Situation befindest, wie ich 1997. Und dabei bin ich der festen Überzeugung, dass die Rangfolge, der du folgst, anders aussehen wird:

Ich habe am Samstag u.a. gesagt, dass du jetzt im Kontext des primären und des sekundären Dreiecks zum ersten Mal wieder deine Frau sehen kannst. Du kannst überhaupt jetzt erst sehen, dass du auf einem Weg warst – bevor du auch nur ansatzweise die Beziehung zu deiner Frau geklärt hattest –, dir eine andere Frau an die Seite zu stellen, die heimliche Geliebte. Alle, aber auch alle nur erdenklichen Attribute einer klassischen heimlichen Liebe sind erfüllt. Du hast dich in eine Beziehung(sphanatasie) hineingesteigert, die du bis zum vergangenen Wochenende vor deiner Frau verborgen hast.

Deine Frau hat mir am 28. Juni 2007 geschrieben: ‚…schön ist, dass er in euch zwei gute Freunde gefunden hat. Er hat mir jedesmal, wenn sie anrief, und ich ein großes Unwohlsein vom Bauch her hatte, gesagt, das ist eine gute Freundin. Da ist nichts. Er hat mich also die ganze Zeit angelogen. Das ist, womit ich im Moment furchtbar zu kämpfen habe. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob der Brief richtig ist an dich, aber da ich weiß, dass du schon was ahnst, ist es vielleicht ganz gut. Ich muss gestehen, ich habe sein Tagebuch gefunden und darin gelesen. Ich weiß, das macht man nicht. Aber ich war so in brass, da ist es eben passiert. Was mich schrecklich verletzt, ist eigentlich, dass ich belogen wurde und dass er mich direkt eintauscht gegen eine neue…‘

Die in deiner mail mir gegenüber aufgemachte Prioritätenfolge sehe ich nicht. Aus meiner Sicht ist es nicht an dir und Claudia, erstens eure Beziehung ‚vor dem Hintergrund deiner noch bestehenden Ehe mit Bärbel zu klären‘ und dann zweitens den ‚Arsch in der Hose‘ zu haben, Bärbel und deiner Familie das Ergebnis aus Punkt eins endlich mitzuteilen.

Wenn du jemals wieder einen Arsch in die Hose bekommen willst, dann kann es nur um die umgekehrte Reihenfolge gehen. Es tut mir sehr leid, dass du das zumindest in deiner mail, die du mir zugegebenermaßen sehr früh, nämlich schon am 2. März um 00.20 Uhr gesendet hast, noch nicht sehen konntest. Für dich kann’s ums Verrecken nur darum gehen erstens endlich mit deiner Frau zu klären, was dich im letzten ¾ Jahr umgetrieben hat, damit ihr endlich die Chance bekommt, das zu betrachten, was euer gemeinsames Leben von fast 30 Jahren ausmacht; auch die Momente und Ressourcen, die einem noch einmal deutlich machen, wen man geliebt hat und liebt, wirklich liebt – ohne die tausend Sonnen eines wunderbaren Frühlings. Vielleicht ist es ja doch der Mensch, der einem drei Kinder geboren hat, und von dem man weiß, dass es einen schier umgebracht hätte, wenn er dabei zum Beispiel auf der Strecke geblieben wäre. Es ist sicherlich an der Zeit, mit all den Demütigungen aufzuräumen, die eine fortgesetzte Missachtung des Menschen zur Grundlage hatte, den man geheiratet hat, mit dem man drei Kinder in diese Welt gebracht hat, von denen das jüngste mal eben vierzehn ist,  und von denen der Sohn eine Bedürftigkeit an den Tag legt, die einen unter Umständen an die eigene Bedürftigkeit aus Kindertagen erinnert, und von denen das älteste gerade gut genug ist, es zu belügen, um die heimliche Liebe nicht zu gefährden und preiszugeben.

Nein, mein Freund, Tacheles wird aus alledem, wenn du spürst, dass die von dir vorgegebene Reihenfolge geradezu absurd wirkt. Du wirst sehen und erfahren müssen, was Vorrang beansprucht. Das Ergebnis aus deinem ersten Punkt  ist doch längst eindeutig: Der Frühling ist vorbei. Vielleicht wirst Du Claudia irgendwann dafür dankbar sein, dass ihr diesen Frühling haben durftet, so wie sie dir dafür dankbar ist! Aber Semele macht den Schritt vom Frühling in den Sommer, von der Tochter zur Frau. Sie lässt ihren Vater endlich los und sich als sein Kind. Claudia hat die große Chance, diesen Entwicklungsschritt für sich zu nutzen. Für deine weitere Entwicklung gibt es Semele nicht mehr! Du wirst künftig Claudia als eine erwachsene Frau sehen. Und dieses Wissen und diese Intuition hat ganz offensichtlich ihr Handeln am Freitag geleitet.

Und bitte: Der Begriff der ‚regressiv-kindlichen Phantasie‘ ist Jellouscheks Bezeichnung eines Verhaltens, das etwas retten will, was nicht zu retten ist. Und insofern ist es eben nicht der terminus technicus für ‚das Spiel, das C. und du im vergangenen ¾ Jahr (beide!!!) gerne gespielt habt‘. Nein, die ‚regressiv-kindliche Phantasie‘ bezieht sich einzig auf den Versuch etwas von dem zu retten, was diesen Frühling ausgemacht hat. Und es ist mit Jellouschek der Versuch, ‚Dionysos zu verniedlichen‘. Und er gibt uns eine richtungsweisende Perspektive an die Hand: ‚Was durch ihn (Dionysos) bei allen dreien (und ich sag bei uns allen vieren) aufgebrochen ist bzw. aufbricht, ist so tief und so erschütternd, dass man es nicht schnell wieder in ein friedliches Zusammenleben einfangen kann.‘

Also nochmals, es tut mir leid, deine Reihenfolge ist absurd. Insofern ist der Käse, der zu essen ist, mehr als reif: Das ganze Krisenszenario, das mit Kränkung, Verlust, Tod und Trauer, alten Eltern und um ihre Perspektiven ringenden Kinder aufgebrochen ist, das ist überhaupt nicht eines, bei dem es darum geht – wie du sagst –, die Beziehung zwischen Claudia und dir vor dem Hintergrund der noch bestehenden Ehe mit deiner Frau zu definieren und ihr das dann endlich mitzuteilen. Das ist absurd – das ist Absurdistan in galaktischer Dimension. Wenn überhaupt, kann es nur um das Umgekehrte gehen. Aber du hast Claudia diesbezüglich gar nichts mitzuteilen. Du kannst nur endlich die Beziehung zu DEINER Frau klären. Ansonsten ist es so, dass ihr – Claudia und du – jetzt damit konfrontiert werdet, euch zu überstehen. Und ich hoffe für euch, dass dies in einer wertschätzenden Weise möglich sein wird. Aber der Frühling ist vorbei. Und nur derjenige wird jemals wieder einen Arsch in seiner Hose haben, der die damit angestoßenen Entwicklungschancen zu nutzen weiß. Der Baustellen sind genug!

Nachdem ich mir die Mails deiner Frau noch einmal durchgelesen habe, verspüre ich das unbändige Bedürfnis, ihr die Mailwechsel und Briefe der letzten Tage zukommen zu lassen. Sie hat es an erster Stelle verdient, eine Perspektive und Klarheiten zu bekommen. Sie ist das eigentliche Opfer des letzten ¾-Jahres. Aber ich werde das nicht tun. Das ist deine Sache, wenn du begriffen hast, wie die Prioritäten liegen.

Dein Freund Jupp

Bei diesem Chaos drängt sich Dirk Baeckers Lebensgleichnis geradezu auf:

 „Stellen Sie sich vor […] Sie seien der Schiedsrichter, ein Mitspieler oder auch der Trainer bei einem ungewöhnlichen Fußballspiel, in dem das Spielfeld rund ist, mehrere Tote ### zufällig über das Spielfeld verteilt sind, die Leute auf das Spielfeld kommen und es wieder verlassen, wie sie wollen, jeder jederzeit einen neuen Ball ins Spiel bringen kann und jederzeit eins oder auch mehrere Tore zu seinem Tor erklären kann, das Spielfeld insgesamt eine abfallende Fläche ist und das Spiel überdies auch noch so gespielt wird, als habe es Sinn. In dieser Situation, die die Wirklichkeit selber ist und die so wenig mit der klaren Sachordnung zu tun hat, von der wir träumen, hilft nur die lose Kopplung. Wer sich in dieser Situation fest koppeln lässt, das heißt, wer sich für Nähe oder Ferne entscheidet, so als gäbe es diese in der Form einer eindeutigen, sich wechselseitig ausschließenden Alternative, muss zwangsläufig verrückt werden. Wer in dieser Situation jedoch sagen kann, das ist ‚nahe genug‘, entscheidet sich für lose Kopplung, fängt an zu beobachten, verwechselt sich selbst nicht mit den Bedingungen, auf die er sich einlässt, und entdeckt auch bei den anderen Spielräume des Verhaltens, die das Chaos nicht etwa noch größer werden lassen, sondern es für einen Moment so zu ordnen erlauben, dass man Spaß daran bekommt, sich an dem Unsinn zu beteiligen.“

In den Tagen um den 29. Februar 2008 herum noch von Spaß zu reden, käme einem recht zynischen Blickwinkel gleich. Hier waren sich einige Menschen viel zu nahe gekommen, einige Tote lagen auf dem Spielfeld, der Ball war schon lange nicht mehr zu kontrollieren und ständig wechselnde Torpositionen trugen nicht eben zu einer halbwegs verlässlichen Orientierung bei, ein vertrauenswürdiger Schiedsrichter nicht in Sichtweite – eine Situation zum Verrücktwerden.

Um zu entscheiden, was sich nun in den nächsten gut vier Jahren zutrug, kann man pendeln zwischen Schmierenkomödie und Tragikomödie. Gänzlich auf der Strecke blieb die Frau des Freundes. Der hatte ich noch im März 2008 geschrieben:

         „Meine Liebe,

das ist eine zweite, späte Antwort auf deine mail vom 28. Juni2007. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Das, was ich dir am 29. Juni 2007 geschrieben habe, entspricht nach wie vor meiner Überzeugung. Aber es war zu diesem Zeitpunkt vielleicht nicht die angemessene Antwort auf deine mail. Sie beruhte vor allem, was deinen Mann anbetrifft, auf einer irrigen Voraussetzung. Ich habe damals geschrieben, der Unterschied zwischen ihm und mir sei, dass ihn keine andere Frau blockiere. Wie dumm!!! – auch mich hat 1997 keine andere Frau blockiert, sondern ich bin in eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Frau gegangen und wollte mir dazu eine andere Frau an die Seite stellen. Wie dumm, könnte man jetzt sagen. Aber es war – bezogen auf die lange Sicht und jetzt aus dem Rückblick von elf Jahren – überaus klug. Es hat mich in eine Krise hineingeführt, die alle unbewältigten Konflikte, alle Baustellen, die ich nicht zu Ende geführt hatte, zum Vorschein brachte. Und die Frau, die mich wirklich ‚blockiert‘ hat und die alle Freiheit meines Handelns so über die Maßen eingeschränkt hat, war Claudia.  Das Weggehen war der Beginn eines langen Weges zurück zu ihr.

Deinem Mann ist es haargenau so ergangen. Nicht Claudia hat ihn blockiert oder blockiert ihn. Nein, sein Versuch, sie sich an die Seite zu stellen, entspricht genau dem, was ich 1997 gemacht habe. Es sind auch bei ihm die alten, die uralten Baustellen, und es ist vermutlich eure ungeklärte Beziehung, die ihn wirklich blockiert für alles entschiedene und freie Aufbrechen in eine neue Welt. Ich glaube, das kann er jetzt zum ersten Mal wirklich sehen, genau wie ich damals. Claudias ‚Job‘ ist erledigt. Die beiden können dankbar sein für das ¾ Jahr, das sie miteinander hatten. Das, was sie hatten, ist definitiv vorbei und jetzt beginnt etwas Neues.

Ich möchte dir von meiner Geschichte nur so viel erzählen, dass es sich so unendlich gelohnt hat, die seinerzeitige tiefe Krise zu einer wirklich neuen Orientierung zu nutzen. Das war ein langer Weg, der Claudia und mich wieder zusammengeführt hat. Ohne das, was in den letzten zehn Jahren gewachsen ist, hätte ich das letzte ¾ Jahr nicht überstanden. Die Welt ist für mich jetzt wieder klar. Sie ist so klar, wie sie nie war.

Eure Zeitrechnung in dem Sinne, dass ihr jetzt tatsächlich gleichermaßen zurück, aber vielleicht doch auch nach vorne schauen könnt, die beginnt erst jetzt; jetzt, nachdem dein Mann definitiv erfahren hat, dass es keinen Weg mit Claudia oder irgendeiner anderen Frau geben kann, wenn er nicht mir dir tatsächlich das anschaut, was euer gemeinsame Geschichte über so viele Jahre/Jahrzehnte ist. Dazu braucht er Zeit. Er muss und wird seinen unendlichen Schmerz verkraften und verarbeiten. Das ist nicht allein und vielleicht am wenigsten der Schmerz um die ‚verlorene‘ Claudia, sondern so, wie ich ihn erlebt habe, der Schmerz über so viel Versäumtes, Verpasstes, der Schmerz über so viele Verletzungen, die für ihn schon in der Kindheit beginnen (ich kenne kein vergleichbares Elternhaus, wie das deines Mannes, in dem die Kinder in ihrer Bedürftigkeit so allein gelassen worden sind). Und euer Sohn droht(e), was die Vater-Sohn-Beziehung angeht, vielleicht in eine ähnliche Situation zu geraten. Aber dein Mann ist so anders. Er ist ein toller Mann – und ich kann Claudia verstehen. Und ich kann dich verstehen: Ich hoffe sehr für euch, dass du deinen Mann wieder sehen kannst und dass du all die tollen Seiten an ihm entdecken kannst. Und ich hoffe inständig, dass dein Mann dich wieder sehen kann und all die tollen Seiten an dir wieder und neu entdecken kann.

Ich wünsch euch einen langen Atem – ich selbst weiß nur, dass es sich lohnt und ich grüße dich sehr herzlich Jupp

Die Frau unseres Freundes hatte keinen Einblick in mein schuldenbedingtes heilsökonomisches Defizit. Sie hatte keine Ahnung davon, dass ich in unserem gemeinsamen Seelengrundbuch eine beträchtliche Grundschuld hatte eintragen lassen, deren Löschungsbewilligung nicht in Aussicht stand. Nur die Erfahrung, wie man selbst zu einem ansehnlichen Schuldenkonto gelangt – mit anschließender Privatinsolvenz, konnte hier die Voraussetzungen für einen annähernden Schuldenerlass begünstigen. Und nur so ist ihre – die Antwort der Frau unseres Freundes zu verstehen, die vor allem ein gewisses Unverständnis für meine Haltung signalisierte. Dass auch das Ehekonto unserer Freunde offene Rechnungen beinhaltete, war mir genauso wenig klar:

„Lieber Jupp,

es ist in meinem Inneren ein heilloses Durcheinander. Meine erste Frage an dich ist, wie konntest du damit ein Dreivierteljahr leben? Zu wissen, die Frau, die ich liebe, nähert sich einem Freund an in meinem eigenen Haus? Bist du ein Heiliger? Oder wie kann man damit leben? Ich war am Anfang wahnsinnig eifersüchtig. Das alles ist nun leider passiert. Warum haben beide das alles heimlich gemacht? Es wusste doch jeder! Warum hat mich mein Mann teilweise beschimpft, ich wäre all dem intellektuell nicht gewachsen, und ich müsste endlich was aus meinem Leben machen. Heute weiß ich natürlich, warum er das gemacht hat. Ich war total verletzt, und da hatte er mit deiner Frau im Rücken leichtes Spiel. Er war stark, so wie ich damals mit Michael. Du weißt sicher davon.

Es ist schlimm zu sehen, dass es meinem Mann dreckig geht. Aber er hat das auch als schlimm empfunden, als es mir so ging, als er im vergangenen Jahr auszog. Ich bin doch ziemlich blöd, dass es mir nahe geht, dass er leidet. Eigentlich müsste ich doch Schadenfreude haben. Aber die habe ich weiß Gott nicht. Ich müsste mich eigentlich freuen, dass er mir wieder ein bisschen näher kommt, aber ich habe sooooooo furchtbare Angst. Und ich weiß nicht, ob ich das schaffe, dass wir wieder ein Paar werden, das sich liebt. Ich weiß auch, das liegt nicht nur an mir. Ich stehe vor einem riesigen Berg.

In deinem Brief schreibst du, ich bin froh, dass die beiden sich hatten. Es hört sich für mich so an, als ob du Claudia für solche Zwecke schon einmal verleihst. Ich weiß, das ist Quatsch, aber es hört sich so an.

So, eine Nacht ist jetzt zwischen den Briefen. Mein Mann ist wieder aus Frankfurt zurück, und wir haben uns für Samstag mit den Kindern zum Essen verabredet. Ich glaube, ich werde ihm den Vorschlag machen, noch einmal mit den Leseabenden weiter zu machen. Ich weiß, er hat genau so viel Angst davor, was jetzt kommt. Kann man jemanden eigentlich noch spüren nach so vielen Verletzungen, ist da tatsächlich noch etwas? Wie ist so etwas möglich? Wie gehst du jetzt mit der Situation um? Ich weiß, du kannst mir all diese Fragen nicht beantworten, aber es tut gut, jemandem zu schreiben, der in der gleichen Situation war.

Ich muss noch hinzufügen, ich habe auch Bekanntschaften mit Männern geschlossen. Es waren auch wirklich nette dabei. Aber irgendetwas war immer in mir, das mir sagte: Das ist ja alles ganz nett, aber eben nur ganz nett! Ich glaube, man braucht das auch, um sein Selbstwertgefühl wieder aufzupolieren; war ja bei ihm auch so. All das hat vielleicht auch mit der langen Zeit zu tun, mit den Höhen und Tiefen, die ich mit ihm erlebt habe. Auf jeden Fall will ich den Kampf um unsere Ehe wieder aufnehmen. Jetzt, wo ich weiß, dass er auch mit mir kämpfen will.

So, lieber Jupp, das waren nur Ausschnitte aus meinem Kopf. Ich habe erst überlegt, ob ich dir schreibe. Aber ich glaube, es war richtig. Es gibt noch so viel Ungeklärtes, aber ich, oder besser wir, haben ja noch viel Zeit alles aufzuarbeiten. Ich bin ganz zuversichtlich-

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende“

Mir rutscht noch heute das Herz in die Schuhe, wenn ich auch über meine Rolle in der nun folgenden – ja ich weiß nicht: Schmieren- oder Tragikomödie – nachsinne. Außer Frage steht, dass wir alles in allem bis zum Jahr 2012 tatsächlich in den vielen gemeinsamen Unternehmungen, Urlauben, Zusammenkünften – überhaupt in einem sehr gediegenen Netzwerk von Bekanntschaften und Freundschaften – eine Menge Spaß hatten; vermutlich wird keiner der Beteiligten die Zeit wirklich missen wollen! Und dennoch: Mit Abstand betrachtet ist es doch zum einen eine ausgewachsene Schweinerei, die hier jemand inszenierte, bis er endlich 2012 die Reißleine zog – seine ganz persönliche Reißleine! Diese Reißleine hat ganz gewiss zwei Auslöser. Und es wäre vollkommen unangemessen, hier jemandem das Schuldenkonto über Gebühr vollzuladen. Zwei eklatant füreinander ungeeignete Menschen haben sich schließlich und leider  auf ungute Weise auseinanderdividiert. Schadenfreude ist  nicht angezeigt. Lediglich die Frage, ob man selbst auch hier wieder viel zu lange zugeschaut hat!?

Ich schrieb der Freundin auf ihren Brief folgende Antwort:

„Liebe Freundin,

ich danke dir für deinen Brief und dein Vertrauen. Um mich zu verstehen, gibt es ein paar wichtige Mosaiksteine. Ich will sie dir gerne schildern:

  1. Der erste und sicher folgenreichste liegt mehr als elf Jahre zurück. Wenn ich mir alles noch einmal vor Augen führe, dann glaube ich, hat es selten einen Mann zuvor gegeben, der seine Frau so sehr verletzt hat, wie ich das getan habe. Um mein Handeln zu verstehen, muss man das einfach wissen. Ich bin alles andere als ein Heiliger. Am wichtigsten ist mir dabei, dass Claudia das erkannt hat und zum ersten Mal in unserem gemeinsamen Leben sehr konsequent nicht die Rücksichtnahme auf mich in der Vordergrund gestellt hat.
  2. Aber auch dazu muss man wissen, dass Claudia mir immer glaubhaft vermittelt hat, dass sie mich nicht verlassen würde. Bis zuletzt ist Claudia in diesem Punkt immer eindeutig geblieben. Sie hat deinem Mann nie in Aussicht gestellt, es könne sozusagen ein neues Leben mir ihr geben.
  3. Zuletzt habe ich vielleicht eher die Reißleine gezogen. Ich habe ganz klar gesagt: Keinen Monat, keinen Tag, nicht einmal eine Stunde länger möchte ich die zuletzt zugespitzte Situation weiter so haben. Wenn ich dir geschrieben habe, dass die beiden froh sein sollen für die Zeit, die sie hatten, dann schreibe ich das in dem klaren Bewusstsein, dass diese Zeit jetzt unwiederbringlich vorbei ist. Auch für Claudia und mich beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt, auf den ich mich freue.
  4. Und es gibt zum vierten noch etwas klarzustellen, was ich dir jetzt im Vertrauen sage, und von dem ich weiß, dass es so und nicht anders war. Dein Mann und meine Frau sind nicht in ‚meinem‘ Haus fremdgegangen. Dass sie sich final aufeinander eingelassen haben, ist Tatsache, und es hat letztlich den Kipppunkt herbeigeführt und den Weg freigemacht für eine neue Entwicklung.

Alles, was du zum Verhalten deines Mannes schilderst, die Beschimpfungen und die Abgrenzungen, all das kommt mir so vertraut vor. Und du hast Recht: So wie dein Mann geblendet war von der Welt, in die er sich im Hinblick auf Claudia hinein phantasiert hat, genau so war ich 1997 eingenommen von der Idee, mit einer anderen Frau eine neue Welt haben zu können. Es war seinerzeit ein ähnlicher Punkt, der dieses merkwürdige Luftschloss zum Platzen gebracht hat.

Auch dass der Berg, vor dem du stehst riesig ist, kann ich nachvollziehen. Dass es mir heute so gut geht, verdanke ich einerseits Claudia, die 1997 sicherlich einen ähnlichen Berg vor sich gesehen hat. Ich bin ihr dankbar für die unendliche Geduld, die sie gehabt hat. Aber ich bin heute auch so unendlich froh, dass ich mich getraut habe, diesen gemeinsamen Weg zu gehen. Nichts in meinem Leben hat sich mehr gelohnt. Vermutlich hat mir das auch die Kraft gegeben, dieses letzte Dreivierteljahr unbeschadet zu überstehen und sogar gestärkt aus ihm hervorzugehen.

Es kann sicherlich nur eine langsame Annäherung sein, die sich da jetzt vollzieht. Aber du schreibst, dass du keine ‚Schadenfreude‘ empfindest. Das ist sicherlich schon ein sehr gutes Zeichen, obwohl: ein kleines bisschen Schadenfreude dürfen wir uns auch zugestehen, denn so wie man den Genuss hat, von dem, was man tut, so muss man sicherlich auch den Schaden ertragen, der mit einem solchen Handeln verbunden ist – es gibt halt eben nichts umsonst im Leben.

Claudia und ich haben das damals auch über die gemeinsamen Leseabende herausgefunden. Und wir haben uns dabei auch harte Kost zugemutet. Deinen Mann und Claudia habe ich in den letzten Tagen (vor dem 1. März) noch einmal mit dem Buch von Hans Jellouschek (Die Rolle der Geliebten in der Dreiecksbeziehung) konfrontiert. Uns hat das damals geholfen, eine Menge von dem zu verstehen, was so schwer zu verstehen ist. Und mit einem wachsenden Abstand zu dem, was alles passiert ist, glaube ich auch, dass dein Mann sich/und euch die Chance geben wird, noch einmal genauer hinzuschauen. Und ich glaube auch, dass er noch einmal beginnt, um eure Ehe, die ja auch eingebettet ist in eine Familie, zu kämpfen.

Ich bin froh, dass wir auf diese Weise noch einmal Kontakt aufgenommen haben, wobei ich ganz sicher glaube, dass es dafür jetzt genau der richtige Zeitpunkt war.

Ein schöneres als all die letzten – und vor allem ein erstes auch schon mehr befreites Wochenende wünsche ich auch dir“

Während ich mit der Frau des Freundes diesen Briefkontakt aufnahm – sie erwähnt, dass ihr Mann geschäftlich Anfang März in Frankfurt war –, schrieb der Freund seiner Semele einen Brief, mit dem er das Blatt tatsächlich noch einmal zu seinen Gunsten wenden wollte. Dieser Brief verfolgte eine perfide Strategie, die schlicht damit zu tun hatte, dass ich nicht nur in der Schuldenfalle saß, sondern dass ich mir – wie zu Beginn geschildert – im Sinne eines Manifestes die Verpflichtung auferlegt hatte, den Schierlingsbecher mit meinem Schwiegervater bis auf den letzten Tropfen zu leeren. Auch im letzten Dreivierteljahr war ich kein Jota von dieser Haltung abgewichen. Alle Heiligen gehen mir am Arsch vorbei. Meine Position war schlicht: Es gibt im Leben nichts umsonst – alles hat seinen Preis; wird der Preis aus Dankbarkeit und Liebe entrichtet, dann ist/wird alles gut. In seinem Brief versuchte der noch im Kampfmodus argumentierende Freund Claudia zu verdeutlichen, sie müsse sich endlich von ihrem Vater befreien, dessen Stelle ich längst eingenommen hätte. Der Schuss ging indes nach hinten los. Vermutlich hatte er da sein Blatt endgültig überreizt, da Claudia über eigene therapeutische Anstrengungen das schwierige Tochter-Vater-Verhältnis längst hinreichend beackert hatte.

Und es ist mehr als redlich, wenn zwei Venusmenschen nach ihrem Frühlingserwachen die Kraft und den Anstand haben, auch noch einmal gemeinsam zu betrachten, was denn da in einem – gewiss auch traumhaften – Dreivierteljahr geschehen ist. Dass unser gemeinsamer Freund in seinem Survival-Package über einen hoch wirksamen Verdrängungsmechanismus verfüge, das war allen engeren Freunden offenkundig in all den Jahrzehnten nicht verborgen geblieben. Dennoch wunderte sich der/die ein oder andere nicht schlecht, in welchem Schweinsgalopp sich die Annäherung an die Familie in der Folge vollzog. Das gab Anlass zu einer durchaus gediegenen und berechtigten Hoffnung. Dass redliches Bemühen zweier Venusmenschen um Kontenklärung auch einen geschützten Raum benötigt, vor allem dies soll hier konzediert sein. Und dennoch bleiben eher die Enthüllungsszenarien legendär.

Claudia begann endlich, ihre ureigensten Interessen und Potentiale zu bergen und zu entfalten. Im Juli 2008 belegte sie einen Malkurs im Allgäu – die Freude darüber war allerseits; vor allem auch darüber, dass sie nicht versuchte, mich in Schlepptau zu nehmen. Unterdessen pflegte ich weiterhin e-mail-Kontakt zu der Frau des Freundes, ermunternd, begeistert von den Fortschritten im ehelichen Wiederbelebungsversuch. Als sie mir dann Mitte Juli schrieb, wie begeistert sie von der Verwandlung ihres Mannes sei, und dass er es ich verdient habe, mit seinem geliebten Motorrad durch die Alpen zu düsen, hörte ich wieder einmal die Nachtigall trapsen.

Das Treffen des Freundes mit Claudia – dieses Mal in den sommerlichen Bergen – war zwar konspirativ, aber es galt zweifelsfrei dem Versuch einer gemeinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit; es hatte also nicht mehr ganz die Qualität des „Spiels“ das die beiden Venusmenschen – wie der Freund sagt – „gerne gespielt haben“, weil sie sich nun eben einmal so über die Maßen ähnlich seien. Seine Frau hat davon nie erfahren – ich war auch damals nicht gewillt, das zarte Pflänzchen eines gemeinsamen Neubeginns schon wieder im Keim zu ersticken.

Auf dem Hintergrund der dann letztlich eingetretenen Entwicklung war das sicherlich ein Fehler. Die beiden waren schon versierte, mit allen Wassern gewaschene Spieler – Zocker aus Leidenschaft. Am 14.07.2008 erhielt eine Postkarte in Südtirol ihren Poststempel, adressiert an Familie Witsch-Rothmund mit ganz lieben Grüßen von unserem gemeinsamen Freund. Aus den Dolomiten kommend habe er Livigno erreicht und mache sich morgen über die Schweiz auf den Heimweg – ganz weit weg vom bayrischen Allgäu. Claudia erzählte nach ihrer Heimkehr natürlich auch nichts von dem konspirativen Treff, der zum sogenannten Rütli-Schwur der beiden Hauptprotagonisten führte. Er beinhaltete im Grunde genommen die Übereinkunft, sich die Butter auch künftig nicht mehr vom Brot nehmen zu lassen.

Ich werde ja sicher in meinen folgenden Aufzeichnungen auch noch einmal verdeutlichen, warum ich jedem sein Butterbrot von Herzen gönne. Gleichzeitig räume ich auch gerne ein, dass ich an Achterbahnfahrten kein gesteigertes Interesse mehr hatte. So war es einerseits durchaus folgerichtig, dass im Herbst die Ski-Exkursionen wieder aufgenommen wurden; die erste gemeinsam mit des Freundes Sohn – eine gute Entscheidung, auch für den Sohn!? Die einen sagen so – die anderen so; viele weitere Ski-Unternehmungen erfolgten dann in wechselnden Konstellationen, sogar als gemeinsame Familienunternehmungen.

Das wäre auch alles nicht weiter erwähnenswert, wenn sich nicht im Rückblick so umfassend klar und deutlich zeigen würde, dass die Wiederbelebung der ehelichen Gemeinschaft unserer Freunde einer Totgeburt glich, dem Versuch einen toten Gaul zu reiten. Warum? Weil der Freund nicht ansatzweise erkennen ließ, dass er bereit gewesen wäre, seiner Frau auch nur einen zarten Schimmer dessen angedeihen lassen zu wollen, was Peter Fuchs mit einer wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz so prägnant beschreibt. Im Gegenteil ließen die neuen Prioritäten nach einem anfänglichen Aufschwung sehr schnell erkennen, dass das glatte Gegenteil der Fall war.

Intriganten sind wir alle!

„Die Paarbeziehung als Liebesbeziehung ist nun mal das Herzstück jeder Familie und wahrscheinlich auch das Beste für die Kinder, denn: Das Beste, was ein Vater für seine Kinder tun kann, ist ihre Mutter zu lieben (Wolfgang Hantel-Quitmann, Liebesaffären – Zur Psychologie leidenschaftlicher Beziehungen, Gießen 2005, S. 9)!“

Den „Ordnungen der Liebe“ Bert Hellingers (Heidelberg 1994) – diese These stelle ich hier einmal in den Raum – ist nicht von vorne herein ein normatives Konzept, sondern eines, was auf die Bindungsdimensionen (-qualitäten und –unterschiede) in familiären und intimen Beziehungen aufmerksam machen will.

Der Rütli-Schwur im Juli 2009 war das eine. Im Oktober desselben Jahres ergaben sich dann neuerliche – ich möchte es einmal – Irritationen (nennen). In meinem Tagebuch ist folgender Vermerk.

„Aus den neuerlichen Irritationen der letzten Tage ergibt sich dem Freund gegenüber – wenn überhaupt – der Hinweis, endlich einmal, vielleicht über eine Aufstellungsarbeit, zu einer Einsicht bzw. einem Überblick zu gelangen im Hinblick auf die merkwürdige Fortsetzung einer Konstellation, für die im Februar/März 2008 der Höhe- bzw. Wendepunkt markiert war. Das gilt natürlich auch für Claudia. Vor drei Wochen waren die Freunde zuletzt bei uns; unsere Freundin hatte Claudia um ein klärendes Gespräch gebeten – ausgelöst durch eine e-mail, die Claudia irrtümlich ihr statt dem Freund zugesandt hatte. Für mich eine Bagatelle, in meiner Haltung zwischen Toleranz und Ignoranz. Dann wenige Tage darauf – mit extrem hohen Aufforderungscharakter ein Papierkorb vor der Türe zum Garten hin; unsere Papiersammeltonne steht in der Garage. Den Papierkorb nehme ich mit, zerlege wie immer – in Raumnot – Kartonage und entleere zuletzt das Restpapier. Was bleibt zu oberst liegen und springt mir ins Auge? ‚Ich liebe dich – KEINER LIEBT DICH SO, WIE ICH!!!“ Ich traue meinen Augen nicht. Was soll das??? Ich puzzle mails zusammen und bekomme eine eindrucksvolle Bestätigung der Irritiationen der Freundin. Die anschließenden Gespräche mit Claudia, in die auch unsere gemeinsame Lektüre der Familienaufstellungen Gunthard Webers (einschließlich meiner eigenen) einfließen, bringen immerhin als ein Ergebnis zu Tage, wer hier die Supernova, und wer hier die 25-Watt-Birne ist. Ich fordere lediglich, dass die Rütli-Gang sich besinnt und endlich ihre Hausaufgaben im Sinne des Höchstrelevanzkriteriums (Peter Fuchs) erledigt.

Immerhin reagiert der Freund am 12. Oktober 2009 mit einer mail, in der unter anderem zu lesen ist:

„Nun hoffe ich, dass ich mit meinen Zeilen, die Claudia zerrissen hatte und die du ohne Kontext zufällig gelesen hast, bei dir nicht so viel Wut und Verunsicherung freigesetzt haben, wie ich ganz sicher niemals wollte und wie sie der ganzen Situation auch nicht angemessen wären. Verstehen würde ich das allemal. Vielleicht haben wir beide aber jetzt auch wieder die Chance, besser ins Gespräch zu kommen.“

Damals wie heute war längst klar, dass es natürlich nicht primär um mich ging. Der Vergleich Supernova – 25-Watt-Birne trifft es auf den Punkt, und ich will die ganze Chose hier in konzentrierter Form zu einem Abschluss bringen: Der Freund betrieb nach dem Tod seines Vaters 2010 – er ist exakt drei Wochen nach Claudias Vater verstorben – mit Vehemenz die Rückkehr ins elterliche Haus; ein weiterer harter Konfliktpunkt zwischen den beiden Eheleuten. Seine Frau sperrte sich lange und letztlich auch final gegen diese Bestrebungen. So kam es denn 2012 zum Schlussstrich durch den Freund. Nach einem abgebrochenen Urlaub auf einer Mittelmeer-Insel, in dessen Zug der Freund aufgrund eines Unfalls einen mehrtägigen Klinikaufenthalt in Kauf nehmen musste, erklärte er die finale Trennung von seiner Frau. Die Scheidung ist mehr als sechs Jahre später nach endlosen Streitereien rechtskräftig geworden. Von 2012 bis 2014 – das Jahr, in dem wir Weltmeister geworden sind –,  verlagerte der Freund seinen Wohnsitz endgültig wieder in die Heimat. Die Entrümpelung seines Elternhauses erlebten wir – als fleißige Helfer und mit der Unterstützung des inzwischen gediegenen Freundes- und Bekanntenkreises – vordergründig betrachtet als Befreiung.

Die Freundschaft zwischen dem Freund und Claudia hatte sich in ruhigem Fahrwasser etabliert, es folgten viele Ski-Unternehmungen in wechselnden Konstellationen. Der Freund wuchs nun vollends und alternativlos in unseren gewachsenen Freundeskreis hinein.

Es sind Allerweltsweisheiten, dass ein Ehepartner dem anderen – mit Blick auf den kruden Alltag, die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen respektierend – nicht alles sein kann. Im Lob der Vernunftehe hat Arnold Retzer die Bedingungen und Hilfestellungen bei der Kultivierung einer liebevollen Partnerschaft überzeugend vertreten. Wir hatten uns alle miteinander arrangiert. Claudia ließ sich weiterhin den Pelz waschen, ohne W a s s e r. Die Zeit von 2012 bis 2014 habe ich als vollkommen entspannte Zeit in Erinnerung.

Der Wendepunkt trat ein, als der Freund dann 2014 Weltmeister wurde und im Zuge dieser Euphorie erstmals eine andere Frau an seiner Seite erscheinen ließ. In einer Frühphase – im Oktober 2014 verabredeten wir uns zu einer gemeinsamen Wanderung. Schon auf den ersten Metern vermittelte Claudia der Frau, dass niemand den Freund besser kenne als sie. Es entstand eine Frontstellung, die sich aus Oberflächlichkeiten nährte, die aber alle Qualitäten eines gediegenen Machtkampfes aufwies. Vermutlich war ich hier aufmerksamer und höchstsensibilisiert, weil ich mir andauernd die Frage stellen musste: „Warum in aller Welt gebärdet sich meine liebe Frau in dieser Weise?“ Ich habe mich nie für meine Frau geschämt, musste nun aber fortgesetzt erleben, dass sie sich über Monate und Jahre nicht entblödete, ihrem allerallerersten Freund gegenüber, der für kurze Zeit wieder ihr Freund geworden war, mit unübersehbaren Eifersuchtsgebärden zu begegnen. Der wiederum bestand irgendwann auf der Position: „Mit ihr, oder gar nicht.“ Dazu hatte ich ihn ermuntert mit dem schon leidlich bemühten Hinweis, er solle endlich mal wieder – neben Schwanz - auch Arsch in der Hose zeigen. Wenn er sich sein Leben nicht von seiner Wasch-mir-den-Pelz-Freundin diktieren lassen wolle, dann müsse er ihr die Stirn zeigen.

Das tut der Freund bis heute. Die neue Frau wohnt seit geraumer Zeit in seinem Haus. Der Kontakt zwischen dem Freund und meiner Frau ist inzwischen freundlich aber distanziert. Apropos Freunde: So ziemlich alle Freundschaftsbeziehungen der letzten 15 Jahre haben sich weitgehend auf das Niveau eines lockeren Miteinanders reduziert; man spricht da – statt von Freundeskreis sicher angemessener von einem durchaus gediegenen Bekanntenkreis, bis auf wenige Ausnahmen, die dem steten Wandel standgehalten haben. Das komplette Desaster, das ich auf meine Weise abzuwenden versuchte, offenbart sich in zwei relativ späten Briefen an den Freund und meine Frau. Auch 2015/16 war es für mich ein Leichtes meine Argumentation gedeckt zu sehen von der Hypothek, die aber inzwischen lange aus unserem Seelengrundbuch gelöscht war. Delikat in dieser Hinsicht, der Hinweis, mit wem ich/wir seit unserer Heyerberg-Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft lebe:

Güls, den 5.1.2015 (Teil 1) bzw. den 18.5.2016 (Teil 2)

Teil 1 vom 5.1.2015

Liebe Claudia, lieber Freund,

es wird Zeit für einen Brief. Es hat öfter Briefe zwischen uns gegeben. Seit 2008 galt dabei die Aufmerksamkeit immer Aspekten des Aufbruchs. Wir haben zuerst versucht, intime Paarbeziehungen und Freundschaft miteinander zu vereinbaren. Das ist misslungen. Keine Frau duldet die Konkurrenz sozusagen im eigenen Haus (mit kränkenden Provokationen, Schiurlaub über den Hochzeitstag oder intime briefliche Kommunikation). Die wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz – wie Peter Fuchs sagt – ist alternativlos. Ich argumentiere gerne damit, dass Claudia dies im umgekehrten Fall nicht geduldet hätte. So ist es irgendwie logisch und auch folgerichtig, dass die Paarbeziehung zwischen Dir – dem Freund – und Deiner Frau letztlich definitiv gescheitert ist und eine „Revitalisierung“ ausgeschlossen erscheint. Jedes Wort darüber ist gesagt.

Der zweite Versuch, den Respekt vor intimer Paarbeziehung und Freundschaft miteinander zu vereinbaren, scheitert nun ebenfalls:

  1. Als Freund und Freundin – so kann man es auch in klugen und allzu klugen Erörterungen über Freundschaft (z.B. bei Arnold Retzer) nachlesen – ist es angemessen und kommt nahezu einer Verpflichtung gleich, den Freund vor erkennbaren Gefährdungen zu warnen. Die Sorge um den Freund ist eines der stärksten Indizien für wahre
  2. Diese Sorge und die Formen ihrer Mitteilung unterliegen den Kriterien einer vertrauensvollen, nahezu intimen Diskretion, die jederzeit die Beteiligten vor Bloßstellung und Brüskierung schützt.

Wählt man davon abweichende Formen der (öffentlichen) Kommunikation, die einer Brüskierung und Bloßstellung der Beteiligten gleichkommt, gefährdet und belastet man Freundschaft zutiefst. Vor allem setzt man sich der Vermutung aus, erneut den Machtkampf zu suchen, um Fragen der Höchstrelevanz zum Entscheidungskriterium für künftige Freundschaftsbeziehungen zu machen.

Noch einmal: Bedenken gegen eine neu entstehende intime, höchstrelevante Beziehung des Freundes (die das Ausmaß der einem selbst entgegen gebrachten Aufmerksamkeit relativieren) kann und darf man äußern: Dies aber nur diskret und wertschätzend (dem Freund gegenüber).

Sucht man den Machtkampf, setzt man sich zwangsläufig anderen Vermutungen aus und gefährdet das gesamte Beziehungsumfeld:

  1. Die Motive sind eigennützig und bangen um die eigene Höchstrelevanz.
  2. Die eigene Handlungsweise brüskiert Freund und Intimpartner gleichermaßen, einmal abgesehen von der Brüskierung der Intimpartnerin des Freundes.

Warum ist dies so folgenreich?

  1. Der Freund wird neuerlich in eine Entscheidung hinein gezwungen, in der es um die Klärung von „Höchstrelevanz“ geht. Er muss sich letztlich entscheiden für eine höchstrelevante, paartaugliche Form der Intimbeziehung und gegen die Freundschaft.
  2. Der eigene Intimpartner fühlt sich brüskiert und gekränkt, weil er die eigene Partnerin nicht als Freundin eines inzwischen selbst geschätzten Freundes erlebt, sondern als jemand, der wiederum Konkurrenz auslebt in Fragen der Höchstrelevanz.

Gibt es für die Nachvollziehbarkeit dieser äußerst knappen Form der Analyse hilfreiche Kriterien und Anhaltspunkte? Im Grundsatz folge ich der nüchternen – man könnte hier, im vorliegenden Zusammenhang, auch sagen – der resignativen Einsicht, dass nie irgendeine Frau wissen wird, wie sich irgendein Mann fühlt, dass sie nicht einmal wissen kann, wie sich irgendeine andere Frau fühlt (vice versa). Wir behelfen uns mit Konstrukten, die wir Empathie nennen oder Perspektivenübernahme, sollen dies unseren Kindern oder auch schon den Kindern in der Grundschule vermitteln.

Kann man das heilen? Man kann, aber – wie meist – nur um den Höchstpreis: Man kann sich entschuldigen – so wie es Bert Hellinger in allen ausweglos erscheinenden Situationen empfiehlt. Eine ernsthafte Entschuldigung in der Folge einer demütigen Selbstüberwindung ordnet das Feld neu. Hält man dies für aussichtslos, vermag man hier nicht zu folgen, verliert man den Freund und gefährdet die eigene Paarbeziehung (siehe Anhang vom 18.5.2016).

Und noch ein letztes Mal: Man kann über jemanden, der neu hinzukommt – wie im Falle unseres Freundes  – d e n k e n, was man will, man darf und muss diese Bedenken vielleicht zum fortgesetzten Gesprächsanlass in der Beziehung zum Freund nehmen, aber dies immer diskret und wertschätzend; ansonsten verliert man den Freund. Man lässt ihm sozusagen keine Wahl!

Selten in unserer fast achtjährigen gemeinsamen Freundschaft – von Eurer (vermeintlichen) Freundschaftsdimension (in der Zeit) mag ich gar nicht reden; sie war in der Tat bislang fast singulär (berücksichtigt man den immer wieder einmal einsetzenden Moduswechsel zwischen intimer und freundschaftlicher Beziehung), wie gesagt, selten war ich so sehr von Resignation eingenommen, wie gegenwärtig. Allerdings hatten wir früh schon die Einsicht im Sinne des Kölschen Grundgesetzes: „Et kütt, wie ett kütt“ und: „Et hätt noch immer jot jejange“ – ach ja,nicht zu vergessen: „Nix bleiv, wie et es!“

Euer Jupp

 

Teil 2 vom 18.5.2016

Liebe Claudia, lieber Freund,

nachdem ich – vor Wochen, wie oben schon betont, aus Resignation und Müdigkeit – begonnen habe, „unsere“ Geschichte noch einmal gründlich aufzuarbeiten, fiel mir heute obiger Brief in die Hände; immerhin aus dem Januar 2015. Was ich in diesem Brief versäumt habe, das hole ich in diesem Anhang nach. Ich erinnere mich, dass Claudia Euch beiden schon 2008 (ich meine mit „Euch beiden“ natürlich Dich, mein Freund, und Deine Frau) „Zweierlei Glück“ von Gunthard Weber empfohlen hatte. Auf S. 143f.  findet sich zu paartypischen Verstrickungen folgende Passage:

„Wer in einer wesentlichen Paarbeziehung war (mit sexuellem Vollzug), ist gebunden und kann nicht mehr raus ohne Schmerz und ohne Schuld.“

Zum Ende solcher Verstrickungen schreibt er:

„Meist geht es zu Ende, ohne das einer Schuld hat, sondern es geht zu Ende, weil jeder in einer für ihn eigenen Weise verstrickt ist oder weil jemand auf einem anderen Weg ist oder auf einen anderen Weg geführt wird. Sobald ich aber eine Schuld ausmache, habe ich die Vorstellung oder Illusion, ich könnte etwas tun oder andere oder ich bräuchte sich nur anders verhalten, und alles wäre gerettet. Dann wird die Größe oder Tiefe der Situation verkannt und verlagert sich auf die Schuldsuche und Vorwürfe, die sie sich gegenseitig machen.“

Mit der seinerzeit aufgetauchten, zumindest aber in die Welt gebrachten Vorstellung, man müsse etwas zu Ende bringen, was vor 35 oder 40 Jahren begonnen habe, ist das verbunden, was bei Hellinger als „Größe und Tiefe der Situation“ verstanden wird. An dieser Größe und Tiefe kann man – nach allem, was geschehen ist – ganz sicher nicht zweifeln. Um hieraus aber tatsächlich einen  W e g   zu finden, empfiehlt sich nach Hellinger folgende Intervention mit schlichten, aber fundamental bedeutsamen und lösenden Sätzen:

„Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, den ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Meine Aufarbeitung dient allein dem Zweck, auf die seit zwei Jahren ausgelebte Verstrickung hinzuweisen. Nachdem der Freund endlich (!!!) wieder bereit war, einer anderen Frau als Claudia Höchstrelevanz und damit  V o r r a n g  einzuräumen, ist das Feld bereitet für eine Lösung der nie wirklich aufgelösten Verstrickung. Das hat schon die Frau des Freundes ihre 30 Jahre andauernde Paarbeziehung gekostet (mit der Konsequenz der nun endlich anstehenden – auch juristischen – Auflösung dieser Ehe – vice versa) und bedroht(e) auch des Freundes Neuorientierung in der Welt der Frauen; mich hat es zunehmend belastet, Claudia hat es belastet und letztlich auch unser beider Paarbeziehung, die uns kostbar ist!

So bin ich überzeugt (ich habe es in Heidelberg erleben dürfen, und ich habe es vor allem an Leib und Seele erleben dürfen, wie befreiend die von Hellinger empfohlene Intervention ist), dass damit endlich ein Weg in die Freiheit geebnet werden kann. Was Freiheit in diesem Sinne bedeutet, das wird Claudia mir zutiefst attestieren. Denn sie erlebt, wie sich R.B.-K. (meine Verstrickung aus 1997) und der Jupp in letzter Zeit häufig – rein zufallsbedingt – begegnen: vollkommen unbefangen, ohne jede Häme, ohne jede Spitze (Kränkung, Beleidigung, Herabsetzung); denn R. ist unsere neue Nachbarin auf dem Heyerberg!

Das dürfte doch endlich auch uns allen einen ersten unbeschwerte(re)n Blick in die Zukunft erlauben!

Der Euch nach wie vor gewogene Jupp

Auch wer sein Pferd von hinten aufzäumt, muss nicht verkehrt herum aufsitzen - Warum ich unbedingt einem toten Gaul die Sporen geben wollte (21)

Ja, unsere Nachbarin auf dem Heyerberg. Von unserem Wintergarten sehe ich  das Wohn- und Arbeitszimmer meiner überübernächsten Nachbarn. Dort wohnt R.B.K. mit ihrem Lebensgefährten. Räumlich trennen uns nicht einmal einhundert Meter; ein Vierteljahrhundert liegt zwischen unserer aberwitzigen Romanze. Ich schreibe und arbeite ja in der Regel mit Blick auf den Heyerberg – ein neugieriges Plätzchen, von dem aus ich auf die steile Zufahrt zu den letzten Häusern schaue. Ein bis zweimal am Tag sehe ich jene Frau, wenn sie zur Arbeit fährt oder nach Hause zurückkehrt. Wir begegnen uns heute völlig unbefangen und haben zur gegebenen Zeit unseren Abschied voneinander genommen. Mir ist eine vorwärtsweisende Auseinandersetzung mit Hilfe Gunthard Webers für mich selbst schon 1998 gelungen; durch jene Intervention, die Gunthard im Rahmen einer Aufstellung mit mir erarbeitet hat; jene Intervention, die in meinen Brief an den Freund und an meine Frau auch die Perspektive für einen respektvollen Abschied voneinander hätte weisen können.

Vor fast fünfundzwanzig Jahren begegneten sich zwei erwachsene Menschen in völlig unterschiedlichen Ausgangslagen. Da war zum einen ein Mittvierziger, seit 16 Jahren verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Drei Jahre zuvor war er vom Schuldienst in den Hochschuldienst versetzt worden und arbeitete als Akademischer Oberrat in der LehrerInnenausbildung. Im Lehramtsbereich – insbesondere für den Grundschulbereich konnte man getrost von Lehrerinnenausbildung sprechen; zwischen 80 und 90 Prozent aller Studierenden waren weiblich. Im Zuge der Versetzung häuften sich die Unkenrufe und seiner Frau wurden nahegelegt ein scharfes Auge auf ihn zu haben. Hinter verdeckter Hand war die Rede von einem Richard-Gere-für-Arme. Und auf der anderen Seite war da eine Quereinsteigerin, die allein schon durch ihr fortgeschrittenes Alter auffiel; Mutter zweier nahezu erwachsener Söhne, lebenserfahren, polyglott und auf eine durchdringende bis geheimnisvolle Weise attraktiv - solche Zuschreibungen sind das folgerichtige Ergebnis einer verblendeten Wahrnehmung, wie sie vermutlich nur Verrückte und Verliebte – wo ist der Unterschied? – in die Welt zaubern.

1996/97 hatte sich mein Privatleben zu einer stillen, ins Chaos abdriftenden Veranstaltung entwickelt. Ich verlor jede Empfindung für eigenen Schmerz. Meine inneren Nöte und meine Orientierungslosigkeit fanden weder eine Sprache noch einen Spiegel. Was ich sollte, und was ich wollte, was ich konnte und was mir an Erwartungen vor Augen stand, umgab mich wie ein zäher, diffuser Nebel. Dieser Nebel und eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war. Weiter oben habe ich relativ hilflos darauf hingewiesen, dass mir auch 27 Jahre nach dem schmerzhaftesten Wendepunkt meines Lebens, verbunden mit dem Tod meines Bruders, die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt bleiben. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Es drängt sich einerseits die Selbstbildfacette einer gediegenen Hybris auf! Mir kommt die aufgeklebte Fassade eines omnipotenten, überheblichen Arschlochs in den Sinn, das auf der anderen Seite, nichts konnte, nichts zustande brachte, um mit seinen eigenen Bedrängnissen halbwegs angemessen und heilsam umzugehen. Es gab so Vieles, woran man seine eigene Überheblichkeit erproben konnte. Auf die Frage, ob ich mir eine Habilitation vorstellen könne, hatte ich im Vorfeld der Ereignisse um den 21. Juni 1994 selbstredend beim finalen Einstellungsgespräch mit einem klaren: „Ja, selbstverständlich!“ geantwortet.

Es verbietet sich – allemal aus meiner heutigen Perspektive mit Blick auf das Paar, dass wir darstellten – unmittelbar vor meinem Einstieg in die Achterbahn – von zwei eklatant füreinander ungeeigneten Menschen zu sprechen. Gleichwohl waren wir mit unseren jeweiligen Grundausstattungen nicht annähernd in der Lage, uns selbst und einander zu helfen. Und ich gehe bereits an dieser Stelle von der Hypothese aus, dass die überwiegende Zahl von Trennungen vollkommen unangemessen bliebe, verfügten die Trennungswilligen über die Grundausstattung, die mir erst drei Jahre Heidelberger Interventionskultur vermittelt hat.

So aber waren wir den Einflüssen und Dynamiken, die von 1994 an  unser Leben bestimmten, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Meine Frau war willfährige Projektionsfläche meiner ungelösten Klemmen, gewissermaßen Opfer wider meinen Willen, allein meinen Kindern begegnete ich mit blinder Liebe und maßloser Milde. Streit stand immer in Aussicht, und für meine grundaggressive Stimmung fand ich keine andere Adresse als die meiner Frau. Man kann so etwas tragisch nennen, weil die Weichen und Ausfahrten zu einer Kurskorrektur demjenigen verborgen bleiben, dem die Welt nur noch ein Nagel ist, auf den es einzuschlagen gilt. So funktionierte ich vordergründig betrachtet mit Blick auf die mir auferlegten Pflichten. All meine Bedürftigkeit und alle meine Zuwendungsfähigkeit pulsierten über meine Kinder. Jede Differenz, die es zuhauf gab, jedes Missverständnis, das zu ignorieren ich nicht willens war, befeuerte meinen Unwillen und meine Aversion. Wenn ich heute Fotos oder Filme ansehe aus diesem Zeitfenster inmitten der 90er Jahre, überkommen mich gleichermaßen Trauer und Scham – vielleicht auch ein völliges Unverständnis demjenigen gegenüber, der begann wie ein Berserker den privaten Raum umzupflügen.

George Steiner spricht von den Verrückten, die gleichzeitig der Gnade Gottes teilhaftig werden und die gleichzeitig bereit sind ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz auf’s Spiel zu setzen; die aber vor allem bereit und fähig sind, sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen. Ich habe hinzugefügt, dass sich diese Schmerzen, diese Kränkungen einschreiben in das Seelenpergament der Handelnden und Betroffenen gleichermaßen. Dies allein ist der Grund, warum ich nach einem Schuldenerlass gierte. Zehn Jahre später zeichnete sich am Horizont die kleine Chance ab, meine heillos überzogenen Konten auszugleichen und aus der abgrundtiefen Schuldenfalle zu entkommen. Dass mir dies umfänglich gelungen ist, vermittelt den fatalen Eindruck, ich sei doch nichts anderes als eine erbärmliche Krämerseele. Gleichwohl glaube ich nach all den Erfahrungen zutiefst, dass man Schulden zurückzahlen muss, dass man überzogene Konten ausgleichen muss. Den Schmerz, den man anderen zugefügt hat, muss auch die eigene Seele, die eigene Haut ritzen und verletzen,  um überhaupt auch nur nachempfinden zu können, was man angerichtet hat auf dieser Welt und wofür man Verantwortung trägt. Es mag darüber hinaus mein Alter sein, das mich milde stimmt und unterdessen dem Verstand mehr Gewicht einräumt als dem Herzen – zumindest mit dem Blick auf das Paar, das wir heute noch sind. Völlig anders stellt sich das Schuldenkonto mit Blick auf die eigenen Kinder dar. Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos, meine Kinder lieben bedingungslos und verzeihen maßlos. Würde ich meinen Kindern etwas schulden, fände ich schlichte Lösungen. Die Schuld, die mir alleine gegenwärtig bleibt, liegt in dem, was Karl Otto Hondrich folgendermaßen zu bedenken gibt (Karl Otto Hondrichs „Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft“, erschienen 2004 in der edition suhrkamp, Band 2313 gehört zu meinen absoluten Schlüssellektüren). Ich danke Gott und den Umständen, dass ich 2004 nicht auf ein Geborgenheitsdesaster zurückblicken musste, sondern mit Hilfe meiner Frau und Gunthard Webers das genaue Gegenteil bis heute erfahren darf:

Karl Otto Hondrich ist der Auffassung, dass all diejenigen, die heute in der Ehe noch dauerhafte Geborgenheit suchen, ein hohes Risiko des Enttäuschtwerdens laufen. Liberale Scheidungsgesetze besiegelten nur ein moralisches Tauschgeschäft, das wir, als Träger kollektiver Moral, längst in unseren Köpfen vollzogen hätten: „Geborgenheit geben wir für Freiheit – in der Hoffnung auf neue Geborgenheit (Hondrich 2004, 162)." Tiefer liegende systemische Bindungszusammenhänge im familialen Kontext und der Verlust von Geborgenheit lassen Hondrich auf schier unlösbare Beziehungsgeflechte verweisen, die vor allem dann zu einer belastenden, vielfach ausweglosen Unübersichtlichkeit führen, wenn aus einer Verbindung auch Kinder hervorgegangen sind:

Zwei Menschen, die ihre Bindung auflösen, bringen sich selbst um Geborgenheit. Sie wissen das und setzen deshalb alles daran, wenigstens die Bindung zu ihren Kindern zu erhalten. Den Partner darf man verlassen, die eigenen Kinder nicht. Scheidungskinder, das ist heute Konsens auch unter zerstrittenen Eltern, sollen die Bindung zu beiden, zu Mutter und Vater behalten. Das ist die Leitidee aller gerichtlich und außergerichtlich ausgeklügelten Besuchsregelungen. Hinter dem Bemühen, diese so gerecht, verständnisvoll, Interessen ausgleichend wie möglich zu gestalten, steht, unerkannt, ein gewaltiger soziologischer Kraftakt: die Geborgenheit, die mit dem Scheitern der Gattenbindung verloren ist, in der Bindung zwischen Eltern und Kindern zu retten (Hondrich 2004, 162)."

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung vornimmt, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück.“ (Hondrich 2004, 164) Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

"Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben  (Hondrich 2004, 164)."

Was steckt denn eigentlich dahinter, wenn „zwei Menschen ihre Bindung auflösen“? Die Folgen können wir sehen. Viele bringen sich selbst um Geborgenheit! Ist es der freie Wille – eine freie Willensentscheidung – eine bestehende Bindung aufzulösen? Die einen sagen so, die anderen so. Unbedingte Willensfreiheit vermag selbst als Idee nicht  zu überzeugen. Geht man von bedingter Willensfreiheit aus, gewinnt man zumindest eine Vorstellung davon, dass jemand seinen Willen nach persönlichen Motiven und Neigungen ausrichtet und dann möglicherweise das tun kann, was er will. Eine darauf gründende Idee von Handlungsfreiheit muss dann aber immer noch konzedieren, dass sich Willensentscheidungen erst in der Abwägung konkurrierender Wünsche und Sehnsüchte herausbilden. Und wir geraten in eine kaum noch auflösbare Verstrickung, wenn wir weiterhin konzedieren, dass Willensentscheidungen eingebunden sind und abhängen sowohl von Persönlichkeitsattributen (Habitus – Haltung – Charakter - Wertorientierung) als auch zeitgeistbezogenen – eben auch sozial und kulturell geschuldeten äußeren Einflüssen.

Der Berserker, der da Anfang 1997 auf die Bühne tritt, vertrat tatsächlich um Ostern herum die Auffassung, er benötige einen Neustart und sein – und das Leben – aller könne eine Neuausrichtung finden, indem man ganz einfach die Reset-Taste betätige. Im Rückblick kann von einer freien Willensentscheidung noch nicht einmal im Entferntesten gesprochen werden. Und es ist hier nicht nur fair, sondern auch ein Gebot der selbstkritischen Besinnung einzugestehen, dass zuvorderst die als Ehesanierungsinstitut Erwählte diesen Zusammenhang sehr schnell begriffen hatte -  lange bevor der gefühlstaube und realitätsblinde Berserker dessen gewahr wurde! Wie es dennoch zu dieser unsäglichen Affäre kommen konnte? Alle Zutaten zu einer Soap ersten Ranges waren angerichtet:

  • Der männliche Hauptprotagonist hatte sich schlicht ganz für sich in eine tiefgreifende Krise hineingelebt. Das Rüstzeug für eine Bewältigung der komplexen Krise fehlte gänzlich. So sehr hier jemand jene berühmte incurvatio in se ipsum – die trauma- und schuldbedingte Einkrümmung in sich selbst – betrieb und befeuerte, so wenig vermochte er genau dies zu durchschauen und machte – mehr noch – sein soziales Umfeld zum Schlachtfeld der eigenen Katastrophe. Andererseits agierte da jemand auf einer Bühne, die der Selbstdarstellung und jeder Form des Narzissmus einen nahrhaften Humus bereitete. Auf dieser Bühne konnte man sich selbst (als Hochschullehrer) in feinst ziselierten Zeithäppchen inszenieren und dabei gänzlich absehen von allen katastrophalen Begleitchören, die im Verborgenen auf der Hinterbühne agierten.
  • Die weibliche Hauptprotagonistin, der ich hier nicht zu nahe treten möchte (das habe ich ja 1997 grenzüberschreitend getan), kam sowohl meinen narzisstischen als auch den in mir üppig ausgeprägten Kümmerer-Anteilen entgegen. Und: Nur wenige Jahre jünger als ich selbst verkörperte sie als reife, schöne, attraktive, welterfahrene, polyglotte Frau im Übermaß eine erotisierende Melange im Format einer kritischen Masse. Mein alter ego zehn Jahre später, der gute Freund, wird Worte wählen, die – cum grano salis – den Nagel auf den Kopf treffen: Ein guter Wein, der mit zunehmender Reife in seiner Geschmacksfülle und –tiefe immer noch attraktiver wird und ein Phänomen, bei dem man leicht das Wasser unter dem Kiel verlieren kann!

In der Mixtur perfider Verführungsszenarien ausreichend vorgebildet, spielte mir der Zufall eine Karte in die Hände, die ich bereit war tatsächlich bedenkenlos zu spielen. Was ich in den folgenden Zeilen berichte, widerspricht jeglicher Professionalität und hätte mich seinerzeit –schon zu Beginn meiner akademischen Laufbahn – bereits nachhaltig disqualifiziert. Nebenbei bemerkt bietet vermutlich kein zweiter Ort in so vorzüglicher Weise die Bühne für theatralische Inszenierungen und Selbsthysterisierungen wie die Universität. Dietrich Schwanitz hat entsprechende Zutaten in seinem Schlüsselroman Campus in Szene gesetzt .

Profession und Professionalität sind nicht das gleiche. Den ersten Akt der nun folgenden Tragikomödie inszenierte ich mit Hilfe eines guten Freundes. Eine eher beiläufige Bemerkung, mir sei da eine studentische Quereinsteigerin aufgefallen, die lange im Ausland gelebt habe, Mutter zweier Söhne sei und in Scheidung lebe, führte bei ihm zu der unverzüglichen Namensnennung der so spärlich attribuierten Person. Er kenne die sehr gut. Bei nächster Gelegenheit brachte er mir ein Kinderfoto mit, auf dem er einem etwa gleichaltrigen Mädchen einen Kuss auf die Wange gab. Einigermaßen verblüfft bat ich ihn um Verwendung des Fotos in noch unklarer Form. Das Wintersemester 1996/97 neigte sich dem Ende zu. In einem Abschlussseminar ließ ich gegen Ende das Foto umlaufen mit dem Hinweis, wer sich auf dem Foto wiedererkenne, sei zu einem Kaffee in die Vorhölle (der Name der Studentenkneipe auf dem Campus Oberwerth) eingeladen. Die Höllenfahrt, die damit für das nächste halbe Jahr eingeleitet wurde, begann sanft und unter dem überstrapazierten Motto: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

In den folgenden spärlichen Schilderungen verenge ich die Perspektive extrem auf meinen eigenen beschränkten Blickwinkel. Und man kann vorab behaupten, dass die unvermeidbare Frage Würdest du dein Leben noch einmal genau so leben? nur folgendermaßen beantwortet werden kann: So wie sich ein lebensbedrohlich Erkrankter einer lebensbedrohlichen Rosskur unterzieht, um zu gesunden, war der Höllenritt 1997 absolut alternativlos. Wer die Welt wieder klar wahrnehmen möchte, muss den dichten Schleier einer wahnhaft verstellten Weltsicht lichten und letztlich auflösen. Dazu ein kleiner Ausflug in eine mir fremde, aber zunehmend vertrauter werdende Weltsicht:

Die ersten fünf Bücher, die in meiner Verantwortung veröffentlich worden sind, hat ein Freund lay-outet, der mir – vor allem auch nach Kopfschmerzen und Herzflimmern sowie der Mohnfrau – die Frage gestellt hat, wie man denn so leben  und denken könne. Auf die Gegenfrage, wie es denn anders ginge, hat er geantwortet: Herzensfragen, wenn sie erotisch aufgeladen sind, entscheidet man ausschließlich mit dem Kopf! Das hat mich seinerzeit verblüfft. Heute habe ich mir mit der partiellen Umkehrung der Pascalschen Devise, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, eine weitaus pragmatischere und lebenstauglichere Haltung zu eigen gemacht.

Was sich jedenfalls vom Februar bis in den Juni 1997 in mir und um mich herum zugetragen hat, das ist gewiss kein Heldenstück, und es taugt auch nicht zur Romanze, sondern es reicht schlicht an die Grenze des Erträglichen. Das Ergebnis spiegelt sich in den Monaten Juni, Juli, August und September wider, die ich meinen ganz persönlichen Knast nenne. Dem voraus ging im Februar bis hinein in den Mai der Höhenflug, der zu einem Blindflug mutierte. Als ich der Sonne zu nahe kam, erfolgte der Absturz in einer Weise, wie sie nur griechische Tragödienstoffe aufzubereiten vermögen.

Nur so ist im Übrigen auch Ich danke Euch für diese Nacht zu verstehen – zehn Jahre später entstanden, als ich in der Rolle des mörderischen Beobachters mich all der süßen und bitteren Erfahrungen entsinnen konnte, die ich ja selbst am eigenen Leib erfahren hatte.

All die Verrücktheiten und Zumutungen, die mit meinem zuerst berserkerhaften und zuletzt in Agonie versiegenden Agieren verbunden waren – so bin ich heute noch der Überzeugung – müsste sich ein versierter Schriftsteller ausdenken; er müsste sie erfinden, denn ich sehe mich außerstande, sie hier aufzuschreiben. Für mich ist es  im Nachhinein keine Frage, dass mir die Fremdbeobachtung ungleich leichter fällt als die schonungslose Selbstbeobachtung. Darin liegt die große Schwäche meiner Aufzeichnungen, die ich erst dort wieder konkretisiere, wo sich die Wende andeutet und schließlich auch ereignet:

Der Zufall wollte es, dass jene Wohnung in der Teichstraße, in der wir 1979 unseren Hausstand begründet hatten, 1997 im Sommer einen Leerstand aufwies. Ostern bin ich aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen, weil Claudia (zu Recht) darauf bestand. Wie ein Dieb habe ich mich schon da aus dem Haus geschlichen – durch ein Seitenfenster im Souterrain. Jedes Buch, selbst jeder Bleistift hatte plötzlich das zehnfache an Gewicht. Zum Schluss standen in der Teichstraße ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Warmwasserbereiter, ein Kühlschrank, eine Spüle und ein Telefon. Gegessen habe ich in der Mensa.

Hier erfolgten nach griechischen Maßstäben Peripetie und Katharsis – man kann von einem Wendepunkt im Wendepunktgeschehen sprechen. Dafür gibt es im Übrigen eine Zeugin – weit entfernt in Kempten, eine enge Freundin meines verstorbenen Bruders aus seiner Ausbildungszeit am Brüderkrankenhaus in Koblenz Mitte der siebziger Jahre. Jene Claudia aus Kempten hat mir in mehreren langen nächtlichen Telefongesprächen den Kopf und die Seele gewaschen. Über meine suizidalen Phantasien seinerzeit - im Knast -  habe ich bis heute mit niemandem gesprochen (Gunthard Weber gegenüber und dem Teilnehmerkreis bei der IGST - im Frühjahr 1998 - habe ich mich geöffnet). In meinen Träumen begegnete mir mein Bruder. Die letzten Treffen im Frühjahr 1994 standen im Zeichen meiner Bemühungen, ihn zur Besinnung zu bringen, ihn davon zu überzeugen, dass sein Platz in seiner Familie war. Er hatte mir durchaus nachvollziehbar seine Nöte geschildert, die Erfahrung als Mann endlich wieder wahrgenommen zu werden. Als er sich auf den Weg nach Österreich machte, soll die letzte Bitte an seine Frau gewesen sein, sie solle ihm gewogen bleiben. So mahnte er mich – er – in dessen Fußstapfen ich getreten war und mich nun selbst nicht schützen konnte. Er mahnte mich, die Lektionen zu lernen, die er – als der Jüngere – wohl kurz vor seinem Tod dabei war zu lernen. Die Ahnung wurde zur Gewissheit, dass mit der nächsten Frau nichts besser würde – im Gegenteil. Allein das Leben der geschiedenen Mutter, der ich da begegnete, führte mir vor Augen, worum es eigentlich ging. George Steiners Botschaft/Mahnung, dass es nicht Gründe sind, die das Herz bevölkern, gewann Einfluss, lange bevor sie mich in den letzten Monaten erreichte: „Es sind Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sind.“

Ich habe mehrfach auf den Zeithaufen von nahezu 380.000 Stunden hingewiesen, der sich hinter 42 Jahren auftürmt (gemeint sind die 42 Jahre unseres gemeinsamen Weges). Ein Leben muss gelebt werden, Sekunde für Sekunde, Minute für Minute und Stunde für Stunde. Wenn Assimilation an Grenzen stößt, dann müssen wir neu lernen; und lernen funktioniert nicht mit der Reset-Taste. Alles nur schlicht auf Anfang zu setzen, reicht nicht hin.

Claudia agierte souverän und besonnen. Sie fixierte schriftlich den Minimalkatalog an Pflichten, die sich aus unserer gemeinsamen Verantwortung vor allem für die Kinder ergaben. So riss der Kontakt nie wirklich ab. Ich erinnere mich noch, wie wir im Pühlchen abends Inliner gefahren sind. Die trüben Schleier, die eine neue Liebe über die alte Liebe deckt, verzogen sich nach und nach. Wir aßen wieder häufiger gemeinsam zu Abend, bevor ich mich in die Teichstraße zurückzog. Über Wochen und Monate näherten wir uns zaghaft wieder an. Meine einsamen Nächte vermittelten mir auf untrügliche Weise, dass ich der Hilfe bedurfte. Dies registrierte auch mein Umfeld. Meine Freundschaft mit Reinhard Voß geht in das Jahr 1996 zurück. Unmittelbar nach Antritt seiner Professur auf dem Uni-Campus Koblenz fanden wir zueinander – eine Freundschaft, die bis heute Bestand hat. Er vermittelte den Kontakt nach Heidelberg zur IGST. Gemeinsam mit Rudi Krawitz – seinerzeit Leiter des Instituts, an dem ich arbeitete – legte er den Grundstein für meine dreijährige Weiterbildung zum Familientherapeuten. Als ich die ersten Schritte auf dem Weg dorthin beschritt – zuerst durch einen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber im Frühjahr 1998 – hatte sich das Desaster meiner Affäre verlagert. Mir war unmittelbar klar, dass es hier nicht um Ausbildung, sondern, schlicht um meine ganz persönliche Therapie ging. Und natürlich hatte ich meinen maßgelbichen Anteil an dieser aberwitzigen AffäreAffären in der Lebensmitte drängen zumeist irgendwann auf Entscheidung. Erst mit der Vorstellung, aus dieser Affäre tatsächlich eine neue Lebensperspektive abzuleiten, baute sich vor mir die Betonmauer auf, gegen die ich seit Wochen anrannte. Ich war dabei mir das Hirn aus dem Schädel zu rammen. Und die Schmerzen drangen nach und nach in jene Regionen vor, in denen Herz und Seele beheimatet sind. Zum Schluss war es eine Form von Panik und Angstattacken, und ich kam den Erkenntnisschüben nicht mehr hinterher.

Auch im Rückblick überwiegt die Melange aus Schuld und Scham; Schuldgefühle einerseits Claudia gegenüber, Schuldgefühle aber auch R. gegenüber, deren Rolle im klassischen Dreieck mir mehr und mehr deutlich wurde. Scham verspürte ich meinen Kindern gegenüber – genauso, wie sie von Karl Otto Hondrich weiter oben so eindrücklich begründet wird.

Aber erst der Weg nach Heidelberg zur IGST führte zu einer nachhaltigen Durchdringung des angerichteten Chaos, dass nur noch Verlierer zu produzieren schien. Im März 1998 besuchte ich den einwöchigen Vorbereitungskurs bei Gunthard Weber. Gunthard Weber hatte fünf Jahre zuvor Zweierlei Glück publiziert und damit die systemische Psychotherapie Bert Hellingers einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Ich werde mich auch hier zunächst einmal beschränken – auf’s Wesentliche:

In der Einleitung zu Zweierlei Glück schreibt Gunthard: „Die drei Seminare bei Bert Hellinger sind mir jedoch in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. In jedem der Seminare erfuhr ich etwas, was mich noch Jahre später bewegte, was weiterwirkte und etwas in mir ins Lot brachte oder an den richtigen Platz rückte.“

Nach dem Einführungskurs – eine intensive Aufstellungswoche in Wiesloch – absolvierte ich auch das erste Jahr bei Gunthard Weber, bevor ich dann das zweite Jahr bei Uli Clement und das dritte Ausbildungsjahr bei Andrea Ebecke-Nohlen besuchte. Bereits der Vorbereitungskurs veränderte alles! Der Blick auf Familiensysteme und die wertschätzende Herangehensweise an die unterschiedlichsten Familiendynamiken begann die mächtigen Blockaden aufzulösen, die schlicht aus einem nicht vorhandenen Abstand zu den eigenen Bedrängnissen und Nöten herrührten. Gunthard schreibt über Bert Hellingers Art:

„Man wird aber auch deshalb so nachhaltig bewegt und erfaßt, weil er bei jedem einzelnen Grundthemen seines Menschseins in den Vordergrund rückt wie Zugehörigkeit, Bindungsliebe, das Gelingen und Scheitern von Beziehungen und Gegenseitigkeit, das Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit und weil er mit sparsamsten Mitteln oft etwas sagt, was den Kern der Seele bewegt.“

Dies ist eine treffliche Selbstcharakterisierung mit Blick auf Gunthard Weber. So und nicht ein Jota anders habe ich ihn in seiner Aufstellungsarbeit erlebt. Man lernt in einer intensiven Woche zuvorderst Geduld, Selbstdisziplin, gewiss auch eine Ahnung von der Luhmannschen Haltung der sogenannten Selbstdesinteressierung. Als Stellvertreter in Aufstellungen zu agieren, heißt von sich selbst abzusehen und dennoch den Impulsen zu folgen, die sich aus der Ausgangslage und der Dynamik einer Aufstellung ergeben. Jeder der Teilnehmer hatte im Laufe der Woche Gelegenheit seine Herkunfts- und seine Gegenwartsfamilie zu stellen. Die Teilnahme an über dreißig Aufstellungen stellte eine außerordentliche Herausforderung dar. Die emotionale Beanspruchung war enorm. Die Wochen nach diesem Auftakt waren gleichermaßen geprägt von einer radikalen Konfrontation mit der eigenen Geschichte wie von nachhaltiger Durchlüftung eines moralinsauren Klimas.

Es gab zwei entscheidende Schlüsselerfahrungen in meinen Aufstellungen. Wenn Hellinger/Weber zum einen die Unausweichlichkeit im Annehmen des Schicksals und der Vergänglichkeit betonen und zum anderen Fragen der Zugehörigkeit, der Bindungsliebe und des Gelingens und Scheiterns von Beziehungen in den Vordergrund stellen, lässt sich leicht erahnen, welche Schlüsselmomente in meinen Aufstellungen zum Tragen kamen:

  • Von enormer emotionaler Bewegung war der Abschied von meinem Bruder Willi geprägt. Als Beobachter – außerhalb des Aufstellungsgeschehens – wurde ich mit dem Weg meines Bruders konfrontiert. Dass mein Bruder final aus dem Feld geht – den Lebenden, die er zurücklässt, den Rücken zugewandt – löste im Feld selbst und auch bei mir einen solch gewaltigen akuten Schmerz aus, als vergegenwärtige sich das Geschehen mit einem Mal erneut. Die lösenden Sätze berührten zwei Felder intensiv: Die Verantwortung innerhalb der Familie, die mir zufiel einerseits und die Bindung, die zwischen uns Bestand hatte andererseits. Mich schließlich sagen zu hören: „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch!“ berührte mich so, wie es mich gleichzeitig schockierte und schließlich als memento mori tief in mir verankerte.
  • In einer Aufstellungsdynamik theoretische Begriffe wie Zugehörigkeit, Bindung, Geborgenheit in konkrete Hinbewegungen übersetzt zu sehen, zu erleben, wie Stellvertreter alternative Beziehungsformationen ertasten; schließlich zu sehen, was es bedeutet, die neue – die fremde – Frau in diesem Feld agieren zu sehen, konkret an ihrer Seite zu stehen, deiner Frau und deinen Kindern gegenüber, brachte schlagartig die Absurdität zum Vorschein, die mit dieser Alternative verbunden war. An den richtigen Platz zu rücken, erschien wie eine Erlösung nach einem Leben in der Diaspora. Verbunden mit diesen Auslotungen war schließlich eine Intervention, die meinem gesamten künftigen Leben eine entscheidende Wende vermittelte. Es folgte jenes Ritual, das ich so gerne zehn Jahre später den Venusmenschen - meiner Frau und dem guten Freund - nahegebracht hätte und das mich in meinem künftigen Leben wie ein Schutzmantra begleitet:

Gunthard Weber bot – ähnlich wie Bert Hellinger – als Lösung für Verstrickte in ausweglosen Dreiecksbeziehungen eine Intervention an, die mich der Geliebten gegenüber in eine neue, lösende Position brachte. Sie legt nahe, dass man sich der Trauer überlässt, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei Trennungen ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen:

„Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lasse ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen.“

Sowohl Gunthard Weber als auch Bert Hellinger betonen, dass man Aufzeichnungen zu Aufstellungen nicht dazu hernehmen kann, sich sozusagen Wissen anzueignen. Die Arbeit und die Aussicht auf Lösungen ergeben sich aus der konkreten Aufstellungsarbeit. Mit Blick auf Verallgemeinerbarkeit oder gar Rezepturen hat Hellinger wohl einmal geäußert: „Das Beste kann man nicht sagen, und das Zweitbeste wird missverstanden.“ Im Rückblick auf mein destruktives Driften seit 1994 kann ich eine weitere Metapher Hellingers heranziehen, insofern sie meine Situation bis zur Aufstellungswoche recht präzise beschreibt:

„Man tappt im Dunkeln, tastet die Wände entlang, bis man eine Tür findet. Kommt eine ‚Lichtung‘, sucht man das, wovon man erleuchtet wird, in einem vollen Wort zu sagen… Wenn das eine Form gefunden hat, wird der, der es hört, auf einer Ebene jenseits des Denkens erfasst. Es wirkt etwas Gemeinsames und bewegt, ohne dass er weiß wieso.“

Wer so sehr geprägt war und ist von einer traumatisierenden Trennung in frühen Jahren, und wer – dennoch – mitten im Leben, aus der Familie heraus alles tut, diese Familie in Schutt und Asche zu legen, der geht im besten Fall geläutert aus diesen Irrungen und Wirrungen hervor. Unter den vollkommen veränderten Vorzeichen suchte ich behutsam den Kontakt zu R., die sich früh – so erfahren sie war – und in nachvollziehbarer Wut und Enttäuschung zu verwahren suchte als Ehesanierungshilfe missbraucht zu werden. Es hat eine Reihe von Treffen gegeben, über die es tatsächlich gelungen ist, sowohl die Hitze als auch die Wut zu besänftigen. Man mag zweifeln an der Richtigkeit und Angemessenheit meiner Vorgehensweise. Tatsache war hingegen, dass die überschaubare Bühne unserer kleinen Universität keine andere Wahl ließ, als meine Rolle in dieser maßgeblich auch von mir zu verantwortenden Affäre zu klären. Dass es gelungen ist, lag an der in Heidelberg gewonnen Grundhaltung auf das Geschehene sowohl mit Dankbarkeit als auch mit Demut zurückzublicken. So wie wir beide jeweils unseren Anteil daran hatten, so ist es uns auch gelungen die Tür zu finden, durch die wir gemeinsam gehen konnten, um danach unserer Wege zu gehen.

Am Ende des vorausgegangenen Kapitels sowie zu Beginn dieses Kapitels habe ich erwähnt, dass R. heute unsere Nachbarin ist. Geblieben ist gegenseitige Wertschätzung und Achtung. Ich sage das heute mit einem gewissen Stolz und einer satten Genugtuung. Zweifellos hängt diese Bewertung auch damit zusammen, dass es mir 2001 gelungen ist, mit meiner ersten langjährigen Lebensgefährtin endlich jenen Frieden zu finden, den wir uns über zwanzig Jahre nicht gestattet haben.

Lautverschiebung (22)

Über die Jahre I

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Komm in den totgesagten Park und schau
Wie alle Kräutlein wieder blühn.
Sie blühen rotgelblilablau
Und alles ist voll Hoffnungsgrün!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Vertreib mit mir die Trübsal und das Grau!
Ich bin so selbstbewusst und kühn
Und weder trunken, blind noch blau,
Die Liebe soll auf’s Neu erblühn.

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Nimm’s Leben leicht, nicht so genau!
Die Last, das Leid und auch die Mühn
Sind Mörtel im Familienbau,
Worüber nachts die Sternlein glühn!

Der kleine Winzig sprach zu seiner Frau:
Zur Welt gehörn der Eber und die Sau!
Die Frau ist keine platte Fläche,
Sie hat Kontur und Vorderbau,
Den ziert sie auch mit Wäsche!

K(l)eine Trauer

Alle Frauen werden Nonnen
– Jung und alt!
Mein heißes Blut ist nun geronnen
Und mein Herz wird kalt.

Erbärmlich fleh ich um ein bisschen Zeit.
Der Kopf denkt: Nein!
Die Seele schreit –
Und alle sind allein.

Erde, Wasser, Luft und Sonne,
Alles schien schon dein/mein.
Kosmisch diese Wonne,
Ach du/ich armes Schwein.

Leben ist auch Pflicht!?
Gewiss mein Kind –
Adel durch Verzicht,
Wo Astern Rosen sind.

Wo Sommer Winter bleiben.
Hör doch Bruder:
Lass das Schreiben,
Geh ans Ruder!

Lass es rollen
Durch die Welt!
Du musst wollen,
Wo und wann es hält.

Draw a distinction! 

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben.

Fast nüchtern und unaufgeregt
Pfleg ich Arschloch und Zähne.
Die Kellnerin hat gut aufgelegt:
Und wie ich so wähne

Regt sich ein wenig die Trauer.
Bescheiden – aber immer ein Abschied –
Sitzt der Frosch vor der Mauer,
Beginnt müde sein Lied.

Er weiß: Heute erhört ihn niemand.
Da bleibt er lieber gleich stille
Und blickt in ein Land
Voll Lust, doch mit nüchterner Brille.

Unterschiede,
Die einen Unterschied machen,
Beleben das Leben.
Dies dacht ich grad eben,
Was will man da machen.

Es vollzieht sich das Leben
Und manchmal die Ehe.
Mal Wohl und mal Wehe.
Draw a distinction – na eben!

Paarlauf

Schau, das Paar und seine Kreise –
Wie es sprüht und lebt
Und auf synchrone Weise
Über allen Niederungen schwebt.

Sieh nur ihre Augen strahlen
Und ihr Lachen in der Sonne blitzen,
Ihre Körper fliegen, malen,
Während ihre Spuren ritzen

Feine Linien in das Eis.
Ihre Herzen jubilieren, springen,
Ihre Seelen schimmern rein und weiß,
Engel hört man Halleluja singen.

Ach, so leben wir doch alle
Für ein Jahr, auch mal für zwei,
Tappen blindlings in die Falle
Und aus Eigenart wird Einerlei.

Immer wieder habe ich auf sprachlich verdichtete Formen der Daseinsbeschreibung und –bewältigung  zurückgegriffen. Wie Seismographen zeichnen sie Eruptionen auf; in der Regel orientiert an wendepunktrelevanten Ereignissen und Geschehnissen. Die weiter oben wiedergegebenen fünf Gedichte sind nach 1997 entstanden. Sie weisen eine erste – zunächst sanfte – dann immer bestimmter auftretende Lautverschiebung auf. Sie taugen erstmals dazu eine rein düstere, destruktive Haltung zu ersetzen durch eine Perspektive, die mit einer Mischung aus sanfter Resignation, Humor und Selbstironie so etwas erzeugt wie eine Beobachtungsqualität zweiter Ordnung. Eine solche Qualität nimmt dann Konturen an, wenn genügend Abstand von den Dingen sowohl Selbstdesinteressierung als auch Selbstironie ermöglicht. Insgesamt sind aus meiner Feder etwa 120 Gedichte geflossen, die sich genau an diesem markanten Unterscheidungsmerkmal differenzieren lassen. Es werden weitere Gedichte folgen, die die beobachtete Lautverschiebung zu einer Sinnverschiebung anstoßen, in deren Folge eine eher kindlich-naive-trotzige Haltung einer widerborstigen Welt gegenüber einer zunehmend reifen und realistischeren Perspektive weicht.

Darin spiegelt sich vielleicht mehr und mehr die von Reinhold Niebuhr  in einem Aphorismus empfohlene Haltung, mit Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, mit Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können, und mit Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu  können. Diese Weisheit wird einem aber ganz offensichtlich nicht in den Schoß gelegt. Eine weitere hilfreiche Unterscheidung in diesem Zusammenhang übernehme ich von Odo Marquard: Das Zufällige - das, was auch anders sein könnte, weil es durch uns änderbar ist - versteht Marquardt als eine "beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit". Er nennt es das Beliebigkeitszufällige. Davon unterscheidet Marquard das Zufällige, das zwar auch anders sein könnte, aber gerade nicht durch uns änderbar ist (Schicksalsschläge: also Krankheiten, geboren zu sein und dgl.).  Marquard geht also davon aus, dass es eben nicht nur das Beliebigkeiteszufällige gibt, sondern auch das Schicksalszufällige.

Kleine Randbemerkung zur Philosophie Odo Marquardts: Dazu gehört essentiell die Überzeugung, dass es überwiegend Zufälle dieser zweiten Art (Schicksalszufälle) sind, "die als natürliche und geschichtliche Gegebenheiten und Geschehnisse, welche uns zustoßen, unser Leben ausmachen (Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003/2015, S. 157f.)". Er geht so weit zu behaupten, dass das Schicksalszufällige die Wirklichkeit unseres Lebens ausmacht. Das habe vor allem Hermann Lübbe gezeigt - Handlungen würden dadurch zu Geschichten, dass ihnen etwas dazwischenkomme, passiere, widerfahre: "Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges - etwas Schicksalszufälliges - einbricht: darum kann man Geschichten nicht planen, sondern muss sie erzählen (ebd., S. 158)."

Ja, gewiss ist dies wohl auch zu meinen Urmotiv geworden Geschichten zu erzählen – nunmehr unter der Maßgabe einer maßgeblichen Lautverschiebung, die eine behutsame, aber markante Verschiebung der Sinnkoordinaten zur Folge hat. Die von Odo Marquard angebotene Unterscheidung wird auch von dem bereits mehrfach erwähnten Paartherapeuten Detlef Klöckner aufgenommen. Dabei ist zunächst für ihn deutlich, dass sich im Kontext einer Langzeitperspektive quasiautomatisch Klippen auftürmen, „an denen das Paar scheitern oder wachsen kann“. Und ebenso deutlich sind für ihn die Unterschiede, die sich mit Blick auf lebenslange Monogamie auf der einen Seite und serielle Monogamie auf der anderen Seite ergeben:

„Manche persönliche und manche gemeinsame Transformationen sind nur erfahrbar, wenn man in einer Beziehung verbleibt, andere nur, wenn man immer wieder wechselt oder sich fern von Beziehungen aufhält. Um diese Unterschiede kommt niemand herum. Man wird im Leben also einiges oft, anderes weniger und vieles nicht erleben, je nachdem, welche Weichen man sich selbst stellt, und natürlich, welche das Leben zufällig anbietet und aufbürdet (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft, Stuttgart 2007, S. 100).“

Wer im Sinne des Phasenmodells, das Detlef Klöckner entwirft, bis zur letzten Phase – bis zum Fürsorglichen Finale – durchhält, weiß, dass man eine Ehe so wenig planen kann, wie Geschichten; also bleibt im Grunde genommen – sofern man sich selbst auf der Spur bleiben will – nur die Möglichkeit, zu erzählen: Phase I  –  VERZAUBERUNG – bildet den Auftakt meiner Erzählungen, genauso, wie Detlef Klöckner sie charakterisiert, als singulare Verliebtheit, die vom mentalen Ausnahmezustand bis zur Lust-Angst-Ambivalenz reicht. Phase IV – INTIME DIALOGE – geht ein in die Kapitel 20 und 21. Klöckner spricht von Gewohnheiten und Umbrüchen und Freundschaft; von Wiederverzauberung versus unromantischer Fixierung. Sieben Liebesbriefe – geschrieben zwischen März und Juli 2008 – belegen die Wiederverzauberung (in der Mohnfrau, Seite 109-133). Gemeinsam haben wir - Claudia und ich, je auf unsere Weise - versucht unser Schiff durch hohen Seegang zu steuern, nachdem wir beide erfahren haben, welche Weichen das Leben zufällig anbietet und uns auch aufbürdet. Mehrfach schon habe ich erwähnt, dass wir auf ein gemeinsames FÜRSORGLICHES FINALE hoffen; Phase V nach Klöckner; im besten Falle geprägt von einer komplementären Vertrautheit und dyadischer Dämmerung. Hier geht es noch einmal und zuletzt um existentielle Erfahrungen, Vermächtnis und in der Regel unvermeidbare Degeneration. Was uns jetzt schon hilft – und warum ich diese Aufzeichnungen auch als Vermächtnis betrachte – hängt mit unserer starken generativen Verankerung zusammen. Detlef Klöckner schreibt dazu:

"Phase V ist ein Spagat des abnehmenden Lebens. Das Paar steht vor der Bilanz seiner zurückliegenden Aktivitäten. Es braucht selbst Stütze und hat die Aufgabe, seine Lebenserfahrung und Werte an Nachfolgende zu vermitteln. Die leidenschaftlichen Wendungen der Altersbeziehung gehen über das Individuelle hinaus. Es ist eine Suche nach Versöhnung, Weitergabe und spirituellem Halt (S. 232f.).“

Ein Aspekt der Bilanz unserer zurückliegenden Aktivitäten lässt sich lyrisch verdichten, indem die Rückschlüsse aus Phase IV – Intime Dialoge – eine andere Klangfärbung annehmen als die von mir – vor allem in Phase I – Verzauberung – angebotene Liebeslyrik:

Überstehn

Wir sind die Silben
Auf dem Sprung zur Sprache
Wir schreiben dieses Buch,
Wir haben es geschrieben.

Du und Ich,
Erst zaghaft, überrascht,
Dann freudig, sanft getrieben,
Als ging es ums Verlieben.
So traumhaft finden sich die Worte,
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.


Doch streben wir nicht zu den Sternen,
Wir wissen doch:
Aus dieser Welt gilt es zu lernen.
Wir segeln dabei hart am Wind
Und sehen beide,
Was der Horizont verspricht.
Dahinter liegt Phantasia
Doch nicht für uns.


So können wir bewahren,
Was andern früh im Feuer schon verbrennt,
Wenn Alter blind in Ego rennt.


Wir lindern unsre Schmerzen,
Bewahren uns in unsren Herzen
Und mischen die Essenzen neu.


Wir bleiben auf der Hut,
Und finden immer neuen Mut,
Und werden nicht das Höllenfeuer sehn,
Wir werden unverzagt uns überstehn.

Wie ich lernte zu wollen, was ich soll (23)

Ich habe gelernt, dass Sollensvorstellungen immer zusammenhängen mit Erwartungen, die jemand an uns richtet. Mir hilft es zunächst einmal ein wenig abstrakter anzunehmen, dass das Leben Erwartungen an uns alle richtet. Dass die Eltern den Kindern das Leben geben, hört sich zunächst einmal trivial an – Bert Hellinger spricht vom Geben und Nehmen des Lebens. Geht ein Leben seinen geordneten Gang, kann man sagen, dass aller Anfang sich so zuträgt, dass die Eltern geben und die Kinder nehmen. Dazu gehört wohl die Einsicht, dass die Eltern sich den Kindern so geben, wie sie sind. Und die Schlussfolgerung, die ebenso so trivial daherkommt, meint, dass die Kinder die Eltern dementsprechend nur nehmen können, wie sie sind. Sie können dem weder etwas hinzufügen noch etwas weglassen oder etwas davon zurückweisen. Vermutlich machen diese Schlussfolgerungen Bert Hellinger in den Augen emanzipierteraufgeklärter Menschen so schwer verdaulich. Es wird sogar noch heftiger, wenn Hellinger meint, das ganze habe eine besondere Qualität, weil die Kinder die Eltern nicht nur haben, „sie sind ihre Eltern. Die Eltern geben ihren Kindern, was sie selbst vorher von ihren Eltern genommen haben, und auch von dem, was sie vorher als Paar, der eine vom anderen, nahmen. Zusätzlich zum Geben des Lebens sorgen die Eltern noch für ihre Kinder. Dadurch entsteht zwischen Eltern und Kindern ein riesiges Gefälle von Nehmen und Geben, das die Kinder, selbst wenn sie es wollten, nicht ausgleichen können.“

Im kommenden Jahr hoffe ich meinen siebzigsten Geburtstag feiern zu können. Mein Vater ist 1988, meine Mutter 2003, mein Schwiegervater 2010 und meine Schwiegermutter 2020 gestorben. Die Sorge und das Sorgen für die alten (Schwieger-)Eltern haben die letzten nahezu zwanzig Jahre geprägt. In Zweierlei Glück – In Gunthard Webers Dokumentation der Arbeit Bert Hellingers – steht der Satz, dass das Kind für seine alten Eltern sorgt, wenn sie in Not und alt sind: „Das letzte ist etwas ganz Wichtiges für den Abschied: Die Eltern können das Kind ziehen lassen, wenn das Kind ihnen versichert, dass es für die Eltern da ist, wenn sie es brauchen.“

Motiv und Motivation liegen vordergründig betrachtet auf der Hand. In der Konfrontation mit den alten Eltern liegt eine große Herausforderung. Die besteht offenkundig darin nicht als Kind zu reagieren, sondern als Erwachsener, der das macht – wie Weber und Hellinger betonen –, was richtig ist. Es erfordere einen Bewusstseinswandel. Dann lasse sich das, was richtig ist, meistens auch tun; zuletzt und nach meinen Eindrücken allumfassend – hat sich dieser Bewusstseinswandel in mir mit dem Begleiten meiner Mutter in ihren letzten Lebensmonaten von Februar bis Juli 2003 vollzogen.

Da der Aufforderungscharakter des Wollens allein, d.h. das bloße Erheben eines selbstadressierten Sollens- und Veränderungsanspruchs, keineswegs automatisch zu motivationaler Wirksamkeit führt, bleibt zu überlegen, wie eine solche Wirksamkeit in erreichbare Nähe rückt und nicht nur dazu führt, dass ich auf diese Aufforderung irgendwie reagiere, indem ich ihr entweder nachkomme oder eben nicht. In meinem Fall liegen die Dinge klar: Alles, was mir meine Eltern gegeben haben, die Art und Weise, wie sie für mich gesorgt haben, kommen aus einem Füllhorn. Und da ist es wohl so, dass Kinder das damit entstehende Gefälle von Nehmen und Geben nicht ausgleichen können, selbst wenn sie es wollten. Wie leicht hingegen war ein Ausgleich von Nehmen und Geben meinen Schwiegereltern gegenüber. Hier erst zeigte sich in einem vollen Umfang, dass ich aus vollem Herzen wollen konnte, was ich sollen durfte. Mein über die Maßen privilegiertes Leben in materieller Hinsicht verdanke ich zu wesentlichen Anteilen meinen Schwiegereltern, die mir im Übrigen auch in allen anderen Lebenslagen – trotz meiner Abdrift 1997 – gewogen blieben.

Erzählenswert bleibt die Abschiedsreise mit meinem Schwiegervater 2003 in seine Heimat. Diese Reise in die Vergangenheit beinhaltete alle im Alter von 79 Jahren noch möglichen Köstlichkeiten, eingewoben in einen schmerzensreichen Abschied von Kindheit, Jugend und Alter: Im September 2003 – wenige Monate nach dem Tod meiner Mutter – bat mein Schwiegervater, Leo, mich darum, ihn auf einer Reise in seine alte Heimat an den Bodensee zu begleiten; rund 450 Kilometer entfernt von Koblenz. In Ittendorf – etwa 8 Kilometer nördlich von Meersburg im Hinterland gelegen – hatte er Kindheit und Jugend verbracht.

Er und seine Geschwister – der ältere Bruder Ernst und die ältere Schwester Klärle – waren früh Halbwaisen geworden. Der Vater starb Ende der zwanziger Jahre und hatte mit Leonie noch eine Halbschwester hinterlassen. Nach seinen Schilderungen war Leo ein äußerst aufgewecktes, umtriebiges Kind. Seine eigenen Erzählungen erinnerten immer an die Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma. Selbst wenn man gewaltige Abstriche vornimmt, verfestigt sich ein Eindruck, für den allein schon deshalb Vieles spricht, weil sich ganz offenkundig eine starke Kontinuitätslinie von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter offenbart. Sein Habitus als Bodenseeschwabe, gepaart mit unbändiger Lebenslust und dem, was man den Schalk im Nacken nennt – eine verschmitzte Art, die sich mit Schnelligkeit im Denken und Handeln paarte, macht ihn unter den behäbigen Rheinländern und Moselanern zu einer in jeder Hinsicht zu einem Solitär. Nimmt man nun die rosarote Brille ab, dann zeigt sich freilich auch ein bauernschlauer, knochiger Lebenskünstler, der nie (!) – bei allem was er tat, plante und ins Werk setzte – den eigenen Vorteil oder den Vorteil der ihm Nahen aus dem Blick verlor. Seine self-made-Qualitäten habe ich in Kapitel (8) bereits hervorgehoben. Diese außergewöhnlichen Eigenschaften gründen wohl in den Umständen einer Kindheit auf dem Land – ohne Vater – und dem früh ausgebildeten, unbändigen Willen, das Beste und Extremste aus sich herauszuholen. Davon zeugen so viele objektive, faktisch nachvollziehbare Mosaiksteine, deren bedeutsamster wohl darin aufscheint, eine Lehre zum Maschinenschlosser bei Maybach zu absolvieren. Kaum vorstellbar, unter welchen Umständen Leo dieses Vorhaben bis zum Gesellenbrief realisierte: Jeden einzelnen Tag seiner Ausbildung fuhr er mit dem Fahrrad von Ittendorf nach Friedrichshafen – 17 Kilometer hin und 17 Kilometer zurück. Leo hat sich 1942 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Ähnlich wie Heinz Otto Fausten hat er diesen Schritt damit begründet, sich dadurch die Waffengattung aussuchen zu können und – nebenbei – habe die Annahme eine Rolle gespielt, der Krieg stehe unmittelbar vor seinem erfolgreichen Ende. Die Kalkulation ging nicht auf; mehr noch wurden viele Angehörige der Luftwaffe zuletzt – nachdem der Flugbetrieb aufgrund von Spritmangel fast zum Erliegen kam – ihren Dienst bei der Infanterie aufnehmen – so auch Leo. Er wurde von Oktober an in den erbitterten Kämpfen im Hürtgenwald schwerstverwundet. Nach seinen Schilderungen verlor er als Zugführer alle seine Leute durch kanadische Scharfschützen. Sein eigenes Überleben verdanke er lediglich – nach eigenem Bekunden – einem intuitiven, ruckartigen Herumreißen des Oberkörpers, so dass der seinem Kopf geltende Schuss seine rechte Schulter zertrümmerte. Leo gelang es, sich bis zu den eigenen Linien zurückzuschleppen; ihm drohte zunächst die standrechtliche Erschießung wegen wehrkraftzersetzender Aufgabe von Positionen – außerdem habe er keinen seiner Leute zurückgebracht. Die Intervention seines Kompaniechefs wendete das Blatt. Aufgrund der schweren Verwundung wurde Leo in das Lazarett Nordhausen/Thüringen verlegt. Diese Geschichte erwähne ich, weil ein weiterer entscheidender Mosaikstein in Leos Selbstbild damit zusammenhängt, dass seine Schwester Klärle seine Verlegung von dort nach Ravensburg erreicht hat. Er wurde von einem Spezialisten erfolgreich operiert, so dass das rechte Schultergelenk – zwar mit erheblichen motorischen Einschränkungen – erhalten werden konnte (Leos Kriegsversehrtenausweis liegt mir vor).

Mein Schwiegervater ging gar so weit anzunehmen, dass er seiner Schwester, die er als braune Schwester bezeichnete (sie hatte Karriere bei den sogenannten braunen Schwestern gemacht) sein Leben verdankte (in Thüringen wäre er unter Umständen in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und hätte dies mit Blick auf seine Verwundung gewiss nicht überlebt). Die Tatsache, dass Leo die geliebte Heimat verlassen musste, hängt nun wiederum mit einem anderen markanten Mosaikstein seiner Biografie zusammen. Leo bestand nach Kriegsende und Genesung die Aufnahmeprüfung am Konstanzer Technikum und beendete dort 1949 eine Ausbildung zum Maschinenbauingenieur. Zweifellos hätte er am See auch beruflich Fuß fassen können, hätten ihn private Turbulenzen nicht zur Flucht ins Rheinland gezwungen. Angeblich ging die Schwangerschaft einer Ittendorferin (mit zweifelhaftem Ruf) auf sein Konto. Da sich dies seinerseits nicht wirklich entkräften ließ, musste er vom See weg. Seine Mutter (und seine Schwester) rieten/drängten ihn zu dieser Flucht, die ihn nach Koblenz zu einem Bruder seiner Mutter führte. Hier beginnt nun das zweite oder dritte Leben Leos, das schließlich mit der Eroberung meiner Schwiegermutter einen ersten Höhepunkt erfuhr; die beiden heirateten am 21. Februar 1952, an dem Tag, an dem ich selbst das Licht der Welt erblickte. Manch einer könnte dabei an Vorsehung denken.

Dieser schnelle Parforce-Ritt durch Leos Frühgeschichte ist unentbehrlich, will man nun unsere Abschiedsreise im Jahr 2003 verstehen: Leo zeigte bereits erste Anzeichen einer beginnenden Demenz. Ein ärztlicher Kurzbericht aus dem Januar 2001 – erstellt im Krankenhaus der Stadt Bludenz vom behandelnden Arzt und Leiter der „Internen Abteilung“, Dr. Striberski – spricht von „hochgradiger V.a. li.-hirnige TIA mit passagerer Dysphasie – hypertensive Encephalopathie bei arterieller Hypertonie“! Im Klartext ging es damals – bei Leos letzter alpiner Exkursion am Arlberg schon um signifikante Durchblutungsstörungen des Gehirns mit neurologischen Ausfallerscheinungen; Hintergrund war jahrelange Vorschädigung durch Bluthochdruck. Was hier Dysphasie heißt, bedeutet eine Störung bei der Sprachverarbeitung, die mit Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses oder anderer geistiger Fähigkeiten zusammenhängt. Als abschließendes Procedere steht in diesem Kurzbericht: „Dringend weitere neurologische Abklärung mit EEG und eventl. MRT. Bis zur endgültigen Abklärung Lenken eines KFZ, gefährliche Tätigkeiten etc. verboten.“ All dies wird sich auf unserer Abschiedsreise auf mehr oder weniger eindeutige und beklemmende Weise zeigen.

Gemeinsam mit Leo habe ich viele Stunden zu zweit bei Urlaubsfahrten oder auch anders motivierten Reiseaktivitäten verbracht. Die früheste diesbezügliche Erinnerung rühren aus den Jahren 1992 bis 1996. Legendär war unsere Tour nach Zürs bzw. Stuben. Claudia erwarb ihre Ski-Lehrerinnen-Lizenz. Leo musste das aus der Nähe beobachten und sorgte dafür, dass ich als relativer Ski-Anfänger meine Feuertaufe am Arlberg erfuhr – von morgens bis abends (am Abend die letzte Liftfahrt, um dann tatsächlich als allerletzte die Albona schon in der Schattenlage und schon wieder vereisend zu bewältigen). Hier stieß Leo an seine physischen Grenzen und entschloss sich noch im selben Jahr zu einer ersten Hüftgelenksprothese an der renommierten Endo-Klinik in Hamburg. Bei all diesen Touren an den Arlberg, nach Hamburg war ich Zuhörer. Ich hörte Leos Geschichten zum wiederholten Mal – immer verbunden mit leichten Variationen, aber einem festen unverbrüchlichen Kern. Ich hörte aufmerksam und sehr genau zu, so dass Leos Skript sich mit seinen Essentials und Kernbotschaften tief in meinen Erinnerungsvorrat einkerbten. Die mehr als fünf Stunden auf der Fahrt nach Ittendorf verbrachten wir mehrheitlich schweigend, Leo auch teils schlafend. Wir hatten uns im einzigen, gleichwohl alteingesessenen und gediegenen Landgasthof „Adler“ eingemietet. Der „Adler“ bildete in einem Quadrat – an der Hauptstraße gelegen – das Eckhaus. Diagonal, etwa 100 Meter Luftlinie entfernt,  steht/stand Leos Elternhaus. Er entstammte einer bäuerlichen Kleinwirtschaft. Nach seinem Weggang aus Ittendorf hatte seine Schwester den Hof übernommen und nach ihrer Heirat mit Emil Lang bis zu ihrem Tod 2001/02 (?) bewirtschaftet. Mit derselben Schwester, der Leo – nach eigenem Bekunden – sein Leben verdankte, hatte er sich im Zuge von Erbauseinandersetzungen und der Frage nach dem Verbleib der Mutter im Alter heillos zerstritten. Auf seine Veranlassung und Bitte der Mutter verfügte er 1971 die Übersiedlung der Mutter in ein Altersheim in der Nähe – nach Wespach. Diese im Einvernehmen mit der Mutter, aber letztlich einseitig herbeigeführte Entscheidung führte zu einem erbitterten und letztlich unversöhnlichen Streit der beiden Geschwister. Hintergrund waren exakt dieselben Überlegungen und Vorbehalte, wie ich sie im Zusammenhang mit meinen Beobachtungen in der mir in den siebziger Jahren zuwachsenden Beinahe-Schwiegerfamilie in Kapitel 5 beschrieben habe. Eine spießbürgerliche, erzkatholisch unterfütterte Enge ließ auch gegenüber einer vollkommen zerrütteten und (für die Mutter nach eigenem Bekunden immer unerträglicher werdenden Zwangsarrangement auf dem eigenen Hof keine Alternative. Jenseits der Frage nach Wohlergehen und Wohlsein der Beteiligten beanspruchte der äußere Schein nach einer vorgeblich heilen und verantwortungsvollen Fürsorge der Mutter gegenüber – selbstverständlich in den eigenen vier Wänden – absoluten Vorrang. Leo wurde von seiner Schwester und ihrem Ehemann, der über viele Jahrzehnte als Ortsvorsteher die Geschicke der Gemeinde verantwortete, eine unerträgliche Bloßstellung der Familie vorgehalte. Erste die dritte Generation – die Kinder der Kontrahenten – versuchten innerhalb der Familie wieder einen Frieden zu finden und zu begründen.

Leo hatte 2003 noch einen besten Freund in Ittendorf, den wenige Jahre älteren Edi Widemann, einer der vielen Apfelkönige vom Bodensee. Die Reise trug durchaus noch seine planerische Handschrift. Leo überließ ungern etwas dem Zufall und hatte für den Nachmittag unseres Ankunftstages ein Treffen bei den Widemanns (Edi und Priska) vereinbart. Bevor wir zu den Wiedmanns fuhren, die einen Aussiedlerhof mitten in den Apfelplantagen auf dem Weg von Ittendorf nach Immenstad bewohnten, musste ich Leo gewissermaßen ums Eck fahren; im engeren Sinne vom Adler aus am Schloss vorbei, dann links abbiegend am Haus seines Neffen Bernd vorbei. Das Annegärtle, das Leo versprochen war, war – wie das gesamte Erbe an seine Schwester gefallen. So hatte Bernd irgendwann sein Haus auf’s Annegärtle gebaut, hatte geheiratet, drei Kinder bekommen, zeitweise am Rad gedreht, vielleicht weil die Erbgänge irgendwie doch quer saßen. Leo hatte seiner Mutter zuliebe die Salamitaktik seiner Schwester hingenommen und Scheibe für Scheibe den Erbverzicht ausgesprochen. All dies gewann noch einmal besondere Brisanz, als Leo seine Mutter in der Nähe von Salem (in Wespach) in einem Altenheim unterbrachte, wo sie immerhin von 1971 bis 1976 – ihrem Sterbejahr – gelebt hat. In all diesen Jahren hat aus der Familie Lang niemand die (Schwieger-)Mutter oder die Oma (Klärle hatte zwei Söhne, Bernd und Wolfgang) auch nur noch einmal besucht. Sie starb völlig vereinsamt im Altenheim, und auch nach ihrem Tod fanden die Geschwister – Klärle und Leo – nicht die Kraft zur Versöhnung. Die letzte Chance blieb ungenutzt als Klärle ihren Bruder samt Familie zu einer Feier einlud. Leo hatte die Zimmer im Adler bereits reserviert, dann aber – als ihn offensichtlich der Mut verließ – wieder storniert.

All dies mag Leo möglicherweise erinnert haben. Er weigerte sich stur und konsequent aus dem Auto auszusteigen, das Elternhaus in Sichtweite – dort lebte sein Schwager Emil noch bis ins hohe Alter von 97 Jahren; er ist 2015 verstorben. Ittendorf bedeutete für Leo offensichtlich verbrannte Erde. Frei atmen konnte er erst, als wir am Kaffeetisch bei seinen ältesten Freunden, den Widemanns, auf dem Hundweilerhof saßen. Auf dem Weg dorthin musste ich auf einer Anhöhe anhalten. Wir stiegen aus. Wir sahen den See und am Horizont die Berge. Leo war für seine Art ungewohnt still. Auch beim Kaffee und schließlich bei Heinzlers in Immenstad – das waren ja alles Heimspiele – blieb den Gastgebern nicht verborgen, wie sehr sich Leo verändert hatte. Auch ich selbst hatte in den letzten 25 Jahren meinen Schwiegervater immer als Dominator erlebt; ob kleine oder große Gesellschaft – zu seiner Lebendigkeit und Präsenz gab es selten ein Pendant auf Augenhöhe. Seine Art war nicht nur dominierend, sie war in der Regel auch mitreißen und unterhaltend. Seine Frau hat immer wieder betont, dass er unter all den Vielen, die ihr den Hof gemacht haben, vom ersten Tag an nie Langeweile hat aufkommen lassen, er hat mit seinem Humor und seiner Beredsamkeit all anderen aus dem Feld geschlagen (legendär – seine Geschichte, wonach er bei der allerersten Einladung gebetet hat, Lisa möge nicht mehr als ein Glas Wein trinken, für zweie habe er kein Geld gehabt – seine Ängste waren unnötig, Lisa hat immer nur ein Glas getrunken!).

In der Nacht (im Adler) müssen Leo Albträume gequält haben, er wirkte verwirrt und orientierungslos – seine Lebenszeitalter bedrängten ihn vermutlich in einem heillosen Durcheinander. Auf dem WC unterlief ihm ein Malheur; er war schwer zu beruhigen und fand kaum in einen heilsamen und beruhigenden Schlaf. Wohl wissend, dass er sich seiner Tochter in diesem Zustand nicht hätte zumuten können, bestand er wohl auf meiner Begleitung. Anderntags kehrten wir Ittendorf den Rücken. Unweit war aber ein fester Haltepunkt vorgesehen, der mich einigermaßen verwunderte. Zwar wusste ich aus Leos Erzählungen, dass er als Chefmessdiener eine mehr als fragwürdige Karriere absolviert hatte, dass er aber darauf drängte Station an der Birnau zu machen, gehört zu den nachhaltigsten Erinnerung an unsere Bodenseetour. Die Wallfahrtskirche Birnau ist eine an der oberschwäbischen Barockstraße gelegene Barockkirche. Die beeindruckt durch ihre barocke Ausstattung – vor allem mit Fresken, Stuckaturen und Skulpturen, deren bekannteste der sogenannte Honigschlecker ist; eine Putte, die recht verschmitzt dreinschaut und ihren honigbedeckten Finger zum Mund führt.

Leo führte mich zu diesem Wonneengel und zeigte auf ihn mit den Worten: „Das ist mein Schutzengel, der hat mir den Weg durchs Leben gewiesen und mich auf all meinen Wegen begleitet.“ Ich registrierte diesen Hinweis mit Humor und nahm ihn als eine typische Geste meines Schwiegervaters. Als er sich dann in eine Bank in die Nähe des Altars setzte und seinen Tränen freien Lauf ließ, wurde mir überdeutlich, wie ernst er dies wohl meinte und wie sehr ihm diese Begegnung als die Quersumme seines Lebens vorkommen musste. Heute würde man wohl von einem zentralen Skript oder einem beherrschenden Narrativ sprechen, in dem die Bilanz eines Lebens auf den Punkt kommt. Leo hatte seine Heimat verlassen müssen und hatte sich Heimat in der Fremde geschaffen. Die Rückkehr an den Ort seiner Kindheit und Jugend musste ihm final und irreversibel vorkommen; ein Abschied für alle Zeiten – und vor allem, Zeit sich auf den Heimweg zu machen

Die sechseinhalb Jahre, die ihm noch blieben, führten in das schon beschriebene tiefe Tal des (Selbst-)Vergessens (siehe Demenztagebuch). Um noch einmal an das zentrale Ausgangsmotiv anzuknüpfen: Wie ich lernte zu wollen, was ich soll – die Willensfreiheit in den nun kommenden sechseinhalb Jahren das zu tun, was ich tun würde, basierte immer auf der Idee des Anderskönnens (siehe dazu: Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt 2001, S. 430): Ich hätte auch anders handeln können. Ein zweites Moment beruhte auf der Idee, aus guten Gründen, nicht aber aus Zwängen zu handeln. Das dritte Moment ist mir heute am wichtigsten, insofern ich die Urheberschaft für mein Handeln beanspruche; selbst da noch, wo äußere Faktoren und Bedrängnisse mich unter Umständen eines Besseren hätten belehren können (siehe Kapitel 20a).

Das Unfassbare als basso continuo unseres Lebens (24)

„Elias Canetti war ein Todfeind im wahrsten Sinne des Wortes. Mit obsessiver Verbissenheit hat sich der Nobelpreisträger über Jahrzehnte hinweg gegen die Begrenztheit des menschlichen Lebens zur Wehr gesetzt. Er hat den Tod gehasst und gefürchtet wie kein Zweiter. Sein Leben lang schrieb er in Notizen dagegen an, wollte den Tod als etwas Natürliches nicht akzeptieren.“ Mit diesen Sätzen leitet Günter Kaindlstorfer seinen Beitrag/Rezension Lebenslanges Anschreiben gegen den Tod ein.

Ganz gewiss muss man nicht annähernd so besessen sein von der Idee, der Tod sei ein unerträgliches Skandalon, um nicht gleichzeitig in einem langen Leben das memento mori im Sinne Rainer Maria Rilkes gegenwärtig zu haben:

Schlußstück

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Als mein Schwiegervater im März 2010 im Alter von fast 86 Jahren starb, betrachteten wir alle miteinander in der Familie diesen Tod als Erlösung. Auch wenn alles, was lebt, in der Regel leben will, stand uns allen doch überaus deutlich vor Augen, dass Leben als fortgesetztes und nachhaltiges Siechtum in der Dunkelheit des Selbts- und Weltvergessens keinen absoluten Wert an sich darstellen kann. Aber so klar sich auch diese Einsicht einstellen wollte, so klar war andererseits im Rückblick unser aller Bemühen, dieses Geschehen – das Leben zum Tode hin – nicht unbotmäßig zu verkürzen. Die gegenwärtig veränderte Rechtslage mit Blick auf die Erleichterung der Sterbehilfe habe ich herbeigesehnt, und ich habe sie mit herbeigeschrieben. Das Sterben in seinen generativen Abfolgen war mir damals schon auf lebensnahe Weise vertraut. So will ich auch heute im Rückblick betonen, dass mir der Tod meines Vaters im Alter von eben erst 65 Jahren unerträglich verfrüht erschien. Seit diesem Ereignis – 1988 – hat das Leben auf brutale Weise dafür gesorgt, dass das Unfassbare als immer gegenwärtiges memento mori den basso continuo im Konzert des Lebens vorgibt. In Kapitel 9 meiner Aufzeichnungen habe ich mich Elias Canetti am weitesten angenähert, indem ich bekenne, den Tod meines Bruders – wenn auch nicht im Sinne Canettis – als Skandal empfunden habe. Zusammengedrängt auf die letzten Sekunden des Lebens meines Bruders, wage ich die These, dass die freie Willensentscheidung des Flugzeugführers nicht nur für ihn selbst einer Entscheidung über Leben und Tod gleichkam. Und erst die Aufdeckung der Zusammenhänge im Detail erlaubt ja so etwas zu konstruieren, wie Handlungsmotive, deren Ignoranz oder schlichte Unkenntnis in der öffentlichen Wahrnehmung den Heldenstatus des Piloten begründeten. Umso unerträglicher erwiesen sich die Ergebnisse eines nüchternen Faktenchecks, der nicht weniger zutage brachte als folgende, überaus schlichte Sachverhalte:

  • Die Absturzmaschine war nach dem letzten Check und dem Auftanken durch den verantwortlichen Piloten am Abend noch einmal bewegt worden zu einem Schleppflug zu einem benachbarten Flugplatz. Diese Flugbewegung war ordnungsgemäß in das Logbuch der Maschine eingetragen worden.
  • Am frühen Morgen des 21. Juni 1994 verabsäumte der verantwortliche Pilot einen erneuten Check und setzte die Maschine in der Annahme in Bewegung, der status quo ante (also vor erneuter Bewegung der Maschine am Vorabend) sei der faktische Status, der eine kalkulierte Zwischenlandung zum erneuten Betanken der Maschine in Landshut ohne jegliche Probleme oder eintretende Notlage erlauben würde, da er die Maschine abends zuvor eigenhändig voll betankt hatte.
  • Als sich die Maschine bei Kaiserwetter Landshut näherte und der Motor wenige Kilometer vor dem Zielflughafen begann zu stottern, muss dem erfahrenen, pensionierten Bundeswehrpiloten bewusst geworden sein, dass der Spritvorrat zum regulären Erreichen des Flugplatzes möglicherweise nicht ausreichen würde. In dieser Situation – ausgestattet mit nur einem schmalen Zeitfenster von vielleicht einer Minute – musste der Pilot entscheiden, ob er die Maschine auf freien, abgeernteten Feldern zur Notlandung bringen sollte, oder ob er – trotz Spritmangels – den Versuch wagen sollte, die Maschine in Landshut regulär zu landen.
  • Eine Notlandung begründet immer den Tatbestand einer irregulären Landung. Jede irreguläre Landung eines Fluggerätes löst einen festgefügten, unabwendbaren Algorithmus aus: Das Bundesluftfahrtamt mit Sitz in Braunschweig untersucht den Vorgang auf akribische Weise unter Einbeziehung aller relevanten Einflussfaktoren und Umstände.
  • Nun muss man wissen, dass der verantwortliche, pensionierte – überaus erfahrene – Bundeswehrpilot eine Lizenz zur Betreibung einer Flugschule bzw. zur Zulassung als Fluglehrer beantragt hatte.
    In wenigen Sekunden des Rekapitulierens muss dem Piloten klar gewesen sein, dass das Checken des Logbuchs im Zusammenhang mit einer irregulären Landung der Maschine unvermeidbarer Weise zum Nachweis gröbster Fahrlässigkeit seinerseits führen würde. Und gar keinen Umständen wäre infolgedessen seinem Antrag auf Erteilung einer Lizenz noch irgendeine Aussicht auf Erfolg beschieden gewesen.
  • Seiner Erfahrung und seinen Flugkünsten vertrauend hat der Pilot zweifelsfrei die willentliche Entscheidung getroffen, eine reguläre Landung auf dem Flugplatz Landshut zu versuchen. Als ihm überdeutlich wurde, dass dieser Versuch scheitern würde, führte der Versuch einer Kurskorrektur mit beabsichtigter Notlandung zum finalen Absturz der Maschine und dem Tod aller vier Insassen.
  • Flugschulen haben die Rekonstruktion des Absturzes zum Anlass genommen, auf die in der Regel tödliche Konsequenz eines Strömungsabrisses bei zu spät oder zu abrupt erfolgender Kurskorrektur hinzuweisen. Im Abschlussbericht des Bundesluftfahrtamtes Braunschweig wurde auf zwei Fakten hingewiesen, die für die folgenreiche Fehlentscheidung des Piloten sprechen: 1. hat die Absturzmaschine nicht gebrannt – der Tank war leer! 2. Die Kurskorrektur, die zum Strömungsabriss und in der Folge zum Absturz der Maschine führte, kam zu spät. Wäre der Sink- bzw. Gleitflug früher eingeleitet worden, wäre der Versuch die Maschine bei freier Sicht und besten Wetterbedingungen auf freien, abgeernteten Feldern zu landen, vermutlich erfolgreich gewesen.

Ich will nicht so weit gehen, den Tod der vier Flugzeuginsassen als grundsätzlichen Skandal zu verstehen. Skandalös wird er in meinen Augen durch das grob fahrlässige Agieren des Piloten; skandalös, weil sich – wie so oft – die Motive, die zu folgenreichen Handlungen führen, als banal und egomanisch erweisen. Da ist der Preis des Todes dreier unbescholtener Männer – mitten im Leben und im Falle meines Bruders als Vater zweier Töchter im Alter von fünf und acht Jahren – eben ein Skandalon.

Mors certa – hora incerta! So unausweichlich der Tod auch sein mag, ein Tod zur Unzeit grämt uns über alle Maßen. Als die Mutter dann zum Sterben ging, stellte sich ein diffuses, kaum greifbares Lebensgefühl ein, dass erst sichtbar(er) wurde, als in den letzten 10 Tagen ihres Lebens das Bedürfnis in mir nach Lösungen suchte, sie diesen letzten Weg nicht alleine gehen zu lassen. Dieses Bedürfnis führte – im Kontext einer seins- und erst recht todesvergessenen Gesellschaft zu recht obsessiven Konsequenzen. Ich lotete alle Möglichkeiten des medizinischen Apparats aus und erkämpfte mir mit Unterstützung der Klinikleitung und des Personals ungewohnte Freiräume. Der Klinikleiter, Dr. Kreuter – gebürtiger Gülser – ermöglichte mir in das Sterbezimmer meiner Mutter (das bis zuletzt ein Einzelzimmer bleiben konnte) ein Bett einzustellen, so dass ich die letzten Nächte in unmittelbarer Nähe zu meiner Mutter verbringen konnte. Zuletzt – als ich den Sterbeprozess nicht mehr infrage stellte – war Abschied möglich; für mich zivilisationsverwöhntes Glückskind eine singuläre Erfahrung. Am 21.7.2003 findet sich folgender Eintrag in das Sterbetagebuch:

"21/07/03 14.15 Uhr: Heute ist der 21. Juli 2003. Anne hat Geburtstag. Sie wird 14 Jahre alt. Mama stirbt. Der 21. Juli wird wohl nicht ihr Sterbetag sein. Aber wir haben sie heute auf „Normalstation“ verlegt, um der Quälerei ein Ende zu machen: austherapiert! Wenn keine Aussicht auf Heilung und Genesung ist, nach einem Hirnschlag und einem so reduzierten Allgemeinbefinden, ist eine weitere Therapie im Sinne der Intensivmedizin nicht zu vertreten und auch nicht zu wollen. Darin waren sich Ulla und ich und alle behandelnden Ärzte einig. Neben dem Chef, Dr. Kreuter, dem Stationsarzt, Dr. Holl und Dr. Alberti auch die bewundernswerten und mit Dankbarkeit zu honorierenden Schwestern auf der Intensivstation. Das heißt, auf der 5 erhält Mama jetzt außer Wasser über die Magensonde nur noch lindernde Medikamente, in erster Linie Morphium. Ich habe Mama gefragt, ob sie schlafen könne. Sie hat das eindeutig verneint. Ich habe sie gefragt, ob sie schlafen wolle, und das hat sie eindeutig bejaht. Dr. Holl und Dr. Alberti haben die Gabe von Morphium eindeutig bejaht. Dazu muss man allerdings zunächst einmal festhalten, dass Mama seit Donnerstag, seit dem Hirnschlag zwar nicht mehr sprechen konnte, aber ganz und gar zweifelsfrei uneingeschränkt wahrnehmungsfähig und kommunikationsfähig war. Ich habe oft mit ihr gesprochen und mir ihre Zustimmung zu den kleinen Erleichterungen, die möglich waren, geholt.

Und heute Morgen, so wie an jedem Morgen, habe ich zuerst bittere Tränen in beträchtlichem Maß vergossen, weil ich zuerst und immer noch ihr Kind bin, das seine Mama liebt und nicht gehen lassen will. Dies haben wir dann anders hinbekommen, immer die Kurve bekommen und der Abschied war in jeder Hinsicht ein möglicher und im Rahmen des Möglichen ein guter! Nie wieder in meinem Leben, solange es dauern mag, werde ich vergessen, wie ich ihre linke Hand zu mir geführt habe, meine rechte Wange hineingeschmiegt habe und ihre Hand über mein Gesicht habe gleiten lassen, über meine Haare, über meinen Nacken. Und ich habe gespürt, wie sie es genossen hat, und wie sie es durch den ihr möglichen Druck verstärkt hat. Sie hat es mehrmals wieder tun wollen, indem sie ihre Hand gehoben und mit ihren Augen signalisiert hat, wie wohl ihr das tut. Und ich habe es genossen, diese letzten bewussten Berührungen. Meine Tränen sind wie kleine Bäche gelaufen – so wie jetzt – so wie noch oft, wenn ich an meine Mama denke.

Sie liegt jetzt ruhig da. Sie hat heute zum allerersten Mal eine Gabe Morphium bekommen. Sie soll jetzt nicht mehr leiden. Wir haben alles versucht – der Kampf, ihr Kampf ist wohl verloren. Und es möge nicht zu lange dauern. Aber auch Dr. Alberti hat schon bemerkt, dass Mama eine Kämpferin ist, wie so viele Frauen dieser Generation. Ich glaube, wir können sie gehen lassen, das letzte wirkliche Geheimnis zu erforschen. Aber es bleibt immer die Frage, ob sie bereit ist, und daran gibt es durchaus Zweifel. Rinpoche: Der Mensch stirbt, wie er gelebt hat. Ja, es gab Ungeklärtes in ihrem Leben. Aber ich (will) glaube(n), dass Mama ihren Frieden gemacht hat, auch mit meiner Schwester Ulla. Wir sind keine blindwütigen und egoistischen Kämpfer, die Mama um jeden Preis im Leben halten wollen. Wir haben damals schon – bei Papa – gelernt, wie begrenzt aller Menschen Leben, Macht und Möglichkeiten sind. Wir haben bei Willis Tod erfahren, dass man unter Umständen – und die Umstände waren so – nicht einmal die geringste Chance hat, sich zu verabschieden. Wie ohnmächtig sind wir doch eigentlich alle miteinander! Uns fehlt nur die Demut zum rechten Leben. Aber vielleicht sind wir auf einem guten Weg! 15.30 Uhr: In einer Stunde kommt Helga, meine Schwägerin; die Mutter von Ann-Christin und Kathrin. Sie löst mich ab, bis gegen 19.30 Uhr Ulla kommt, unterstützt durch ihre Freundin Claire. Claire, Ullas beste Freundin, war eben hier. Ich möchte gerne alle Vorbehalte und dummen Ressentiments von ihr wegnehmen. Sie hat eine sehr gute, wohltuende Art. Ich fahre um 17.00 Uhr nach Hause, möchte noch ein bisschen bei Annes Geburtstag dabei sein. Dann werde ich ein paar Stunden schlafen und Ulla wieder ablösen; ich schätze so gegen zwei Uhr in der Nacht. Die meisten Dinge sind einigermaßen geklärt. Ich muss für Mittwoch noch einen Ersatzprüfer besorgen."

Am 27. Juli ist unsere Mutter gestorben. Im Herbst bin ich mit Leo, meinem Schwiegervater zur Abschiedstour an den Bodensee aufgebrochen. Sein Leidensweg vollzog sich von da an über seinen 80sten Geburtstag hinein in jenen im vorangehenden Kapitel beschriebenen nicht mehr enden wollenden Tunnel des (Selbst-)Vergessens. Auch hier habe ich an den unausweichlichen Wendepunkten die Flucht in die sprachlich verdichteten Formen der Lyrik gesucht. Mindestens zweimal täglich führte mich mein Weg die wenigen hundert Meter von unserem Wohnhaus auf den Heyerberg an Mülltonnen vorbei, von denen mir einige in diesen Jahren von 2007 bis 2010 immer wieder durch ein merkwürdiges Phänomen auffielen:

Was mögen die Müllmänner denken

Was mögen die Müllmänner denken,
Wenn die Tonnen vor Windeln bersten?
Um Deutschland scheint es bestens bestellt
Es poppt sich in eine neue Kinderwelt?


Kämen sie auf die Idee, genauer hinzuschauen,
Dann würden sie merken –
Das müssen recht große Kinder sein,
High-Tech-bewindelt
Mit 2-Liter-Fassungsvermögen.


„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“
Geht an der Sache vorbei:
Kinder wachsen hinein in die Welt
Und in die Welt der Sprache.


Die großen Kinder hingegen
Stürzen hinaus
Und hinein in den Alptraum,
„Die Krankheit zum Tod“.


Wir fallen mit ihnen –
Noch nicht so ganz,
Wenn wir flechten
Aus Windeln den Ehrenkranz.

Mit Elias Canetti verbinden mich die Fassungslosigkeit und eine intuitive Abwehr des Todes als endgültiges Faktum. Gleichwohl finde ich mich dennoch wieder in einer Mischung aus Fatalismus und ungläubiger Hoffnung gegenüber einem Phänomen, das sich unserer Erfahrung gänzlich entzieht:

So gern

Ach, ich hab’s so gerne, wenn sie kommen,
Wenn sie kommen, kommen, kommen –
Dann freu ich mich so sehr,
Ganz still in mir.


Doch alle, die da kommen,
Müssen wieder gehen.
Sie gehen, gehen, gehen –
Und schmerzt dies noch so sehr.


Denn es sind keine Phantasien,
Die Mär vom Werden und Vergehen.
Wo wir heut gehen oder stehen,
Sah unsre Welt einst andre gehen.


Sie gingen uns voraus.
Ich fühle ihre Spuren
In mir selbst vergehen.


Nein, nicht die Zeit,
Der Wind lässt sie verwehen.
Sie sinken in uns ab
Bis hinter das Verstehen.


Und nicht nur Kreuze Sind die Grenzen,
Und nicht nur unter Kränzen
Ruht die Welt.


Wenn Augen nicht mehr leuchten
Und die Erinn’rung innehält,
Dann sind es meine Schmerzen,
An denen meine Welt sich stählt.


Die einen gehen schnell und hart,
Und andre wollen noch im Gehen stehen.
Sie dämmern dann in kleinsten Schritten
Hinein in jene Welt,
Wo jeder Blick in Leere fällt.
Und irgendwann
Verfehlt sie unser Schmerz
Und einmal mehr
Bricht unser Herz.


Dann sehen wir die Grenze
Und bleiben vor ihr stehen.
Den letzten Schritt –
Im Licht der Kränze –
Muss jeder dann alleine gehen.

Der generative Wechsel zur Elterngeneration ist vollzogen. Vor der Zeit sind neben meinem Bruder meine Jugendfreunde gegangen: Jopa, Peter-Georg, Karl-Heinz. In meinem Freundeskreis gibt es einen Bruder im Geiste, dessen Schicksal mich immer wieder berührt; es ist eine Berührung im Modus des Mitleidens und des fortgesetzten Irritiertseins.

Eine kurze Zwischenbemerkung: Gegenwärtig lese ich Anna Haag: Denken ist überhaupt nicht mehr Mode – Tagebuch 1940-1945 (Reclam-Verlag), Stuttgart 2021). Auf Seite 333f. lese ich folgenden Eintrag. Es handelt sich um eine Danksagung: „‘Für die freundliche Anteilnahme, die wir bei dem Soldatentod unseres unvergesslichen Sohnes erfahren durften, danken wir von ganzem Herzen.‘ In einem seiner letzten Briefe schrieb er: ‚An meinem eigenen persönlichen Leben hänge ich nicht. Die Wirkung, der Auftrag ist alles.‘“ Anna Haag kommentiert hierzu: „Wer versteht das? Ich meine: wer begreift die Eitelkeit dieser und so vieler deutscher Eltern, die diese Eigenschaft noch mit dem ‚Soldatentod‘ ihres Sohnes kitzeln? Warum hat der Vater seinen Sohn nicht belehrt (der Vater hat sich uns gegenüber als Anti-Nazi und Kriegsgegner ausgegeben. Er ist ein gelehrter Herr), dass ‚Auftrag‘ und ‚Wirkung‘ nur dann einen großen Sinn haben kann, wenn der ‚Auftrag‘ edel, und seine ‚Wirkung‘ entsprechend ist? Fluch über die Narren, die das Schlachten und Geschlachtetwerden heute noch immer als ‚großen Auftrag‘ feiern! Ich bin erfüllt von Menschenhass und Menschenverachtung!“

Die Selbstverständlichkeit eines Dulce et decorum est pro patria mori („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“) ist für uns heute unvorstellbar. Sie disziplinierte selbst gelehrte Herren mitsamt der Familie zu einer Haltung, die bis zur Selbstverleugnung führte. Sie mündete in einem traumatisierten Nachkriegsdeutschland in eine kollektive Verdrängungshaltung, gepaart mit einer offenkundig unbändigen Energieleistung, die einerseits zur Wirtschaftswunderwelt führte, die aber andererseits Beobachter dazu veranlasste, von einer Unfähigkeit zu trauern zu sprechen (Margarete und Alexander Mitscherlich).

In der postmodernen Gesellschaft gerät Trauer – so könnte man sagen – zu einer latent dynamischen bis virulenten Grunddisposition. Sie nimmt vielfältigste Gestalt an, indem die Einsicht, dass wir alle sterben müssen, die unterschiedlichsten Antworten provoziert: Die traditionellen Milieus der Religionsgemeinschaften erodieren; die Vertreter eines offensiven oder auch diskreten Jugendwahns führen eine letztlich erfolglose Abwehrschlacht, die auch durch gesündeste Lebensführung nicht zu wenden ist; vermutlich kommt es einer fundamentalen Kränkung gleich, wenn man schließlich erkennen muss, dass man – gesund bis ins allerhöchste Alter – dennoch sterben muss. Die übergroße Zahl der Menschen sucht ihr Heil in einer mehr oder wirksamen Verdrängungshaltung und sieht sich irgendeines Tages – vollkommen überrascht – mit Gevatter Hein konfrontiert (Freund Hain lässt sich abwenden nit mit Gewalt, mit Güt, mit Treu und Bitt – ich bevorzuge die Version von Georg Ringsgwandl).

Wie gehen wir also mit unserer Sterblichkeit um, vor allem solange nicht unser eigener Tod gemeint ist? Das Ereignis eines frühen Todes – eines Todes zur Unzeit – schockiert; zumindest das unmittelbare Umfeld. Handelt es sich um einen Unfall – je spektakulärer, desto intensiver – nimmt die Öffentlichkeit daran Anteil.

Kaum jemand hat diese Zusammenhänge deutlicher thematisiert als Jean Baudrillard (Frankfurt 2003) Er fragt:

"Warum hat der erwartete und vorhergesehene Alterstod, der Tod in der Familie - welcher von Abraham bis zu unseren Großvätern als einziger einen vollen Sinn für die traditionelle Gemeinschaft hatte - diesen Sinn heute nicht mehr (a.a.O., S. 94)?

Die Moderne lässt Baudrillard aufscheinen in all ihrer Brutalität und Verachtung des Einzelnen, indem er der Frage nachgeht, warum denn der gewaltsame, zufällige - beispielsweise der Unfall-Tod -, der früher für die Gemeinschaft ein Un-Sinn gewesen sei, bei uns so eine exponierte Bedeutung hat? Vielleicht erkennen wir uns als diejenigen wieder, die sich dem konsumativen Terror der Massenmedien aussetzen - ja ausliefern, und die im "natürlichen" Tod keinen Sinn mehr erkennen können: "Der 'natürliche' Tod ist sinnlos, weil die Gruppe daran keinen Anteil hat. Er ist banal, weil er mit dem banalisierten individuellen Subjekt und er banalisierten Familienzelle verbunden ist und weil er nicht mehr kollektives Freud und Leid ist (a.a.O., S. 95)."

Baudrillard stellt in den Raum, dass jeder seine Toten beerdige. Hingegen gebe es bei den Primitiven keinen 'natürlichen' Tod: jeder Tod sei gesellschaftlich, öffentlich und kollektiv und er müsse durch die Gruppe und nicht die Biologie absorbiert werden: "Diese Absorbierung geschieht im Fest und in den Riten. Das Fest ist ein Austausch der Willen (man sieht nicht, wie das Fest ein biologisches Ereignis resorbieren könnte). Böse Willen und Sühneriten werden über dem Kopf des Toten ausgetauscht. Der Tod treibt sein Spiel und er gewinnt symbolisch - der Tote gewinnt seinen Status und die Gruppe bereichert sich um einen Partner (a.a.O., S. 95)."

Bei uns hingegen macht sich der Tote aus dem Staube!

Baudrillard hat vielleicht nicht mehr das massenhafte Verscharren von a-sozialisierten Toten auf den anonymen Grabfeldern unserer Friedhöfe erlebt. Die Vereinzelung zu Lebzeiten führt auch nach dem Ableben immer häufiger zur Bestattung auf anonymen Grabfeldern, die es  inzwischen auf jedem Friedhof gibt. Baudrillard behauptet schon 1976, dass sich die Toten aus dem Staube machen. Am Ende eines Lebens der Akkumulation (von gewonnen Jahren - auf dem Hintergrund rasant ansteigender Lebenserwartung bzw. durchschnittlichen Ablebens) werde er vom Ganzen abgezogen. Er werde zu keiner Erinnerung:

"Das ist ein banaler, eindimensionaler Tod, das Ende eines biologischen Parcours, die Bezahlung einer Schuld: 'den Geist aufgeben', wie ein Reifen, der seine Luft verliert. Welche Plattheit (a.a.O., S. 96)!"

Damit könnte man ja vielleicht noch leben. Damit aber der Tod nicht als vollkommene Inkarnation der Sinnlosigkeit erlebt wird, reicht es nach Baudrillard eben nicht aus, einen Toten "der Natur zurückzugeben". Vielmehr müsse er nach genauen herkömmlichen Riten ausgetauscht werden, damit seine Energie, die Energie des Toten und des Todes, auf die Gruppe zurückwirken und von der Gruppe aufgenommen und verausgabt werden könne, anstatt nur der 'Natur' überlassen zu werden (vgl. ebd., S. 97). Wie fremd ist uns denn diese Einsicht; uns, die wir - wie Baudrillard meint - über keinen wirksamen Ritus zur Absorption des Todes und seiner gewaltigen Energie mehr verfügen. Uns bleibe nur noch das Phantasma des Opfers und des gewaltsamen künstlichen Eingriff des Todes: "Daher die intensive und zutiefst kollektive Befriedigung angesichts des Todes im Auto. Was beim tödlichen Unfall so fasziniert, ist die Künstlichkeit des Todes. Er ist technisch, nicht natürlich, also beabsichtigt (möglicherweise vom Opfer selber), also von neuem interessant - denn der beabsichtigte Tod hat einen Sinn (a.a.O., S. 97)."

Das Jahr 2003 vermittelte mir individuell auf ungewöhnliche Weise die Erfahrung, einer Absorption des Todes und der von Baudrillard angenommenen und phantasierten gewaltigen Energie des Todes. Das unmittelbare und konsequente Einlassen auf die Sterbebegleitung meiner Mutter endete mit dem Übergehen der gewaltigen Energie, die sich in der Lebensleistung und –einstellung meiner Mutter manifestierte, in Art einer Osmose auf meine energetische Ausstattung für ein überschaubares Zeitfenster – etwa ein halbes Jahr – und latent als haltungsbestimmender Einfluss für den Rest meines Lebens. Natürlich hält mich die Mehrheit meines Umfeldes für bekloppt. Was allerdings nach dem Tod meiner Mutter an nachhaltiger, wirkungsmächtiger Verhaltensausrichtung mir selbst beobachtbar und erfahrbar wurde, zeugt von einem Entwicklungspotential und einem Entwicklungsschub gleichermaßen.

Das Unfassbare wurde sowohl vertrauter als auch in seiner Vertrautheit weniger bedrohlich. Als 2016 Andreas tödlich verunglückte, sahen wir alle uns einmal mehr konfrontiert mit einem Tod zur Unzeit. Der Tod trat ein infolge eines vermeintlich selbst verschuldeten bzw. verursachten Autounfalls, dessen Umstände – wie Baudrillard es beschreibt –, zu Spekulationen Anlass gab. Andreas war nicht nur der Sohn eines engen Freundes, er war über mehr als zwei Jahre die erste Liebe unserer jüngsten Tochter – Anne – mit all den Höhen und Tiefen, die den singulären Charakter der ersten Liebe ausmachen. Die Trennung der beiden lag bereits mehr als sechs Jahre zurück, als uns der Anruf erreichte, dass Andreas bei einem Autounfall gestorben sei – im Alter von 29 Jahren. Die bedrängenden Bilder aus 1994 im Nachgang zum plötzlichen Unfalltod meines Bruders glichen sich ab mit einer Tragik, die sich aus einem einzigen Grund noch düsterer und schockierender ausnahm. Fast genau vor 20 Jahren hatte der Vater Andreas' seinen Sohn aus erster Ehe durch Suizid verloren. Mit Andreas' Vater verbindet mich eine lange Freundschaft, die der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Institut an der Uni und der Tatsache, dass er lange die Leitung dieses Instituts innhatte, entwachsen war. Die Umstände, die Andreas‘ Tod begleiteten, ließen auch hier böse Ahnungen zu. Dass sich diese Annahme eher als Trugschluss herausstellte, hatte wenig Tröstliches.

Mein Freund hatte die Leitung des Instituts, an dem ich offiziell zum 1. Juli 1994 meinen Dienst aufnahm, erst wenige Monate zuvor übernommen. Die erste Amtshandlung mir gegenüber bestand im Kondolenzschreiben, mit dem er mir sein Beileid zum Unfalltod meines Bruders bezeugte; 1997 schrieb ich dem Freund einen langen Brief zum Tod seines Sohnes Björn, der noch im ausgehenden 20. Jahrhundert auf bedrückende Weise die Nöte und die Einsamkeit eines jungen – eben auch erst 29jährigen Mannes offenbarte, der (auch) an der Tatsache seiner schwulen Identität zerbrochen war.

Dieses brutale dejà vu konnte nur wie eine Heimsuchung erscheinen. Ich halte meine Eindrücke hier fest, weil es eine doppelte tiefe Verwobenheit der Geschichte meines Freundes und seines Sohnes mit meinem Leben gibt. Dies schließt die tiefe Betroffenheit und den nachhaltigen Schock ein, der meine ganze Familie und mein Umfeld – selbstredend Anne in besonderer Weise – erfasste. Der Freund, der in diesem großen Unglück das kleine Glück hatte, inzwischen eine Frau an seiner Seite zu haben, die ihn stützte, die ihm Kraft und Besonnenheit vermittelte, suchte den Kontakt zu einem im Leiden und Mitleiden Erprobten. In dessen Erinnerungsflut mischten sich die Eindrücke auf surreale Weise:

Die Tatsache, dass mein Freund eine Frau an seiner Seite hatte, die ihm Rückhalt und Kraft vermittelte, die aber nicht Andreas‘ Mutter war, bedeutete eine der Gegebenheiten auf der schiefen Ebene, auf der sich der Freund bewegte. Die Metapher Dirk Beackers (siehe Kapitel…) beschreibt vielleicht unser aller Lebensrahmen auf mehr oder weniger eindrückliche Weise. Das nunmehr grell aufscheinende Blitzlicht, beleuchtete das Spielfeld, auf dem sich der Freund als Mitspieler bewegte und auf dem mehrere Tote verteilt waren. Hier zeigte sich – vielleicht ausgeprägter als üblich –, dass die Leute das runde Spielfeld betraten und verließen, wie sie wollten. Immer war unklar, wer gerade den Ball hat und wer welches Tor zu seinem erklärt. Auf der abfallenden Fläche schien das Bemühen um Kontrolle aussichtslos.

Das Zeitfenster für ein ritualisiertes Trauergeschehen ist begrenzt. Die Trauerfeier und die Beisetzung zwingen dem Geschehen eine enge Taktung auf. Die Trauerfeier für Andreas offenbarte zur Gänze das verworrene Chaos, das Andreas selbst noch in den Tod begleitete. Die Trauerfeier selbst habe ich unter den unmittelbaren Eindrücken des Geschehens für mich erinnert. Heute – mit einem Abstand von fast fünf Jahren – mischen sich die Zutaten noch einmal neu. Mir erscheint im Rückblick der Schmerz als diffuser und ausgefranster Nebel, in dem die Trauernden nicht zueinander finden konnten. Die Mutter Andreas‘ saß isoliert für sich, der Freund saß für sich und seine Tochter bildete ein drittes Schwerkraftfeld, in dem sich Abstoßung und Anziehung neutralisierten.

Der Freund hat zuweilen resigniert registriert, dass seine Kinder Abstand zu ihm suchten. Peter Sloterdijk hat die beobachtete Einkrümmung der Subjekte in sich selbst – jene incurvatio in se ipsum – primär in Zusammenhang gebracht mit einer Operation des Sündigens, die man heute als „Kommunikationsabbruch in bezug auf ein gesprächsuchendes oder bittendes Gegenüber charakterisieren würde“. Bitterer noch, dass Sloterdijk sich bemüßigt sieht zu ergänzen: Sie – diese Einkrümmung – beziehe sich auch auf das „habitualisierte Resultat einer solchen Abwendung, eine hartnäckige Fehlstellung des moralischen Sinns, die sich sogar bei gutem Willen vom Subjekt nicht mehr kompensieren ließe“.

Mehrfach habe ich Karl Otto Hondrich erwähnt, der uns Erwachsene darauf aufmerksam macht, dass Kinder ihren eigenen intuitiven Umgang mit den wechselseitig ausgelebten Konflikten und Idiosynkrasien ihrer Eltern pflegen. Die Abschiedsworte des Freundes an seinen Sohn offenbaren im Rückblick für mich den verzweifelten Versuch, den nun eingetretenen finalen Kommunikationsabbruch nicht nur zu ertragen, sondern ihn ein Stück weit auch abzuwehren. Die Anknüpfung an eine frühe Geste seines kleinen Sohnes Andreas, der seinem Vater ein Schäfchen zudachte mit den Worten: „Ein langes Leben, lieber Papa, dein Andy“ stellt den Lebensfluss auf den Kopf und bezeugte nun zum zweiten Mal, dass ein Vater seine Söhne ziehen lassen muss.

Ich verdanke dem Freund mehr als nur die Intervention, mit der er 1997 – in der Zeit meines Wütens in dieser Welt – versucht hat, Claudia zu besänftigen und ihr zu einer Haltung der Geduld riet. „Bewahre die Ruhe, der Jupp wird sich eines Besseren besinnen – mit der nächsten Frau wird nichts besser.“ Den weiten Weg dieser Besinnung bin ich (auch mit Hilfe von guten Freunden – siehe Kapitel…) gegangen. Dass es insbesondere für ihn - den Freund aus so vielen freudvollen wie leidvollen Tagen - anders kommen musste, erscheint mir bitter und versöhnlich zugleich mit Blick auf die Tatsache, dass ihm die letzte Liebe wohl doch noch ein fürsorgliches Finale vergönnt.

Man kann sich nun fragen, was mich wohl dazu legitimiert fremde Familiendynamiken zu thematisieren und nicht nur welche zu erfinden. Was hier zu lesen ist, ist meine Erfindung im Sinne eines Nachspürens. Die Tatsache, dass Andreas nicht nur der Sohn meines besten Freundes war, sondern um ein Haar unser Schwiegersohn geworden wäre, mag ein hinreichender Grund sein zu erinnern – auch über unserer gemeinsame Zeit hinaus.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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