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Angelika Schrobsdorff: W A R U M ?

Angelika Schrobsdorff schreibt im Vorwort zu der Geschichtensammlung Von der Erinnerung geweckt (München 1999), dass Warum? ihre allererste Geschichte sei: „Sie ist Keimzelle und Leitmotiv vieler meiner Bücher geworden.“

Ich lese diese kurze, 15 Seiten umfassende Geschichte heute Morgen, und nehme sie zum Anlass, meinem Blog einen neuen Beitrag hinzuzufügen. Unter dem Text ist in Klammern vermerkt: München 1951 – das ist im Übrigen ein Jahr vor meinem eigenen Geburtsjahr. Und es mag nicht verwundern, dass sich in diesen wenigen Seiten ein Motiv ausbildet und verdichtet, das Angelika Schrobsdorff zu der Auffassung bringt, das Schreiben sei von da an „zu einer Art Droge, einem Beruhigungs- oder Schmerzmittel, einem Antidepressivum, in manchen Fällen zu einer Ecstasy-Pille“ geworden, mit dem sie sich „über Wasser halten konnte“.

Angelika Schrobsdorff bekennt schon gegen Ende der ersten Seite, dass ihre Ahnungen, die sie von einem bestimmten Tag an begleiten, „die Form eines unheimlichen Schattens annahm“ – eines Schattens, der sie fortan auf Schritt und Tritt verfolgen wird. Und ich kann sagen, dass dieser Schatten uns alle bis in die Gegenwart hinein – bis ins Jahr 2024 hinein – begleitet, und dass er 85 Jahre nach den geschilderten Ereignissen wieder schärfere Konturen annimmt. Ich habe Ereignisse kursiv gesetzt. Die für Angelika Schrobsdorff so belastenden Ereignisse werden eindrücklich und in ihrer bedrohlichen Atmosphäre auf bedrückende und beklemmende Art und Weise geschildert. Einzig das Warum? findet keine Erklärung, bleibt nebulös und im Dunkel. Die damit einhergehende Spannung, das düster sich zeigende Damoklesschwert in seiner gänzlich unbegreiflichen Präsenz stecken den Rahmen ab für ein Geschehen, das uns heute noch den Atem nimmt und die Schuld eines ganzen Volkes in Erinnerung ruft:

Die zwölfjährige Angelika schildert, wie sie eines Tages mit einem ungewohnten und schockierenden emotionalen Ausnahmezustand der Mutter konfrontiert wird:

„Es war das erste Mal, daß ich meine Mutter weinen sah. Sie lag auf dem Bett und schluchzte wie ein Kind, das sich sehr weh getan hatte. Ihre Hände waren zu hilflosen Fäusten geballt, und unter ihren geschlossenen Lidern quollen die Tränen hervor und liefen als eilige Bächlein in den geöffneten, verzerrten Mund hinein.“ Angelika fragt ihre Mutter, warum sie denn so geweint habe. Die besorgte und liebevolle Geste, mit der die Mutter die Hintergründe im Dunkel lässt, gibt dem unheimlichen Schatten erst recht eine bedrohliche Kraft: „Das verstehst du nicht und sollst es auch lange nicht verstehen, meine Kleine.“

Vier Monate später ist die Mutter weg – noch nicht ganz weg; ihr Zimmer, ihre Schränke sind leer, und die vollkommen aufgelöste Angelika sucht Trost bei Vater und will wissen, wo die Mutter ist. Ihr Vater versucht sie zu beruhigen:

„Du brauchst keine Angst zu haben, Angeli, die Mutter ist nur wenige Schritte von hier entfernt, in derselben Straße. Sie wohnt jetzt in einer Pension vorne an der Ecke, weißt du.“ „Aber  w a r u m  denn?“, fragt Angelika verzweifelt. „Ja, Kleine“ antwortet der Vater: „Das verstehst du noch nicht.“

„Da war sie wieder, dieselbe Antwort, und die Ahnung, in Form eines unheimlichen Schattens, wurde größer.“

Wer vermag sich in die Ängste und in die Gefühlswelt eines zwölfjährigen Mädchens versetzen, das im Fortgang der Ereignisse erleben muss, dass zuerst die Mutter Berlin verlässt – verbunden mit dem Versprechen, dass bald alle wieder vereint sind. Dass es sich um eine Flucht handelt, in deren Verlauf eine Mutter mit ihren beiden Töchtern den Nazi-Terror in Bulgarien überlebt; dass es sich auch um die finale Trennung vom Vater handelt, der die Scheidung von seiner jüdischen Frau betreibt – all dies bleibt in dieser kurzen Geschichte im Dunkel bzw. ungesagt. Nach Wochen der Unsicherheit und der Erwartung reist der Vater mit den beiden Töchtern der Muttern nach Bulgarien hinterher. Im stetigen Niedergang, der schließlich in der Einsicht endet, Deutschland als Heimat verloren geben zu müssen, erweisen sich die wenigen, Hoffnung verheißenden Glücksmomente als trügerisch:

Ankunft in Bulgarien – immer noch in der Gewissheit dort nicht zu lange bleiben zu müssen: „Nicht wahr, Papa, wir bleiben doch nicht zu lange dort?“ Denn der Vater antwortet: „Nein, nein, mein Kind, wir bleiben nicht zu lange,“ und küsst sie. Und dann ein lauter Aufschrei:

„Aus der wartenden Menschenmenge löste sich meine Mutter und rannte auf unser Abteil zu. Sie trug ein helles, geblümtes Leinenkleid, einen breitrandigen Strohhut und weiße Sandalen mit hohen Absätzen. Sie war sehr braun, sehr strahlend, sehr schön. Während sie uns abwechselnd immer wieder in die Arme schloss und küßte, hingen meine Blicke gebannt an ihren Augen. Es waren die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte, und in diesem Moment auch die seligsten. Es war das letzte Mal, daß ich diese Augen so glücklich sah.“

Es ist die dieselbe Mutter, die Angelika ein halbes Jahr später – zwei Tage vor dem Heiligen Abend - so ganz anders wahrnimmt:

„Sie sah sehr müde aus, und ihre Augen, von den schweren Lidern bedeckt, lagen in tiefen Höhlen. Sie war alt geworden, und all das Strahlende, Lebendige war aus ihrem Gesicht gewichen.“

Da ist Vater bereits lange schon zurückgereist nach Deutschland; da hat ihr die ältere Schwester bereits eröffnet, dass sie alle Hoffnungen auf ein Weihnachtsfest zu Hause mit Vater fahren lassen muss, weil „sie gar nicht mehr nach Deutschland dürfen“ – dass sie hierbleiben müssen – in Bulgarien.

Angelikas Verstörung ist vollkommen. Nun will sie von der Mutter wissen, was sie Schlimmes getan hat, warum sie nicht mehr nach Hause nach Deutschland dürfen. Den Vater hatte sie vor seiner Abreise schon gefragt, warum sie hier sein müssen und auch die Frage hinterhergeschoben: „Papa, kann ich es wirklich noch nicht verstehen?“ Seit der Antwort des Vaters war ihre innere Unruhe und Zerrissenheit nur noch gewachsen, denn hatte der Papa doch gesagt:

„Doch, du könntest es schon verstehen, aber du würdest noch nicht damit fertig werden… Wir haben dich sehr lieb, meine Kleine, und wollen dir so viel wie möglich ersparen.“

In Angelika Schrobsdorffs kleiner Geschichte erfahren wir kein Wort darüber, dass der Vater wohl parallel zur Flucht die Scheidung betrieben hatte. Damit hatte er wohl seine Rückkehr nach Deutschland und seine weitere (berufliche) Zukunft in Deutschland abgesichert/erkauft. Als sie nun soweit ist und auch ihre Mutter konfrontiert, nimmt das nebulöse, für sie gänzlich unverständliche Geschehen – die Flucht – erstmals klarere Konturen an:

>„Mutti“, begann ich leise, „bitte sag mir endlich, was du Schlimmes getan hast.“ Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern. Meine Mutter starrte mich in maßlosem Erstaunen an. „Was meinst du denn um Gottes willen, Angeli?“ fragte sie „Du kannst es mir doch ruhig sagen“, stotterte ich jetzt hastig los. „Ich hab dich so lieb, daß mich nichts, gar nichts daran hindern kann, dich auch weiter so liebzuhaben. Du brauchst es mir deswegen nicht zu verheimlichen.“ Mutti schüttelte entgeistert den Kopf. „Angelika“, sagte sie, „ich begreife nicht, was du da redest. Was soll ich denn getan haben.“<

Diese entwaffnende Unschuld, das aufrichtige Entsetzen darüber, was die Tochter für Phantasien hegt, mag uns noch heute ins Mark treffen. Denn Angelika insistiert weiter:

„Das weiß ich doch eben nicht!“ ruft sie verzweifelt aus: „Aber  w a r u m , Mutti, warum ist seit Monaten alles so furchtbar anders geworden? Warum dürfen wir nicht wieder zurück nach Deutschland? Warum ist Papa nicht mehr bei uns? Du musst doch etwas getan haben, sonst wäre nicht alles so schrecklich geworden!“ Und Angelika bricht in fassungsloses Weinen aus.

>„Ach so“, sagte Mutti ganz still und nahm mich in ihre Arme. „Jetzt verstehe ich. Hör gut zu, mein Kleines, ich will es dir erklären. Ich habe nichts Schlimmes getan, aber weißt du, Angelika…“ Ich habe keine Erinnerung mehr an die Worte, mit denen sie mir das Unerklärliche erklärte. Verstanden habe ich es nicht. Bis zum heutigen Tage. Das  W A R U M  ist geblieben.<

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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