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Jean Améry: Über das Altern Revolte und Resignation

und das lebensbegleitende Damoklesschwert des mors certa - hora incerta, ergänzt durch aktuelle literarische Befassungen

Im Vorwort zur vierten Auflage seines Versuchs Über das Altern – Revolte und Resignation (Klett-Cotta, Stuttgart, erstmals 1968) wendet sich Jean Améry gegen die Kritik eines bei der Erstauflage schon recht betagten Herrn, der ihm ungefähr dies vorhielt: „Was könne denn, so meinte er, dieser >junge< Mensch von 55 Jahren, J.A., vom Altern und dem Alter verstehen? Was nehme er sich da heraus?“

Jean Améry meint 10 Jahre später – beim Wiederlesen des Textes, dass er dem frohgemuten Greis zu seinem eigenen tiefen Leidwesen unrecht geben müsse:

„Wenn ich etwas erfahren habe in den vergangenen zehn Jahren, dann führt es mich eher zur Akzentuierung des damals Gesagten als zur Einschränkung. Es war alles um eine Spur schlimmer als ich es voraussah: das physische Altern, das kulturelle, das täglich lastvoller verspürte Heranrücken des dunklen Gesellen, der an meiner Seite herläuft und mich dringlich anruft, wie den Valentin Reimunds mit dem unheimlich intimen Wort: Freunderl, komm ...“

Und im letzten Kapitel Mit dem Sterben leben mag man dann auch erkennen, wohin das führt, weist er doch im Vorwort zur vierten Auflage darauf hin, dass er an einem einzigen Punkt eine Revision vorzunehmen habe, nämlich dort, wo er das schlimme Wort von der >Narrengeschichte vom Freitod< schrieb:

„Hier haben neue Einsichten und Erfahrungen mich in eine andere Richtung gedrängt, haben meinem Nachdenken eine Ausdehnung gegeben, von ich damals nichts ahnen konnte. Darum fühlte ich mich auch gehalten, mein Buch >Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod< zu schreiben, das in gewissem Sinne als eine Fortsetzung der vorliegenden Arbeit gelten mag.“

1978 scheidet Jean Améry durch Suizid aus dem Leben. Umso mehr scheint diese Entscheidung folgerichtig, liest man den letzten Absatz seiner Ausführungen im Versuch über das Altern:

„>Wer nicht jung sterben will, muß alt werden<, das ist eine jener Plattitüden, in denen Unsinn, Tiefsinn und Klarsinn einverstanden sind. Keiner will jung sterben, niemand will alt werden, da haben wir die Komplementär-Banalität, die freilich das von ihr zu ergänzende Stück vertieft um die unauslotbare Dimension der allerwegen angenommenen Unanehmbarkeit unseres in der Selbstverzehrung seienden Daseins. Das Altern, mit dem das Nicht und >Un< unserer Existenz sich vorstellt und uns evident wird, ist eine verödete Lebensregion, bar jeden vernünftigen Trostes; man soll sich nichts vormachen. Im Altern werden wir zum weltlosen inneren Sinn reiner Zeit. Als Alternde werden wir unserem Körper fremd und seiner trägen Masse zugleich näher als je zuvor. Wenn wir die Lebenshöhe überschritten haben, verbietet uns die Gesellschaft den Selbstentwurf und wird die Kultur zur Laskultur, die wir nicht mehr verstehen, die vielleicht uns zu verstehen gibt, daß wir als altes Eisen des Geistes auf die Abfallhalden der Epoche gehören. Im Alter schließlich müssen wir mit dem Sterben leben, skandalöse Zumutung, Demütigung sondergleichen, die wir einstecken, nicht in Demut, sondern als Gedemütigte. Alle Symptome der unheilbaren Krankheit sind rückführbar auf das unbegreifliche Wirken des Todesvirus, mit dem wir in die Welt treten. Er war nicht virulent, als wir jung waren. Wir wußten wohl von ihm, aber er ging uns nichts an. Mit dem Altern tritt er heraus aus seiner Latenz. Er ist unsere Sache, unsere einzige, auch wenn er nichts ist, und besser noch ist die manische Litanei, das todespoetische Geplapper, als der grundhäßliche Kitsch des abendbesonnten Idylls. >Brennen soll das Alter, wenn der Tag sich neigt<, spricht Dylan Thomas. Hat A (das Kürzel für Proust) irgendetwas getan, auf daß das Gleichtgewicht gestört, der Kompromiß bloßgestellt, das Genrebild zerstört, der Trost verscheucht werde? Er hofft es. Die Tage schrumpfen und trocknen ab, da hatte er Begehr, die Wahrheit zu sagen.“

Die Wahrheit ist: Wir alle werden sterben (Arnold Retzer). Jean Améry machte seinem Leben ein Ende, bevor er alt war. Für den Vorbehalt des oben erwähnten Greises mag es Argumente geben. Nach heutigen Maßstäben und statistischen Wahrheiten gehört man mit 65 allenfalls zu den jungen Alten (siehe auch: hier). Der Eintritt in höchste Alter – ins Greisenalter – ist noch weit weg. Andererseits liefert die Biografie Jean Amérys genügend Anhaltspunkte dafür, dass Alter hier nicht alleine über eine Symptomatik des Greisenalters definiert wird. Dafür mag auch die Verwendung des Begriffs des Todesvirus sprechen, „mit dem wir in die Welt treten“.

Die Spezies Mensch lebt in der Tat mit jenem Todesvirus, das zuverlässig seinen Job macht – auch dann, wenn ihm menschliche Missgeburten wie Hitler, Stalin, Putin (und so viele andere) nicht ins Geschäft pfuschen. Wie soll nun der lebenswillige, -mutige, -tapfere gar –lustige mit diesem Existential umgehen? Bleiben wir bei der Literatur des Tages:

Paul Austers Baumgartner (72) – die Zufälle eines spontanen Ausflugs in unwirtliches Gelände wollen es so – gerät unverhofft in „das letzte Kapitel der Saga von S.T. Baumgartner“ – just im euphorischen Aufschwung, dem eigenen vergangenheitsträchtigen Leben durch Anna (aber eben ohne Anna, der vor eine Dekade verunglückten Liebe seines Lebens) noch einmal einen Sinn abzugewinnen; allerdings beatmet durch das klonhafte Erscheinen der jungen Studentin Bebe, die Annas Werk im Rahmen eines Forschungsvorhabens der Welt zugänglich machen will (und damit auch Baumgartner noch einmal Lebenssinn und Lebensmut einzuhauchen vermocht hätte).

In Bernhard Schlinks Das späte Leben begegnen wir – man glaubt fast an ein alter ego Schlinks – dem 76jährigen Professor der Rechte namens Martin Brehm. Er ist im Alter von 70 noch einmal Vater geworden. Sein Sohn David ist noch nicht ganz dem Kindergartenalter entwachsen und steht vor der Einschulung. Sein Arzt eröffnet ihm die finale Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs - seine Lebenserwartung wird ihm mit etwa einem Vierteljahr, in Aussicht gestellt.

T.S. Baumgartner und seine Frau Anna waren kinderlos geblieben. Der Professor wird im Großvateralter Vater – und fragt sich: Was mache ich mit der verbleibenden Zeit, und was hinterlasse ich – nolens volens – meinem Sohn. Die Delikatessen der Geschichte lasse ich erst einmal außen vor. Mich interessiert in der Tat die Frage, womit sich Menschen im Alter und gar im Angesicht des Todes beschäftigen? Nein, es geht nicht ohne die Delikatessen. Martin, der 76jährige Professor der Rechte, der eine 30 Jahre jüngere Frau ehelichte und mit ihr David in diese Welt beförderte, erfährt, dass seine Frau eine Affäre hat. Er ermittelt die Identität seines Rivalen und besucht ihn - unspektakulär, motiviert durch ein einziges Anliegen: Bei allen kränkenden (Neben-)Effekten interessiert ihn, "ob Sie (Gundolt, der Rivale) Ulla lieben und David lieben können, das war's..." Das war's noch nicht ganz. Martin stellt ihn und will ihm immerhin erklären, was ihn umtreibt:

"Seit ich weiß, dass ich bald sterbe, seit ein paar Wochen überlege ich, was ich David mitgeben oder hinterlassen kann. Was kann ich mit ihm machen, woran er sich später gerne erinnert, was kann ich ihm aufschreiben, was ihn eines Tages interessiert [...] Ich werde den Brief, den ich David geschrieben habe, in meinen Schreibtisch legen, der vielleicht einmal sein Schreibtisch sein wird und in dem er ihn vielleicht findet. Aber was soll er ihm? Was soll ihm der Brief eines seit Langem toten Vaters, an den er sich nicht erinnert, den er als Verfasser des Briefes nicht erlebt? Und was ich mit ihm in den letzten Wochen gemacht habe, war alles schön, aber nichts, was sich dem Gedächtnis eines Kindes einprägt... Ulla hat Angst, dass David mehr mein als ihr Sohn ist und auch nach meinem Tod bleibt. Weil ich ihm soviel mitgebe. Aber sie muss keine Angst haben. Was ich ihm mitgebe, kann sie in Vergessenheit geraten lassen. Und was ist es schon? Nur die Lebenden können den Lebenden geben, nicht die Toten. Man kann sich an dem erfreuen, was die Toten gegeben haben, als sie noch gelebt haben [...] Ich kann dem David, der erst leben wird, nichts geben. Wenn er leben wird, bin ich tot, und Ulla lebt. Und vielleicht sind Sie dann da."

"Das letzte Kapitel, das vom Sterben und Tod handeln müsste, fehlt. Es fehlt deshalb, weil der Tod, wie Martin in einer seiner Reflektionen bemerkt, schon nicht mehr zum Leben gehört. Er ist nicht in die Biografie integrierbar, lässt sich nicht erinnern und nicht greifen. Der auktoriale Erzähler könnte das aber sehr wohl. Doch er hört lieber auf, bevor es anfängt richtig wehzutun."
                                                                                                                                                     Jörg Magenau, rbbKultur

Ja, so wie Jörg Magenau kann man das sehen. Schlichte Sprache und das weitgehende Umgehen und Ausblenden des finalen Geschehens. In der Tat wirken Schlinks Schilderungen - die zirkelhaften episodenhaften Kapitelchen - wie am Reißbrett entworfen. So stellt sich auch die als self-fulling-prophecy ablaufende, ein 12-Wochen-Fenster eröffnende Diagnose dar. Dazu passt das Bauchspeicheldrüsen-Karzinom, das keine therapeutischen Interventionen eröffnet, sondern ein nahezu elegantes Übergleiten ins Nirwana offenbart. Das alles wirkt allenfalls elegant und erspart dem Leser Details, wie sie beispielsweise Eva von Redecker in: Den Tod sehen innerhalb ihrer Bleibefreiheit (S. 48-55) schildert (und wie ich sie selbst im Sterbetagebuch meiner Mutter zulasse).

An Schlinks fragwürdigem Versuch interessiert mich ohnehin mehr die These, wonach nur "die Lebenden den Lebenden geben, nicht die Toten". Bei Luisa Muraro findet sich der Satz: "Schon das Geschenk der Geburt ist unermesslich, was will man noch" (siehe bei Eva von Redecker, Bleibefreiheit, Seite 115). Irgendwann gehören unsere Eltern, unsere Großeltern - hält sich das Generative an die normale Abfolge - zu den Toten. Irgendwann gehören wir als Eltern und Großeltern gleichermaßen zu den Toten. Martin Brehm entschließt sich dazu seinem Sohn David - trotz all seiner Vorbehalte - einen Brief zu schreiben. Aus welchen Gründen auch immer Berhard Schlink sich dazu entschlossen hat, die Vater-Sohn-Beziehung in der eklatanten Zeitspanne von 70 Jahren anzulegen, darin liegt eine Hypothek, die eine Schieflage erzeugt - vor allem dann, wenn Martin Brehm im letzten Teil seines Briefes die eigene Beziehung zu seinem Großvater mütterlicherseits in den Mittelpunkt stellt und daran alles demonstriert, was er seinem noch nicht sechsjährigen Sohn mit auf den Weg geben will. Und er beschädigt und relativiert seine eigene These, wonach nur die Lebenden den Lebenden geben. Er schreibt:

"Wenn Du zu mir ins Arbeitszimmer kommst, setzt Du Dich am liebsten in den Sessel mit schwarzem Leder und grünem Samt. Wenn ich zu meinem Großvater, nicht dem mit dem Schreibtisch, dem Vater meines Vaters, sondern zum Vater meiner Mutter ins Arbeitszimmer kam, habe ich mich auch am liebsten in de Sessel gesetzt [...] Der Großvater war nich oft im Arbeitszimmer. Wenn ich ihn dort hörte, klopfte ich an, er lud mich ein, und ich setzte mich in den Sessel [...] Als die Großeltern starben, war ich Student und hätte gerne alle ihre Sachen genommen, ich hing an ihnen, hatte in meinem Zimmer aber nur für den Sessel Platz [...] Ein paar Jahre vor Deiner Geburt habe ich ihn noch einmal neu polstern und neu beziehen lassen. Seitdem ist er, wie Du ihn magst - und ich auch.
Ich verbrachte die Sommerferien meiner Kindheit bei den Großeltern,  und mein Großvater hatte immer Zeit für mich. Er ging mit mir in den Wald, in dem er jeden Baum kannte, und an den See, an dem wir die Schwäne und Enten mit altem Brot fütterten, wir machten Schiffsfahrten, besuchten Museen, kauften ein, was die Großmutter und aufgetragen hatte, und wenn eine Pferdefuhrwerk vorbeifuhr, folgten wir ihm mit Eimer un Schaufel und lasen die Pferdeäpfel für den Komposthaufen auf. Er liebte Geschichte und erzählte mir aus seinem großen Schatz von Geschichten aus der deutschen Geschichte. Er las auch über Geschichte, und wenn ich im Arbeitszimmer im Sessel saß, sah ich ihn meistens am Schreibtisch über ein Buch gebeugt. Ich weiß nicht, was ich im Sessel gemacht und ob ich überhaupt etwas gemacht oder nur geschaut und alles in mich aufgenommen habe, den Großvater, den Raum, die Liebe der Großeltern.
Ich bin glücklich, wenn ich Dich im Sessel sitzen sehe. Und die Vorstellung, dass Du ihn in Dein Leben mitnimmst, dass Deine Freunde und Freundinnen in ihm sitzen, dass er schäbig wird und Du ihn eines Tages neu polstern und neu beziehen lässt und dass irgendwann einmal Dein Sohn in ihm sitzt, macht mich glücklich
."
(Seite 158-160)

Mir reichen drei von den zweihundertvierzig Seiten, um die Strahlkraft generativer Bindungsverhältnisse an der verqueren Geschichte Bernhard Schlinks zu spüren. Aber stimmig wäre die Geschichte in der Tat erst dann halbwegs, wenn David und Martin in Enkel-Großvater-Beziehung zueinander stünden, um letztlich einen glücklichen Großvater zu sehen, der seinen letzten Weg in Ruhe und Gelassenheit gehen kann, weil er weiß, dass der Enkel - so wie er selbst mit Blick auf seine Großeltern - all das geschaut und in sich aufgenommen hat, was ihm über die Liebe seiner Großeltern wie aus einem Füllhorn zukommt. 

 

 

 

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