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Bleibefreiheit und Bleibezwang

Einige Rückmeldungen auf den Beitrag Bleibefreiheit sind interessant und versprechen, dass es zumindest Gesprächsanlässe gibt. Der Beitrag basiert ja auf dem Interview im aktuellen SPIEGEL (21/23). Während mich dieses Interview schlicht unmittelbar angefressen hat, mich positiv berührt, weil es in der Tat in einer langen öffentlichen Debatte durch eine schlichte Akzentverschiebung den berühmt berüchtigten Paradigmenwechsel anzuregen vermag, meinte einer meiner pensionistas-companeros, das Interview habe ihn nicht motiviert, das Buch zu lesen. Aus dem Westerwald höre ich: "Ein weiterführnder Beitrag, sehr gut. Ein Artikel, für den ich normalerweise 3 Tage bräuchte, habe ich angespornt durch unsere gestrige Diskussion in 30 Minuten gelesen." Eine weite Spanne, die aber möglicherweise der Tragweite des Denkens von Eva von Redecker nicht ganz gerecht wird. Ich verlinke hier einmal - exemplarisch - ein Interview, das Elisabeth von Thadden mit Eva von Redecker bereits am 28. Mai 2021 geführt hat, also vor zwei Jahren. Schon damals stand der Begriff der Bleibefreiheit im Mittelpunkt (morgen erscheint bei S. Fischer die Monographie, 160 Seiten für 22 Euro). Vielleicht erscheint es der/dem ein oder anderen übertrieben von einem möglichen Paradigmenwechsel zu sprechen. Ich sehe ihn aus zwei Erwägungen heraus als drohende bzw. als erlösende Perspektive - je nach dem, welchen Freiheitsbegriff man favorisiert. Eva von Redecker sorgt - wie oben bemerkt - durch eine vermeintlich unauffällige Akzentverschiebung für eine komplette Irritation unserer bisherigen Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten. Dies gelingt ihr, indem sie dazu anregt - statt in räumlichen - in zeitlichen Bildern nachzudenken; die räumliche durch eine zeitliche Metapher zu ersetzen. Dies irritiert so vollkommen, weil die meisten von uns, die immer wieder das Fieber packt, fortzukommen von dem Ort, an dem sie sind, Bleibefreiheit bisher gar nicht denken konnten. Wir haben allenfalls die negative Variante eines Bleibezwangs verinnerlicht - zumal in totalitären Regimes, wie sie von der DDR repräsentiert wurden. Im Duden suchen wir vergeblich nach Begriffen wie Bleibefreiheit oder Bleibezwang; letzteres ist uns als freiheitseinschränkender staatlicher Eingriff in Freiheitsrechte immerhin vertraut, wurde mit Blick auf die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im Rahmen des Corona-Pandemiemanagements von vielen Bürgern in der Bundesrepublik auch entsprechend wahrgenommen und empfunden.

Eva von Redecker etabliert die Bleibefreiheit als künftiges Signum einer Welt, die einen radikalen Wandel erlebt. Mit den Folgen des Klimawandels werden einschneidende soziale und kulturelle Veränderungen einhergehen. Aus heutiger Kenntnis dieser Veränderungsprozesse ist bereits die Rede von der Zerstörung von mehr als 30% der bewohnbaren Gebiete der Erde: "Damit ein Ort intakt bleibt, muss ganz viel passieren." Auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das uns verpflichtet den nachfolgenden Generationen eine intakte Umwelt zu garantieren, teilt Eva von Redecker die damit ausgelöste Euphorie nur bedingt. Sie kritisiert den zugrundeliegenden Freiheitsbegriff, weil er individualistisch verkürzt, die Tragweite der Folgen des Klimawandels nicht sehen könne. Eine intakte Umwelt als Basis wird Beschneidungen im Alltagsverhalten erzwingen im Sinne eines radikalen Wandels, einhergehend mit Verzicht.

Ich habe mir meine eigenen Auslassungen im Kontext des covid19-Diskurses noch einmal angesehen bzw. angehört. Sie waren seinerzeit sehr stark angeregt und beeinflusst durch einen Leitartikel von Bern Ulrich in der ZEIT. Alle Fragen, die wir seinerzeit gestellt haben, harren nicht mehr einer Beantwortung. Im Gegenteil: Das Verhalten der Mehrheit der Menschen in den Wohlstandsgesellschaften gibt die Antwort auf eine höchst bedenkliche Weise. All dies scheint darauf hinauszulaufen, dass Verhaltensänderungen nicht aus Einsicht in Notwendigkeiten erfolgen, sondern leider nur nach dem Motto: Wer nicht hören will, muss fühlen. Immerhin hat das konkrete Fühlen im Geldbeutel bei Freunden (alle uns vertrauten Kosten mal drei) zu der Erkenntnis geführt, dass man nach einem Kurztrip in die Schweiz nun zumindest wisse, wohin man nicht mehr reisen werde. Es wäre eigentlich bedauerlich, wenn alle Lernprozesse in Zukunft nur nach diesem Muster erfolgen würden. Insofern werbe ich um Auseinandersetzung mit dem von Eva von Redecker angeregten Paradigmenwechsel und bin gespannt, wohin uns die damit ausgelösten Gesprächsanlässe führen.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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