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Das Heilige - Und seine Spur in der Moderne

Einleitung

In der Rücksicht auf das Heilige - so Kamper/Wulf - gäbe es die von Max Weber angedeutete und in der Folge immer wieder unterstrichene These, dass eine Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft stattgefunden habe und somit das Heilige zu einer vor-modernen Angelegenheit geworden sei. In der Einleitung des vor mir liegenden Buches (Dietmar Kamper/Christoph Wulf, Frankfurt 1987): Das Heilige - Seine Spur in der Moderne ist zu lesen, dass auf fast 700 Seiten eine Gegenthese Gestalt annehmen soll: "Das Heilige ist nicht vergangen, sondern es ist als Verschobenes, Verborgenes, Verdrängtes und Vergessenes durchaus aktuell. Man muss es nur kenntlich zu machen verstehen, d.h. man muss es entdecken, darstellen und noch aus seinen verwischten Spuren rekonstruieren können."

Das besagte Buch entstammt - wie so viele Bücher, die mir in den letzten Monaten auf vollkommen kontingente Weise zugekommen sind - dem Nachlass von Ernst Begemann. Manchmal - man möge mir das Pathos nachsehen - kommt es mir so vor, als enthüllten sich Schatten des Heiligen in der Kontingenz der Ereignisse, besser - zumindest zutreffender im vorliegenden Fall - der Zukommnisse. Rudi Krawitz [PDF], der den bibliothekarischen Nachlass von Ernst Begemann gesichert hat, und dem ich diese Zukommnisse gewissermaßen verdanke, wird mich verstehen.

Das erwähnte Buch ist von Dietmar Kamper und Christoph Wulf herausgegeben worden. Der vorstehende Link zu Dietmar Kamper eröffnet den Zugang zu einer kurzen Würdigung des Wissenschaftlers Dietmar Kamper, der 2001 verstarb, durch Christoph Wulf. Näher kommt man Dietmar Kamper durch Roman Herzog, der Kampers Traumbuch bespricht. Mehr als paradox mutet dabei in der Zusammenschau die von Kamper und Wulf in der Einleitung des erwähnten Buches zentral gesetzte These an, dass die Leere des Computerscreen auf die bestimmende Leere der Zeit verweise, die nur selten von Ereignissen und Erlebnissen der Fülle unterbrochen werde. Natürlich hat diese These fast zwanzig Jahre nach Veröffentlichung alle Argumente auf ihrer Seite. Dass mir Dietmar Kamper aber zum Ereignis wird, hat eben paradoxerweise auch mit dem von ihm und Wulf sogenannten Computerscreen zu tun. Aber der Reihe nach:

Aus den ca. 6000 nachgelassenen Bänden in unserem Archiv fiel mir gelegentlich der von Kamper und Wulf herausgegeben Sammelband in die Hände. Ich kannte zwar Wulf aus der Literatur, Kamper hingegen war mir weitegehend unbekannt. Von den 41 Beiträgen in diesem Sammelband lud mich auf den ersten Blick der Beitrag von Dietmar Kamper ein: Das Ereignis und die Ekstasen der Zeit (S. 665-674). Vordergründig betrachtet mag das zusammenhängen mit der von Kamper rückhaltlos vorgetragenen Kritik an Heideggers Bemächtigungswahn:

"Was den Bemächtigungswahn angeht, so sollte man Heideggers Freiburger Rektorat von 1933 und seine 'Heil-Hiltler'-Zwischenrufe im Hörsaal nicht länger als Belege eine (verzeihlichen) 'faux-pas' ansehen, sondern in die Kontinuität seines Denkens stellen, was seitens der Gegner und Anhänger selten geschehen ist."

Aber wie gesagt, das sind eher vordergründige Aspekte. Dies wird sicherlich deutlich, wenn ich Kampers Argumentation im Folgenden nachspure:

Dietmar Kamper stellt zunächst einmal fest, dass eine Kollision mit Heidegger unvermeidlich sei, wenn man sich auf das gestellte Thema: Das Ereignis und die Ekstasen der Zeit einlasse. Kamper erläutert, dass er sich auf diese Kollision einlasse, weil die vorgegebene Thematik das Denken Heideggers nach der der "Kehre" präge, "also nach jenem Verzicht auf die Kompetenzen der Phänomenlogie zugunsten einer eher stammelnden Annäherung an die 'Sache des Denkens', wie ich anhand seines späten Vortrags 'Zeit und Sein' demonstrieren werde."

Ich gebe zu und räume ein, dass die kritische Auseinandersetzung Kampers mit Heidegger zumindest zur Besinnung nötigt. Wie immer werden wir genötigt, sprachliche Phänomene gegen den gewohnten Srich zu bürsten. So beginnt Kamper mit

I. Wortbedeutungen im Kontext:

  • Ereignis komme nicht von eignen, aneignen, Eigentum, sondern vom Äugnis. "Es bezeichnet also etwas, das vor die Augen gerät, in den Blick tritt, sichtbar wird." Im Unterschied zum gängigen Sprachgebrauch, in dem fast jedes Vorkommnis in der Zeit ein Ereignis sein könne, sei die philosophische Bedeutung des Wortes (besonders seit Husserl und Heidegger) eingeschränkt auf ein Geschehen, das überwältigend sei und die Normalzeit gleichsam unterbreche:

"Strenggenommen - und so will ich es im folgenden halten - meint Ereignis nur jene Unterbrechung der 'fließenden Zeit', der 'passierenden Geschichte', die eine neue Zeitrechnung nach sich zieht: also eine Geburt, eine Hochzeit, einen Tod, aber auch einen Unfall, eine Katastrophe - Aufgang und Untergang einer Welt."

  • Kamper betont, es habe einen guten Sinn, auf einer besonderen Bedeutung, auf der "Qualität" des Ereignisses zu insistieren. Der Aspekt der "Qual" in der Qualität eröffne den "Zeitraum", in dem Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit als Ekstasen der Zeit sich entfalten könnten.
  • Der Terminus "Ekstase" meint nach Kamper, ein "Außer-Sich-Sein", einen "Ausstand" der Zeit in Beziehung zu einem normalen, normalisierten oder - wie Heidegger sage - "vulgären" Verlauf des Geschehens: "Wer von Zeit-Ekstase spricht, unterstellt die Möglichkeit einer vollen Zeit, einer überfließenden, nach der Angst des Ereignisses als Reichtum erfahrbaren Fülle der Zeiten." Kamper betont weiter, dass sich die Rede von den Ekstasen der Zeit "über den Moment der Gnade (des fließenden Lichtes der Gottheit) hinaus" in eine Zeitspanne erstrecke, in der von der erfüllten Gegenwart aus eine je eigene Zukunft und je eigene Vergangenheit sich ergebe.

Dietmar Kamper spricht in der Folge von Zeitorganisation im Sinne einer profanen Bezeichnung, wie sie uns beispielsweise in der Gestalt des christlichen Kalenders begegne:

"So sehr abgeflacht das Profil z.B. des christlichen Kalenders auch sein mag, es steht immer noch Modell für die Rhythmisierung der Biographien."

Der Kampf gegen den Terror des Alltags, jener faden Zeit, die keine Unterbrechnung mehr kenne, könne offenbar ohne Ereignisse von Qualität nicht auskommen. Daraus leitet Dietmar Kamper die zentrale Fragestellung ab, was denn aus dem kalendarischen Modell der Zeit - "aus der Fülle der Zeiten, aus der Ekstase von Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit" - werde, wenn das Ereignis ausbleibe?

II. Eingänge, Ausgänge vorwärts

Dietmar Kamper führt in seiner knappen Einleitung aus, dass er sich - "nach einer Wortklauberei zum Thema" - vier verschiedene Eingänge errichte, "welche die Fragen nach der vollen und der leeren Zeit in Rücksicht auf das 'Heilige' derart offen halten, tor- und türlos, dass sie auch als Ausgänge jederzeit brauchbar sind."

1. Eingang: Ereignis versus Ereignislosigkeit

Dietmar Kamper geht davon aus, dass die Menschen durch den Umstand ihrer Geburt auf die Erwartung gestimmt seien, dass etwas geschehe. In einer Zeit, "in der immer mehr passiert und immer weniger geschieht", sei dies eine "prekäre Gestimmheit". Prekär deshalb, weil man eine Zeitlang "die in der Zeitspanne gespannte Zeit" vertreiben, oder - mit drastischeren Worten - "totschlagen" könne:

"Doch drängt die Ereignislosigkeit immer mächtiger in die Falle der Omnipotenzphantasien bei faktischer Ohnmacht."

Nach Kamper verschärfte sich die Ausgangslage mit dem Versuch, auf der Grundlage instrumentaler Vernunft Zeit zu gewinnen. Sie ende in einer zwingenden Paradoxie durch einen ins Maßlose reichenden Zeitverlust:

"Ereignislosigkeit aber ist unerträglich. Sie führt im Verein mit dem Nicht-Denken-Können des Ereignisses zum Machenwollen desselben um jeden Preis. Man unterschätze nicht den Kräftestau, der hier anwächst. Er ist katastropehnträgchtig."

2. Eingang: Ohnmacht versus Bemächtigungswahn

Dietmar Kamper liefert Erklärungsangebote mittels Paradoxierung. Er spricht von der erreichten "Herrschaft über die planetarischen Territorien", die von einer "orbitalen Zeitregie mittels einer Strategie der Überbietung" flankiert werden soll. Doch stehe dieses weltweite Unternehmen der Beschleunigung - nicht zuletzt wegen der schleichenden Militarisierung am Punkte einer schwindenden Differenz von Erstschlag und Zweitschlag - vor einem potentiellen Scherbenhaufen. Interessant ist Kampers Schlussfolgerung - immerhin ist der Aufsatz 1987 erschienen -, dass der Bemächtigungswahn hier an seine Grenzen stößt und so vor dem machbaren Ende der menschlichen Welt innehalte:

"Man muss also gegen die Auffassung, dass Zivilisation, Säkularisierung, Aufklärung, Moderne im ersten Zug gescheitert seien, die Behauptung stellen, dass sie gelungen sind und dass ihr Gelingen eine katastrophales Scheitern darstellt."

Ganz sicher hat uns dieses "katastrophale Scheitern" in Europa die längste Wohlstands- und Friedensphase der Neuzeit beschert. Kamper vertritt nun eine eigentümliche These, indem er dieses Phänomen von weltpolitischer Dimension auf die Sphäre der Lebenswelt herunterbricht - und dies hört sich ebenso paradoxal wie ernüchternd an:

"Die Allianz von Ereignissucht und Bemächtigungswahn funktioniert nach wie vor. Sie ist die dominante Struktur des Alltags, der mit Pseudoereignissen vollgesopft ist. Nur mühsam kann gelegentlich das Eingeständnis von Ohnmacht intervenieren."

So kapitulieren touristischer Massenwahn und kinetische Verschwendung in einem historisch singulären Ausmaß allenfalls und kurfristig vor Naturgewalten, wenn sie in Gestalt von Tsunamis oder Vulkanausbrüchen daherkommen.

3. Eingang: Verräumlichung der Zeiten versus Verzeitlichung der Räume

Diese knappen, nur eine halbe Seite beanspruchenden Ausführungen lesen sich wie eine brutal-nüchterne Weissagung (Kamper bezieht sich auf Paul Virilio). Die "Verzeitlichung" der Räume, die ihre Form der Gewalt in der Geschwindigkeit finde und die bewohnte Welt zum Schlachtfeld von Kriegsspielen werden lasse, führe zu einer "Gleichgültigkeit" aller Orte der Erde:

"Nach den Orten, an denen sich bleiben ließe, wird auch das Ereignis verspielt, das noch Raum geben könnte für friedliche, rhythmisch gegliederte Zeitenfolgen."

Was bietet sich in der Zeit des Advents wohl eher an, als jetzt schon           

Frohe Weihnacht

zu wünschen!

 4. Eingang: Vermittlung versus Unmittelbarkeit

Ich beschränke mich auf den Hinweis, dass hier nach Kamper die eine Seite die "gezielte Bevorzugung des Medialen" bedeute, während auf der anderen Seite eine "bis zur Hoffnungslosigkeit verfolgte Wiederverzauberung der Welt" die Reklamation des Unmittelbaren gegen die Vermittlung suche. Ich erinnere mich, dass selbst einer der größten Mythenentzifferer, Roland Barthes, gewarnt hat vor den unabsehbaren Folgen einer radikalen Entzauberung aller Mythen!

III. Heideggers Kehre im Denken der Zeit

Dieses längere Kapitel überfordert meine Kenntnisse der Heideggerschen Philosophie. Gleichwohl habe ich den Eindruck, dass es Dietmar Kamper gelingt, einen knappen Einblick in das Denken Heideggers zu vermitteln. Wir sind vom Denken her gewiss fixiert auf die Vorstellungen, die ihren "Triumph in den modernen technischen Chronometern" feiert: "Nach dem Sekundenzeiger, der von Punkt zu Punkt fortschreitet, sind es nun die Jetzt-Punkt-Folgen der Digital-Uhren, die zeigen, was es mit der vorgestellten Zeit auf sich hat."

Mit Heidegger lässt sich hingegen fragen, was aber wäre die Zeit ohne Messung? Was ist die ungemessene Zeit? "Wobei (darauf weist Kamper hin, Verf.) schon die Frage: 'Was ist?' - Heideggers Leser wissen das - falsch gestellt ist." Kamper bezieht sich auf einen späten Vortrag Martin Heideggers von 1962, der in der Umkehrung von "Sein und Zeit" nach "Zeit und Sein" fragt:

"Der Vortrag ist eine beschwörende Auslegung des Satzes 'Es gibt Sein und Zeit', oder genauer des Satzteils 'Es gibt'. Wer wäre das 'Es', das gibt? Und was heißt es zu 'geben', was heißt 'Geben', was heißt 'Gabe'? Die Plausibilität der Mühe stammt aus der Annahme, dass das Sein nichts Seiendes 'ist', und insofern nicht ist, und dass die Zeit nicht Zeitliches 'ist' und insofern als Zeit unter Seiendem nicht vorkommt. Aber es gibt beide."

Gestatten wir uns ein Original-Zitat aus der Zeit nach der Kehre und die daran anschließenden Hinweis Dietmar Kampers:

"Die eigentliche Zeit ist die ihr dreifältig lichtendes Reichen einigende Nähe von Anwesen aus Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft. Sie hat den Menschen als solchen schon so erreicht, daß er nur Mensch sein kann, indem er innesteht im dreifachen Reichen und aussteht die es bestimmende verweigernd-vorenthaltende Nähe. Die Zeit ist kein Gemächte des Menschen, der Mensch ist kein Gemächte der Zeit. Es gibt hier kein Machen. Es gibt nur das Geben im Sinne des geannnten, den Zeit-Raum lichtenden Reichens."

Kamper führt dazu aus: "Lassen wir es genug sein. Denn es geht noch weiter. Heidegger ist zu klug, um beim einfachen zeigenden Sagen zu bleiben. Im folgenden Text hebt er - wie immer schon vorher - auf die 'Gleichzeitigkeit' von Anwesenheit und Abwesenheit, von Hoffnung und Enttäuschung, von Erinnerung und Vergessen, von Dar-Reichen und Vor-Enthalt, von Gabe und Entzug ab, um somit das sagende Denken seinerseits in die Schranken der Endlichkeit zu verweisen (Hervorhebungen, Verf.)."

IV. Noch einmal die Ausgänge, rückwärts

Kamper meint 1. Vermittlung sei nicht die Sache Heideggers gewesen. Er spricht von einer "auffallenden Schwäche in Diskussionen". Kamper unterstellt ihm, das Sagen als Substitut für das zu nehmen bzw. auszugeben, was gesagt wird. So gerate sein Denken - zumindest nach der Kehre - auf die Seite der Unmittelbarkeit: "Das Unsagbare hier und jetzt zu sagen (statt in Anspielung zu schweigen) wird immer mehr zu einer Geste, die zwischen Bescheidenheit und Anmaßung schillert."

2. meint Kamper Heidegger bleibe bei der Verzeitlichung der Räume einer Raumfigur treu: "Die Gegenwart muss erkämpft, die Zukunft prophezeit, die Vergangenheit erzählt werden - sonst gibt es sie nicht. Heidegger hat nur eine Sprechweise für alle Zeit; diese allerdings mischt Polemik und Prophetie und enthält sich der Anrede."

3. Hier kommt es zu einer Wiederholung, insofern mich Kamper in diesem 1987 publizierten Aufsatz - wie einleitend bemerkt - beeindruckt, weil er deutlich etwas vorwegnimmt, was die Biographen Heideggers - und auch eine interessierte Öffentlichkeit - nach der Veröffentlichung der "Schwarzen Hefte" umtreibt. Kamper attackiert Heidegger - wie wir schon lange wissen, zu Recht - im Hinblick auf seine unsägliche Haltung zum Nationalsozialismus:

"Was den Bemächtigungswahn angeht, so sollte man Heideggers Freiburger Rektorat von 1933 und seine 'Heil-Hiltler'-Zwischenrufe im Hörsaal nicht länger als Belege eine (verzeihlichen) 'faux-pas' ansehen, sondern in die Kontinuität seines Denkens stellen, was seitens der Gegner und Anhänger selten geschehen ist."

Kamper geht allerdings noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er sich zur Ereignishaftigkeit betimmter Ereignisse äußert:

"Von der Nichterzwingbarkeit des Nichterzwingbaren kann nur jemand lebenslänglich sprechen, der es versucht hat. Das Ereignis als Machwerk ist eine Versuchung, die auch für uns weiterhin naheliegt, heute näher denn je. Heideggers Bedenken der Technik als Gestell, als 'Vorlauf des Ereignisses' passt - bei aller gleichzeitig investierten Kritik - genau auf Virilios Vision des reinen Krieges und auf Michel Serres' erschütternde Einsicht, dass in Anbetracht des Schielens der Weltmächte nach dem Weltuntergang die Konsequenz zwingend sei, dass Hitler den zweiten Weltkrieg gewonnen habe."

4. gerät zu einem unüberhörbaren Appell Kampers. Er meint im letzten Absatz, wir bräuchten "Wächter über die Leere der Zeit". Und er fragt, ob es denn wohl ein Hören nach der Verfallenheit der Augen an den Weltuntergang als Bild gebe? Und auch Pathos ist ihm nicht fremd. Es schwingt in seiner letzten Frage unüberhörbar mit:

"Habe ich vor Augenzeugen gesprochen?"

Verständlich wird dieses Pathos, nachdem Kamper meint, der Alptraum der Ereignislosigkeit drohe immer heftiger umzuschlagen in die Stilisierung der Apokalypse als einer technisch herstellbaren: "So würde sich das Ereignis aller Ereignisse, das Ereignis schlechthin, das endgültige Ereignis entschleiern als selbstgemachtes 'Jüngstes Gericht' [...] Ich empfehle mit einem solchen Verdacht im Kopf, Heidegger - auszugsweise - noch einmal zu lesen. Die Augen könnten einem dann übergehen. Um das Ereignis ist es heller als die Sonne. Es gibt nur noch Lichtblicke und Blitzlichter."

Ich möchte abschließend Dietmar Kamper kurz vorstellen.

Ich versuche dies über die Besprechung seines letzten, erst 2012 veröffentlichten Buches: Traumbuch. Träumen als Einbildungskraft - in Anlehnung an den Rezensenten Roman Herzog. Wie bereits oben bemerkt, ist Dietmar Kamper 2001 gestorben. Roman Herzog beschreibt ihn als einen "Philosophen des Körpers und des Fühlens":

"Ausgerechnet er erkrankte und starb an Krebs. In der Zeit vor seinem Tod notierte er seine Gedanken und Träume - eine Auseinandersetzung mit dem Leben und Sterben. Die Publikation der Traumbeschreibungen, Gedichte und Aphorismen zwölf Jahre nach seinem Tod erweist sich als Glücksfall für den Leser, denn er kann nun Kontakt aufnehmen mit einer Art des Schreibens und Seins, die heute fast ausgestorben erscheint."

Dietmar Kamper wird von Roman Herzog als Philosoph gesehen, der "mit seinem Denken immer ein hohes Risiko einging, denn er suchte nach Zugängen zum Leben jenseits der einfachen, rationalen Antworten". Seine Krebserkrankung nahm einen schnellen Verlauf. Während der 16 Monate dieses Verlaufs schrieb Kamper an einem Buch und notierte vor allem seine Träume: "Dabei" - so Herzog - "lotete er das Körperliche an sich selbst aus, das er zu beschreiben suchte, immer unzulänglich, weil Worte nie hinreichen, um das zu beschreiben, was sich den Worten gerade entzieht."

Wie in der obigen kommentierten Zusammenfassung seines Aufsatzes aus dem Jahr 1987 belegt, betrachtet Kamper die Moderne offensichtlich als einen Prozess fortlaufender Rückschritte, die - in den Worten von Roman Herzog - "durch die Dominanz des Visuellen - der Abbildung und des Eingebildeten - einen Stillstand des Denkens produziere, eine Selbsteinmauerung. Der Körper werde dabei nur noch als Abfall betrachtet und eliminiert. Dagegen entwickelte Kamper eine Ästhetik der Anwesenheit, die der kulturvernichtenden Moderne zu Leibe rücke."

Das geht auch sehr viel konkreter und ist an diagnostische Prämissen gekoppelt. Kampers Denken "mit zerbrochenem Kopf" enthält dabei interessante Impressionen und durchaus auch Forderungen mit Appellcharakter:

  • Kamper registriert einerseits eine "übertriebene Sichtbarkeit" mit Blick auf eine "maßlose Bildproduktion". In der Folge erscheine auch der Körper nur noch als "Bild, als Idol, als Ikone, als Image und Zeichencode".
  • "Wenn er in diesem globalen Jederzeit und Überall-Spiel nicht mitmacht, wird er liquidiert."

Damit werde zwar nichts begriffen, wohl aber einer gesellschaftlichen Tendenz Ausdruck verliehen, in der die Liquidation des menschlichen Körpers eine abgemachte Sache sei: "Bildermachen als Körpertöten."

Dagegen setzt Kamper Forderungen nach Unsichtbarkeit, nach Bildlosigkeit und Nicht-Abbildbarkeit des menschlichen Körpers:

"Was mir in Zeiten des entfernten Körpers immer unwahrscheinlicher und immer notwendiger vorkommt, ist die Berührung. Leben des Körpers heißt nichts anderes als Berührtwerden, als Berühren."

Wenn man darin geschult ist, die Prämissen der Luhmann'schen Lektion nachzuvollziehen und möglicherweise als Prämissen des eigenen Weltverständnisses (im Sinne der Unterscheiddung von System und Umwelt) zu akzeptieren, dann versteht man die Logik der radikalen Trennung von Wahrnehmung (als innerpsychisches, gedankliches Prozessieren) auf der einen Seite und Kommunikation (als den modus operandi sozialer Systeme) auf der anderen Seite. Dietmar Kamper findet kraftvolle und nachvollziehbare Bilder für diese beiden Seiten:

"Sponte sua - aus sich heraus. Ob es das gibt? Man findet die Quelle nicht, es sei denn man sprudelt. Das trägt hinaus. Und wenn es aufhört, ist es, wie wenn nichts gewesen wäre."

Sponte sua - aus sich heraus, in sich. Das Sprudeln als gedankliche Exzesse, Eruptionen gleich. Aber folgenlos mit Blick auf das, was wir soziale Systeme nennen. Den Schritt hinaus, das heißt über sich selbst hinaus, beginnt da, wo Kamper festhält:

"Zumeist gibt es ein Sprechenkönnen, ganz vorne, in der Schnauze, frei von der Leber weg. Die alte Melancholie dämmert, wenn das Schreiben mit nachtwandlerischer Sicherheit aufkommt. Dann steht die Reihe: Horizont der Träume - verrückte Wahrnehmung - planendes Bewusstsein. Ja es sind drei, und in dieser Reihenfolge. von der anderen Seite her fährt man sich fest, sofort. Man kommt nicht einmal aus dem Plan heraus. Unordnung entsteht, sobald das Bewusstsein Raum schaffen will. Man kann es nur träumend, sponte sua, aus sich heraus."

Dass wir nun teilhaben können, entspricht wohl Dietmar Kampers Absichten. Erst mit der Edition seines Traumbuchs entsteht das, was wir als Ereignis im massenmedialen Rauschen begreifen können. Und inwieweit dieses Ereignis in der Lage ist einen Marker zu setzen in einer "maschinengemachten Virtualität", liegt wohl an uns, den potentiellen Lesern:

"Denn nichts hatte der Autor (Kamper, Verf.) derart früh und scharf kritisiert, als dass die aufkommende Virtualität alle Lebensbereiche des Menschen erfassen und jegliche Wirklichkeit in ihnen auslöschen werde. In den elf Jahren seit Kampers Tod ist dieser von ihm bezeichnet Irrweg, diese Erstarrung der Welt rasend vorangeschritten."

Und natürlich schließe ich mich Roman Herzogs guten Wünschen an, dass neugierige Menschen sich diesem Büchlein widmen und versuchen, "Tuchfühlung aufzunehmen mit einer Welt vor der virtuellen Transformation. Das ganze Potential dieses Denkens liegt vor uns, um uns mitzureißen und eine Ahnung zu bekommen, vielleicht sogar einen Zugang, zu einem Körper-Denken, das womöglich genau den Leerlauf transzendieren kann, der heute maßgeblich ist."

Es ist aber wohl eher ein frommer Wunsch, dass man nicht erst sterben muss, um durch Hinterlassenschaft und Vermächtnis etwas auszusprechen, was sich die Lebenden verbieten. Jedenfalls habe ich heute zwei Exemplare von Dietmar Kampers Traumbuch für die Uni-Bibliothek bestellt!

 

 

 

 

 

 

 

   
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