Hildes Geschichte - Franz kehrt heim
Franz war um die Mittagszeit in St. Pölten. Nachdem er sich in seiner Kaserne gemeldet hatte und seinem Urlaubsgesuch stattgegeben wurde, machte er sich auf den Weg nach Mistelbach. Er hoffte, dass seine Postkarte noch vor ihm angekommen war, denn an einer „Überraschung“ war ihm nicht gelegen. Zwar wuchs die Freude über ein Wiedersehen schier ins Maßlose, hatte er doch seinen Sohn zuletzt vor einem halben Jahr gesehen als er gerade eben zu laufen begann. Doch Franz war durchaus verunsichert. Und wenn er heute seine Gerda in die Arme schließen würde, dann war es an ihm, den Irrsinn der letzten Tage und Wochen in seinem Herzen zu bewahren und zu verschließen. Aber darin hatte Franz ja durchaus eine gewisse Routine, um nicht zu sagen Meisterschaft entwickelt. Er bewahrte und schützte seine Familie vor all dem Wahnsinn, den der Krieg ihn hatte erfahren lassen. Ja, die „Meisterschaft“ beruhte auf einer wirksamen Abschattung all jeder dunklen Flecken, die nun einmal mit Krieg, Besatzung und Partisanenaktivitäten auf dem Balkan unabdingbar verbunden waren. Und warum sollte ihn jetzt das gerade Gegenteil belasten? Was er in Neuenahr mit Hilde erlebt hatte, irritierte ihn zwar selbst in ungekannter Weise, aber es war keineswegs dazu angetan, um hier in Mistelbach die Welt auf den Kopf zu stellen.
So vorbereitet und innerlich gefestigt betrat Franz am späten Nachmittag des 10. September 1941 sein Haus in Mistelbach. Und die Freude, ja der Überschwang und die Herzlichkeit, mit der er empfangen wurde, öffnete die Welt zu jeder Sehnsuchtswelt, wie sie nur Soldaten und Soldatenfrauen überhaupt jemals in ihren Herzen tragen können. Franz gelang es kaum sich all der Liebkosungen und der überbordenden Freude zu erwehren, mit der ihn seine Gerda geradezu überschüttete. Sie hatten den Abend, die Nacht und den nächsten Morgen, bevor Franz um die Mittagszeit zurück in die Kaserne musste. Mit brennender Geduld, dem Hunger der lange Darbenden und dem Durst der lange Dürstenden ließen Franz und Gerda die ganze Welt der Liebenden zu und saßen am Morgen wie die Kinder vor einer langen, langen Landverschickung mit bangen Herzen und schmerzenden Sorgen zusammen. Franz nahm Gert auf seinen Schoß und ließ ihn hüpfen bis er vor Lust kreischte; (13) er herzte seinen Sohn, setzte ihn auf die Tischkante, hielt ihn, sah ihn lange an, strich ihm über die blonden Locken, vertrieb seine Tränen und wollte dem Wüten der ganzen Welt Einhalt gebieten. Er erklärte Gerda alles und dennoch wenig genug, was seinen Weg – soweit er vorhersehbar war – anging. Ähnlich wie Hilde beschwichtigte er sie in ihrer ängstlichen und sorgenvollen Haltung. Er versprach ihr, wenn alles gut gehe, spätestens zum Osterfest im kommenden Jahr wiederzukommen, wenn es denn überhaupt so lange dauere. Dabei kamen ihm die am Vorabend während des Essens gehörten Meldungen über die großen Erfolge an der Ostfront durchaus zupass. Konnte er Gerda doch so immerhin die Hoffnung geben, der Russe stehe höchstwahrscheinlich kurz vor der Kapitulation und vielleicht sei alles schon zu Ende, bevor er zu seiner Division stoße. Ein bisschen glaubte und hoffte Franz tatsächlich, dass es so kommen könnte. Der Abschied war auf diese Weise ein wenig mehr von dieser Hoffnung gemildert als dass ihm nur der reine Schmerz der Verlorenen ohne Hoffnung anhaftete.