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Hildes Geschichte - Gebenedeit unter den Frauen im Wüten der ganzen Welt

Im September 1941 widerfuhr Hilde das große Glück, sich einem Mann hinzugeben, in dessen außerordentlicher Zurückhaltung und Sanftmut sich auch die Erfahrung eines Mannes offenbarte, der zu unterscheiden gelernt hatte zwischen der überlegenen und abgeklärten Art erfahrener Frauen, die selbst das Heft des Handelns in der Hand behielten – und der Ängstlichkeit unerfahrener Frauen, deren Wohl und Wehe in der Hand oft rücksichtloser, nur an der eigenen Lust interessierter Männer lag.

Vom Wohl und Wehe in einem so unendlich viel größeren Zusammenhang als der „kleinen Lust“ hatte auch Franz Streit an diesem Nachmittag des 9. September 1941 nur eine weit entfernte, dumpfe Vorstellung. So überwogen das Wohl und das Wohlergehen in diesen wenigen Stunden über alle Maßen. Die jämmerlichen und klagenden Gespenster der Angst, der Scham und der Schuld hatten sich in die dunklen Ecken des Zimmers verzogen, ohne jedoch ganz zu verschwinden.

Und während Hilde schluchzend in Franz‘ Armen lag, ergossen sich die Gedanken beider in weit auseinander driftende Welten. Und beide hatten keine Ahnung, was den anderen umtrieb. Hilde überkam zeitweise – und je näher die Stunde des Abschieds heranrückte umso stärker – eine überbordende Not, in der sich die Gespenster wieder hervorwagten und gleichzeitig die Angst und die Sorge um Franz, die ihr schon jetzt schier den Atem nahmen.

Franzens Gedanken hingegen schossen wie Granatsplitter durch eine Welt, die ihm aus den Händen geglitten war. Alle Lust, die Ewigkeit will, war jetzt schon bedroht vom bevorstehenden Abschied, und sie war beladen mit der Schuld der Lüge und der Untreue. Sie begann schon jetzt ihren Preis einzufordern. Der Schmerz des Abschieds konnte nicht gemildert werden durch die Gewissheit des Wiedersehens, eines unbefangenen Wiedersehens voller Freude und Hoffnung. Die Hoffnung, in die sich Hilde hinein bewegen würde und die man gemeinhin mit dem Attribut der „guten“ Hoffnung belegte, hätte des legitimen und tatkräftigen männlichen Gegenübers bedurft.

Aber diese Damoklesschwerter schwebten an diesem 9. September 1941 noch weit entfernt und hoch über Hilde und Franz. Und dennoch waren die beiden die letzte Stunde ihres Beisammenseins schon nicht mehr alleine, und nur noch zu zweit. Hilde, die nichts wusste von der Biologie der Zeugung, von Ei- und Samenzelle – und die vor allem nichts wissen musste von der unendlichen Leichtigkeit, mit der neues Leben zu entstehen vermochte, und die nichts wissen konnte von der unendlichen Not, mit der viele Paare um die Segnungen einer Schwangerschaft rangen; diese Hilde hatte an diesem Nachmittag des 9. September 1941 gegen 17.00 Uhr noch keine Ahnung davon, dass sie fortan gebenedeit unter den Weibern sein würde und sich schon guter Hoffnung auf den Weg von Remagen nach Neuenahr machen würde.

Aber Hilde spürte mit einem Mal in ihrer Seele und in ihrem Körper das Wüten der ganzen Welt. Von Weinkrämpfen geschüttelt klammerte sie sich an Franz und ahnte dumpf, dass all ihre Hoffnungen sie trügen würden. Erst nachdem ihr Franz das letzte Glas Wein einflößt hatte, sie hielt, sie drückte und liebekoste, wurde sie ruhiger. Sie nahm den Zuber vom Waschtisch, goss die Waschschüssel voll und wusch sich das Blut von den Oberschenkeln, sie wusch ihre Scham und dankte Franz für seine Liebe.

Franz zerriss es Herz und Seele gleichermaßen. Er wollte leben, er wollte da sein für Hilde. Ihm gingen Gert und Gerda durch den Kopf, vor allem Gerda, die das sicherlich nicht verdient hatte. Er dachte an seinen Kameraden Karl, der nicht nur eine Verätzung der Augen erlitten hatte, sondern dem ein Granatsplitter das rechte Bein zertrümmert hatte. Manchmal ertappte er sich bei dem unerträglichen Gedanken, ja bei dem Wunsch, an seiner Stelle zu sein, dass der Krieg und das Töten endlich vorbei sein mochten und das Leben beginnen könnte.

Den Schreiber dieser Zeilen lässt es frösteln und frieren und es gebricht ihm an Vorstellungsvermögen, wie die letzte Stunde des Zusammenseins von Franz und Hilde an diesem 9. September 1941 verronnen sein mag. Franz war wohl abschiedserprobt. Viele Male war er aufgebrochen in eine ungewisse Zukunft. Aber niemals hatten ihn dabei eine solche innere Not und ungestillte Sehnsucht begleitet.

Er sah seine Hilde nun mit anderen Augen, hatte er sie doch zur Frau gemacht – in einem ganz und gar unabwendbaren Vollzug, der sie beide für etwas Größeres einzunehmen schien.

Auch Franz spürte den Unterschied zu all den leichtfertigen und schon vergessenen Liebeleien oder gar Liebschaften, zu denen es kaum noch Namen oder Gesichter gab. Er sah seine Hilde an und sah dabei in das trotzige, tapfere, schöne, merkwürdig gereifte Gesicht einer Frau, deren Jugend mit einem Mal zu Ende war.

Er würde zurückkommen – bei allem was ihm heilig war.

Hilde schickte sich. Was ihr künftiges Leben prägen würde, deutete sich in ihrem Mienenspiel und ihrer Körpersprache schon an. Sie ordneten das Zimmer soweit es ihnen notwendig erschien. Franz packte seinen Seesack. Hilde kontrollierte ihre Siebensachen, legte die Fahrkarte obenauf. Dann verließen sie das Zimmer und unbemerkt die Pension. Auf den Straßen herrschte bereits reges Treiben und man sah viele Soldaten – und davon viele auch in weiblicher Begleitung. So reihten sich Franz und Hilde in den Strom ein, der wieder an den Zug der Lemminge erinnerte. In der kleinen Bahnhofshalle herrschte schon großes Gedränge und Franz entschloss sich, doch mit auf den Bahnsteig zu gehen. Hilde ging voraus und vergewisserte sich, dass dort niemand wartete, den sie kannte. Sie setzte sich weit links auf eine freie Bank, während Franz weiter rechts von ihr Platz nahm. Franz nahm aus seinem Seesack ein kleines flaches Päckchen und schob es in Hildes Richtung: „Darin ist ein Brief und ein kleines Geschenk, nimm es, denk an mich und sei stark – ich komme zurück!“ Franz sah Hilde an und konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Er stand auf und ging strammen Schrittes davon. In diesem Augenblick krallte sich Hilde mit ihren Nägeln in das Holz der alten Bank. Doch rein äußerlich verriet nichts den Schmerz und die Zerrissenheit, die alles mit sich in einen Strudel rissen, was ihrem Leben bislang Sinn und Richtung gegeben hatte. Erst als sie Franz auf der anderen Seite des Bahnsteigs erblickte, rannen ihr die Tränen über die Wangen, und sie hatte Mühe an sich zu halten. Allmählich füllte sich der Bahnsteig, und Hilde schleppte sich mit Mühe an das Ende des Zuges, dessen Lokomotive schon unter Dampf stand.

Auf der gegenüberliegenden, rückwärtigen Seite mochten wohl weit mehr als hundert, vielleicht gar zwei- oder dreihundert Soldaten mit Marschgepäck stehen und auf die Einfahrt des Zuges warten. Hilde vermied jeden weiteren Blick und stieg, wie schon am Morgen – ganz am Ende des Zuges in den letzten Waggon und setzte sich dort im Einstiegsbereich auf einen Notsitz.

Sie atmete zum ersten Mal tief und lange durch, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Hilde gingen ihre letzten Worte an Franz nicht mehr aus dem Kopf: „Franz, ich habe dich so lieb, so sehr, bitte komm zu mir zurück!“ An diesem Nachmittag und in den wenigen Wochen seit dem 15. August hatte sie die Liebe gefunden. Ihre Zerrissenheit ließ sie eine leuchtende Zukunft am Horizont in der aufgehenden Sonne erblicken, während sich tief im Westen die Sonne anschickte für lange Zeit unterzugehen. Der Klöppel, der die Glocke ihrer jungen Liebe zum Schwingen und Tönen brachte, würde zunehmend Disharmonien erzeugen und der am längsten anhaltende, tiefste Ton würde die Oberhand behalten.

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© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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