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Zur Beisetzung meines Schwiegervaters Leo Rothmund am 11.3.2010

Alle, die uns ihr Beileid bekunden und wir selbst stellen nach einem Leidensweg, wie ihn Leo auf sich nehmen musste, vor allem die „Erlösung" in den Vordergrund. Und das ist zweifellos angemessen! Warum erfahren manche Menschen das, was wir einen „gnadenvollen" Tod nennen, während andere einen nicht enden wollenden Leidensweg auf sich nehmen? Dass alles, was du, lieber Leo mit uns erfahren durftest und das alles was wir mit dir erfahren durften einen Sinn hat, darum soll es in der folgenden Totenrede gehen.

Lieber Leo,

du wunderst dich sicherlich, wie viele Menschen heute hierher gekommen sind, um dich auf deinem letzten Weg zu begleiten. Am 27. August 2006 – auf Claudias 50sten Geburtstag – haben dich einige der hier Versammelten zum letzten Mal in der Öffentlichkeit gesehen. Dort hast du deinen letzten Tanz getanzt. Damals warst du schon auf dem Weg, der am vergangenen Montag in dieser Welt für dich zu Ende gegangen ist. Das war ein langer, harter Weg.

Die letzten 31 Jahre dieses Weges sind wir gemeinsam gegangen. Nicht allein deshalb ist es mir eine besondere Ehre heute hier sprechen zu dürfen. Aus der Generation der „Väter" stehst du mir – abgesehen von meinen Eltern – am nächsten. Und das stand uns sicherlich nicht ins Stammbuch geschrieben, obwohl einige – ein bisschen auch ich selbst – der Auffassung sind, der liebe Gott habe dabei die Hand im Spiel gehabt. Hast du doch deine Lisa just an jenem 21. Februar 1952 geheiratet, an dem mich meine Mutter geboren hat. So war es mir immer ein Leichtes, dich auch zu Zeiten, als du noch unter Volldampf standest, daran zu erinnern, dass sich euer Hochzeitstag wieder einmal jährt – insgesamt 58 Mal, zuletzt vor knapp drei Wochen. Dass aus alldem in der Tat eine Bestimmung geworden ist, liegt halt daran, dass ihr mir, dem Jungen von der Ahr, die einzigartigste aller Moselperlen geschenkt habt. Ich habe mich aber mit Claudia revanchiert, indem wir dir und Lisa, Laura und Anne geschenkt haben, eure Enkelkinder, denen deine Liebe und deine ganze Fürsorge galt.

Du bist ja ein Bodenseeschwabe und da gilt ja ein bisschen auch die Devise: Nicht geschimpft ist schon gelobt genug. Wenn ich nun einige Stationen deines Weges nachzeichne und dies in einen tiefen Dank an dich kleide, dann geht es mir zu allerletzt um einen erschöpfenden Lebenslauf. Ein Lebenslauf – so kann man sagen – besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ich will mich auf einige wenige Wendepunkte beschränken, an denen in der Tat jeweils etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ohne diese Wendepunkte gäbe es diese Trauerfeier heute nicht und das ganze Feingewebe an Beziehungen, das in deiner Tochter und in deinen Enkeltöchtern wunderbare Gestalt angenommen hat, gäbe es nicht. Alle, die heute hier versammelt sind, kennen dich – haben dich gekannt. Jeder hat seine eigenen Erinnerungen, seine eigenen Geschichten mit dir. Und es ist ein Allgemeinplatz, dass wir solange weiterleben, wie wir in der Erinnerung der anderen lebendig sind.

• Wendepunkt 1: Du warst Soldat im 2.Weltkrieg. Davon hast du wenig erzählt. Aber mir hast du auf einer unserer Fahrten in deine geliebten Alpen erzählt, dass du 1944 im Hürtgenwald als Zugführer fast alle deine Kameraden durch kanadische Scharfschützen verloren hast. Im Visier eines dieser Scharfschützen hat dich pure Intuition – eine Ahnung – eine abrupte Körperwende vollziehen lassen, so dass nicht ein Kopfschuss dein damals gerade 20 Jahre währendes Leben beendete, sondern dieser Schuss deine rechte Schulter zertrümmerte.

• Du hast weitergelebt und der Junge, der bei Maybach den Maschinenbau von der Pike auf gelernt hat, hatte Ende der 40er Jahre das Maschinenbaustudium in Konstanz erfolgreich abgeschlossen. Er hatte seine Lektionen gelernt, kannte und beherrschte die Gesetze des Schwarzmarkts und hat so manchen Liter Moscht vermarktet, um Studium und Studentenleben zu finanzieren. Die Grundlagen für ein erfolgreiches Berufs- und Geschäftsleben waren gelegt. Der „Junge" vom See hatte Charme, er hatte Glück bei den Frauen, hatte den größten Stein im Brett bei seiner fast 80jährigen Zimmerwirtin, der Mimi, die ihn aus mancher Verlegenheit herausgeboxt hat. Es war die Mimi, die den Leo auf der Konstanzer Rheinbrücke, in Rufweite der Katzgasse, aus Polizeihand befreite, weil er sich – im leichten Alkoholnebel – nicht ausweisen konnte. Sie hatte sein Rufen: „Mimi, Mimi, komm und hol mich!" gehört und eilte mit wehendem Schlafrock ihrem Leo zu Hilfe.

• Wendpunkt 2: Am Bodensee ist es dir zu eng geworden. Und wo ließe es sich besser leben als in der Völkermühle am Rhein, besser gesagt, wo ließe sich besser leben, als in der einzigen Stadt an Rhein und Mosel! Da ist auch Platz für einen Bodenseeschwaben. Hier bist du heimisch geworden, ein Solitär geblieben, der aufgrund seiner Sprachfärbung auffiel und der auch zu gefallen wusste – du alter Schofsäckel! Wie du das Herz deiner Lisa erobert hast, ist Legende. Sie war ja eine viel umworbene Frau und vor allem auch schon eine gestandene Geschäftsfrau, während du mühsamst beruflich Fuß zu fassen suchtest. Aber dein Charme, dein Sprachwitz und deine unbändige Energie haben sie geradzu mit traumwandlerischer Sicherheit die richtige Wahl treffen lassen. Man darf an dieser Stelle natürlich deine legendären Qualitäten als Tänzer nicht unerwähnt lassen. Mit Lisas Liebe, mit ihrer Unterstützung ihrem Wohlwollen und ihrer Bewunderung ist die „Marke" Leo Rothmund zum Erfolgsmodell geworden: Leo, du bist ein Self-Made-Man, der mit einem Koffer und dem, was er auf dem Leibe trug, gestartet ist. Du hast es mit Fleiß und deiner unerschöpflich scheinenden Energie zu Wohlstand und Ansehen gebracht.

• Deine Lebensleistung nötigt nicht nur Respekt ab, sie erscheint nahezu unglaublich. Man kann das praktisch nur so erklären, dass du drei Arbeitsleben in deinem Leben vereint hast: Du warst planender Architekt, du warst in der Regel der Bauleiter der von dir geplanten Objekte und du warst dein eigener Sekretär. Deine Nächte hast du am Reißbrett verbracht, du hast die Gewerke ausgeschrieben, Bauanträge verfasst (an deiner eigenen zuletzt halbelektrischen Olympia); du hast vormittags und zwischendurch die Behördengänge und Verhandlungen mit Bauherren und den Handwerkern geführt, am Bau jedes Gewerk abgenommen. Du warst ein harter Hund und hoch geschätzt bei denen, die es nicht so dicke hatten. Wo hättest du da noch Zeit für so was „Unnützes" wie Schlaf hernehmen sollen. In deiner Hoch-Zeit sollen es nie mehr als 3 bis 4 Stunden gewesen sein. Als ich dich kennen lernte und das zwei-felhafte Vergnügen hatte, in Zürs oder sonstwo ein Zimmer mit dir zu teilen, war die Nacht um 4 zu Ende: Licht an, Akten raus. Wenn aber ein Schitag zu Ende war, dann warst du frisch und ich fertig wie ein Brötchen.

• Aber auch du fandest deine Grenzen; allerdings immer – solange dein Körper und dein Geist es zuließen – nach deinen Bedingungen; du warst zwar geborener Rechtshänder; und wer weiß, wie Tennis geht, der hat als mittelmäßig Begabter seine liebe Mühe. Du hast es mit links gemacht. Lange Jahre hast du dein Organisationstalent im Postsportverein deiner Tennismannschaft zur Verfügung gestellt. Deine besondere Liebe – sieht man einmal von Lisa ab – galt aber dem Schisport. Nur in knappster Form lässt sich andeuten, wie sehr diese Leidenschaft dir – auch gegen alle Vernunft – Lebenssinn und Lebensfreude bedeutete. Und ich muss an dieser Stelle auch gestehen, dass alle, die dich näher gekannt haben, fest davon überzeugt waren, dass dich die Berge irgendwann nicht mehr hergeben würden, dass dich ein „mort douce", ein süßer Tod heimholen würde. Du hast die Berge beben lassen. Dein Organisationstalent, dein Humor und deine Energie sind Legende und deine Schitouren legendär. Dort wo der Leo war, war das Leben (diesen Satz hat mir deine dir ein wenig ähnelnde Tochter Claudia in den Stift diktiert). Wer einmal im Auto oder auf der Schipiste mit dir unterwegs war, dem wird dies zeitlebens unvergessen bleiben. Der Tod in den Bergen war dir nicht vergönnt.

Es ist anders gekommen. Und dies gibt mir Gelegenheit auf etwas anderes hinzuweisen, als schlicht auf die Tatsache, dass du ein „Siegertyp" warst und Endlichkeit für dich ein Fremdwort war: Ich erinnere mich, dass du mich recht früh in väterlicher Haltung einmal darauf hingewiesen hast, dass du mir ein passables Pferd anbietest, aber reiten müsste ich den Gaul schon selbst. In den letzten Jahren, als sich deine Demenz mehr und mehr ausprägte, hatte ich häufig das Gefühl, dass du selbst auf einem toten Gaul sitzt und dich weigerst abzusteigen. Ich wollte dich überreden, mir deine Geschichten zu erzählen. Ich wollte sie aufschreiben und vor allem deinen Enkeltöchtern erhalten. Wir haben angefangen ein Album zu gestalten – vor sechs oder sieben Jahren. Wir haben dann zunehmend begriffen, dass sich deine Welt gleicherma-ßen verdichtet und reduziert. 10 oder 12 Fotos haben ausgereicht den Horizont und den Ozean eines ganzen Lebens zu vermessen. 2003 ist am Bodensee an der Birnau – das war unser beider Abschiedsreise an den See – bei herrlichem Wetter ein Foto vor der Birnau entstanden. Durch dieses Foto und die besagten 10 bis 12 Fotos bist du eingetaucht in deine eigene Welt, in den ungeheuren Kosmos deiner ganzen Lebensgeschichte, den wir nur in Facetten erahnen können, aber an dem wir alle mehr oder weniger teilhaben.

Ich möchte diese Trauerrede abschließen mit einem ganz besonderen Dank, der einen andern Leo zeigt. Ich danke dir Leo für die Begegnungen, die wir alle – Lisa, Claudia, Laura, Anne, Biene und ich in den letzten Jahren, Monaten, Wochen und Tagen mit dir noch haben durften. Aber ich danke auch Lisa, meiner Schwiegermutter, Claudia, meiner Moselperle, Laura und Anne, unseren unvergleichlichen Töchtern – und natürlich Biene, die uns alle auch in Hängepartien immer wieder motivierte, Kraft und Zuversicht in Gottes Natur zu suchen und zu finden. In diesen Dank sind so viele andere einzuschließen, die einfach da sind, im Gespräch, im gemeinsamen Wandern, Essen und Trinken. Namentlich erwähnen will ich aber Kathrin, Marlena und ganz besonders Stella, die Leo in den letzten drei Jahren mit gepflegt haben. Noch ist Deutschland nicht verloren – dank Polen.

Die letzten Bemerkungen entnehme ich dem Buch, das nun leider nicht mehr zu deinen Lebzeiten erscheint, und in dem ich u.a. auch begonnen habe, zu begreifen und zu verarbeiten, was der Weg in die Demenz und in die Hilflosigkeit für dich und für uns alle bedeutet hat. Eine große Hilfe war und ist mir dabei die kleine Schrift „Mut zur Endlichkeit  – Sterben in einer Gesellschaft der Sieger" von Fulbert Steffensky, auf den ich mich im Folgenden immer wieder beziehe.

Lieber Leo, da ich dieses Kapitel, aus dem ich jetzt vorlese, vor rund einem halben Jahr geschrieben habe, liest es sich so, als wenn du noch am leben wärest. Aber du wirst es auf deine Weise verstehen. Ich zitiere jetzt aus diesem Kapitel:

„Mein eigener Vater starb innerhalb einer Woche an einem Herzinfarkt mit 65 Jahren, meine Mutter führte ein halbes Jahr einen harten Abwehrkampf gegen Gevatter Hein, bevor sie ihm im Alter von 79 Jahren folgte. Das alles war schwer zu ertragen, aber es sind naturgemäß die vorletzten Entwicklungsaufgaben, denen wir uns zu stellen haben. Meine Schwiegermutter Lisa erfreut sich mit 86 Jahren einer guten Gesundheit und einer beeindruckenden geistigen Frische. Hingegen fristet mein Schwiegervater Leo ein elendes Dasein, dem vor drei Jahren die Pflegestufe III attestiert wurde. Das Elende seines Daseins liegt hier primär im Auge des Beobachters, des beobachtenden Schwiegersohns. Die Vorsorgevollmacht liegt in Händen seiner Tochter und über eine Patientenverfügung hat er selbst lebensverlängernde intensivmedizinische Maßnahmen ausgeschlossen. Wir pflegen – wie oben angedeutet – zu Hause. Im Essen und Trinken findet er immer noch Genuss. Auch wenn er dazu selbst in keiner Weise mehr in der Lage ist, steht sein Lebenswille für mich außer Frage. Alle körperliche Zuwendung, alles Drücken uns Schmusen fällt, wie Regen in der Wüste, auf überaus bedürftigen und dankbaren Boden. Und seine Mimik, Gestik und sein Augenspiel lassen keine Zweifel an seinem Wohlbehagen. Sie sagen uns: Alles ist gut, hier bin ich wohl, geborgen und aufgehoben.

Fulbert Steffensky entwickelt seine Gedanken um eine schlichte und gleichwohl fundamentale Erfahrung: ‚Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen.' Mit Fulbert Steffensky nähere ich mich einem theologisch begründeten Gnadenbegriff, mit dem er uns nahe legt, Gnade zu denken, bedeute zu erkennen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmache: ‚Alte Menschen, dauerhaft Kranke sind wenig tauglich und verwendbar. Sie können sich nicht durch sich selbst rechtfertigen, nicht durch ihre Arbeit, durch ihre Intelligenz und ihren Witz. Sie sind, weil sie sind. Sie sind nicht, weil sie etwas leisten.' Auch Kinder – betont Steffensky – seien zunächst einmal nicht durch ihre Funktion für die Gesellschaft gerechtfertigt. Aber sie seien immerhin – wie Zyniker sagen – eine ‚Investition für die Zukunft'.

Ich bedenke Fulbert Steffenskys Auffassung, dass die Bedürftigkeit den Grundzug aller Humanität ausmache. Und ich kann der Idee folgen, dass ein Wesen umso bedürftiger sei, je geistiger es ist: ‚Um so mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke'. Den Mittelpunkt seiner Argumentation bildet schließlich eine Idee, die ich als die letzte Entwicklungsaufgabe verstehen möchte, die uns möglicherweise allen gestellt ist: ‚Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selber rechtfertigen; wissen, das es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen...' Und zu diesen Menschen gehörst ganz ohne jeden Zweifel du, mein lieber Leo!

Fulbert Steffensky spricht von einem ‚merkwürdigen neuen Leiden', das sich in einer ‚überhöhten Erwartung an das Leben und der Menschen an sich selber' ausdrücke. Der Katalog, den er auflistet, kommt uns allen vertraut vor: ‚Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt und glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr scheitern. So ist das Leben nicht.' Nein, so ist das Leben nicht!

Könnten wir doch aus der Einsicht in die wunderbaren Gedanken Fulbert Steffenskys jene Bescheidenheit gewinnen, die uns das Leben in vollen Zügen genießen lässt, und sei es noch so begrenzt. Zeigen uns nicht eben genau diese Grundhaltung so viele kranke, beeinträchtige und behinderte Menschen. Gnade denken heißt mit den Worten Steffenskys, den Mut zum fragmentarischen Handeln zu finden und so sagt er wörtlich: ‚Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu ver-achten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist.'

Steffensky nimmt auf Paulus Bezug und stellt mit ihm fest: ‚Der Mensch ist, weil er sich verdankt.' Damit spricht Fulbert Steffensky in seiner kleinen Schrift ein Letztes an, das mich zutiefst angerührt hat und zu einem Grundmotiv meines Lebens zurückführt, und das ich eben auch Leo verdanke: ‚Die große Grundfähigkeit des Lebens ist der Dank. Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben.' Und ich möchte an dieser Stelle für mich selbst hinzufügen: Für mein überreiches Leben danke ich, konkret, weil ich mich selbst so (über)lebensnotwendig verdanke: der ungewöhnlichen Liebe meiner Eltern, der Liebe meiner Frau und meiner Kinder, der Aufmerksamkeit und Wertschätzung die mir Leo in all den Jah-ren unseres gemeinsamen Weges entgegengebracht hat. In diesem Sinne möchte ich das letzte Wort Fulbert Steffensky lassen:

Ich zitiere ihn ein letztes Mal: ‚Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich – das ist jetzt Fulbert Steffensky – erzähle eine persönliche Geschichte: Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau zehn Jahre vor ihrem Tod erlebt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens.'

Danke Leo!

Was mögen die Müllmänner denken

(dieses Gedicht findet ihr - neben vielen anderen - in der "Mohnfrau" - demnächst als PDF unter "Eigene und fremde Bücher")

 

Was mögen die Müllmänner denken,
Wenn die Tonnen vor Windeln bersten?
Um Deutschland scheint es bestens bestellt
Es poppt sich in eine neue Kinderwelt?

Kämen sie auf die Idee, genauer hinzuschauen,
Dann würden sie merken –
Das müssen recht große Kinder sein,
High-Tech-bewindelt
Mit 2-Liter-Fassungsvermögen.

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder"
Geht an der Sache vorbei:
Kinder wachsen hinein in die Welt
Und in die Welt der Sprache.

Die großen Kinder hingegen
Stürzen hinaus
Und hinein in den Alptraum,
„Die Krankheit zum Tod".

Wir fallen mit ihnen
– Noch nicht so ganz,
Wenn wir flechten
Aus Windeln den Ehrenkranz.

Was mögen die Müllmänner denken

(Dieser Beitrag ist eine Auskopplung aus meinem Buch: Die Mohnfrau, Koblenz 2010. Bibliografische Hin- und Nachweise könnt ihr euch demnächst unter "Eigene und fremde Bücher" verfügbar machen. Dort steht auch "Die Mohnfrau" als PDF zur Verfügung.)

 

„Auf das lange Schweigen folgt das dauernde Gerede." So resümiert Iris Radisch unter dem Titel „Metaphysik des Tumors" in der ZEIT vom 17.9.09 die Flut von Büchern über Krebs und Tod. Sie beantwortet die Frage, ob wir eine „literarische Sterbebegleitung" brauchen in der Folge dann aber sehr differenziert und endet mit der These, dass sich im Erscheinen der vielen neuen Sterbebücher ein „neuer Existenzialismus" ausdrücke: „Dieser Existenzialismus ist wie der Tod – zu nichts weiter nutze. Außer vielleicht dazu, uns demütig zu machen. Und zu heilen von dem Wahn Herr im eigenen Haus zu sein."

Mit dem Tod ist es offensichtlich wie mit der Liebe – jedermann sollte sich der Illusion entledigen, Herr im eigenen Haus zu sein. Iris Radisch geht in ihrem Beitrag u.a. auch auf das Buch des Spiegel-Reporters Jürgen Leinemann (Das Leben ist der Ernstfall, Hamburg 2009) ein und würdigt dessen autobiografischen Bericht: „Neben einer sehr detailreichen Schilderung einer sehr komplizierten Krankengeschichte, die an keiner Krankenhauszimmernummer, keiner Röntgenaufnahme, keinem Narbengewebe achtlos vorbeigeht, ist dieses Buch der redliche Versuch, Bilanz zu ziehen und die Familie schriftlich mit Lob und Liebe zu versorgen."

Wer morgens früh durch sein eigenes Dorf fährt, wird in der Regel die zur Abfuhr bereitstehenden Mülltonnen kaum beachten. Genau so wenig, wie wir uns Gedanken darüber machen, wie die unvermeidbaren Aus- und Absonderungen unseres Stoffwechsels über raffiniert designte Kloschüsseln zu den Orten der Klärung und Wiederverwertung gelangen, so wenig Aufmerksamkeit widmen wir in der Regel den Inhalten unserer Mülltonnen.

Irgendwann im Frühjahr 2009 auf dem Weg zum Haus meiner Schwiegereltern – ein Fußweg von lediglich 5 Minuten – fielen mir einige der zur Abfuhr bereitstehenden Mülltonnen durch eine mir bestens vertraute Besonderheit auf. Sie enthielten so viele Windeln und Pflegeutensilien, dass ihre Deckel offensichtlich auch mit allergrößter Anstrengung nicht zu schließen waren. So wie Babywäsche, Schnuller und Spielsachen – an Leinen über Hauseingänge gespannt – häufig die frohe Botschaft vom Nachwuchs kundtun, so mögen Windeln dies auf andere Weise signalisieren; und wem diese Tonnen unverhofft und massenhaft begegnen, der mag den Eindruck gewinnen, auch in Deutschland sei – ähnlich wie Frankreich – eine neue Baby-Boomer-Generation am Werke. Wer dann allerdings genauer hinschaut und nicht vorschnell der Illusion erliegt, all diese Häuser seien von Mehrlingsgeburten gesegnet, wird sich zumindest wundern über Ausmaß und Erscheinungsform dieser Windelwucherungen. Auch wenn diese, im verzweifelten Bemühen um Raumersparnis, sorgfältig verdichtet und geschichtet werden, kommen sie irgendwann dem Deckel der Tonne in die Quere. So viele und so große, immer noch Windeln bekackende Babys kann es gar nicht geben. Und in der Tat bringen

• der medizinische Fortschritt, verbunden mit einem beständigen Anstieg der Lebenserwartung,
• eine gesündere Ernährung und Lebensweise in den Speckgürteln der zivilisierten Welt
• und eine nur zögerlich einsetzende Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens

Formen des Alters und des Alterns hervor, die eine Zunahme übergroßer, voll dementer Riesenbabys zur Folge haben. Dies entspricht zunächst einmal einer schlichten Beschreibung von Tatsachen.

Mein eigener Schwiegervater, der ein dionysischer Tatmensch war, der drei klassische Arbeitsleben in einem vereint hat, der sich in seiner Hochzeit mit fortgesetztem Schlafentzug, Nikotin- und Medikamentenmissbrauch traktierte und der dennoch zu leben verstand, der in nächtlichen Arbeitsorgien sich freisetzte für seine verrückten und abenteuerlichen Skitouren, der keine Fete ausließ und als Rechts-auf-Links-Umschüler (Durchschuss der rechten Schulter in den letzten Kriegsmonaten) kein Tennismatch ungespielt ließ, und den wir als Hypertoniker wie Hypochonder gleichermaßen immer in den Alpen auf einer seiner Skitouren einen gnädigen Tod suchen und finden sahen, dieser übergroße und verrückte Workaholic degeneriert seit 6 Jahren zu einem hilflosen Riesenbaby, das innerhalb weniger Tage ohne fremde Hilfe verdursten, verhungern und verwahrlosen würde.

Der „neue Existenzialismus", von dem Iris Radisch spricht, überrascht uns in der eigenen Familie und malt das drohende Menetekel an die Wand – ein Menetekel, dem wir sicherlich dann nicht entgehen, wenn uns die degenerativen Prozesse eines geistigen und körperlichen Verfalls in ihrer stürmischen Dynamik – wie sie bei Leo, meinem Schwiegervater, irreversibel einsetzten – plattwalzen.

Vor nahezu 40 Jahren – ich habe dies in „Ich sehe was, was du nicht siehst!? Komm in den totgesagten Park und schau" (Koblenz, 2002) beschrieben – trieb uns die Frage um, ob es eine Alternative zum bürgerlichen Familienmodell gebe. In meiner Einleitung II belehre ich mich in gewisser Weise eines Besseren, da wir alle nicht hinausgewachsen sind über die unvergleichlichen Bindungskräfte und -qualitäten, die sich offensichtlich nur in familiären Kontexten begründen und bewähren. Und dennoch lockt, reizt und fordert uns der eigene Übergang ins – hoffentlich – Fürsorgliche Finale (Detlef Klöckner) zu Gestaltungsphantasien heraus. Es ist und bleibt spannend, und ich bin gespannt, wer mir unter welchen Umständen den Arsch und das Gebiss putzen wird, und wer meine alte, nach Berührung und Resonanz heischende Hand halten wird.

Um Iris Radischs ambivalente Reaktion auf die oben erwähnte Textflut abschließend im Hinblick auf ihre Notwendigkeit zu kommentieren, möchte ich anmerken, dass ich ihrem Fazit zustimme. Die Textflut wäre aber um einiges schlanker und gewichtiger, wenn – wie Iris Radisch berichtet – der „eine Journalist seinen Vater nicht nur in Windeln porträtieren würde", und „der nächste die privaten Fotos seiner krebskranken Mutter nicht nur an die Zeitungsredaktionen weiterreichen würde", sondern wenn wir unser Heil in einer stärkeren aktiven und tätigen Anteilnahme an den Pflege- und Sterbeprozessen unserer Eltern suchen würden (vielleicht haben die beiden ja beides getan).

In der Flut der Schriften war mir Fulbert Steffenskys Mut zur Endlichkeit – Sterben in einer Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) eine Hilfe:

„Es könnte sein, dass gerade die Hochleistungsmedizin, wenn sie einmal in Gang gebracht ist, ein Sterben in Würde verhindert." Fulbert Steffenskys fulminante Schrift liegt quer zu all den in meinem Büchlein angesprochenen Themenfeldern. Seine Kernthese stellt aber vorrangig die Frage, ob im Jugendwahn und Gesundheitszwang nicht auch ein Stück geheimer Gewalt liege, die uns möglicherweise daran hindere, dem Kranken seine Krankheit zu lassen und sich als Gesunder mit der Krankheit des anderen abzufinden. Er zitiert Udo Krolzik, den Direktor des Johanneswerkes in Bielefeld mit seiner Auffassung, dass erst die moderne Medizin mit ihren Methoden der künstlichen Ernährung aus einer qualvollen Art zu sterben eine qualvolle Art zu leben gemacht habe.
Mein Vater starb mit 65 Jahren innerhalb einer Woche an einem Herzinfarkt, meine Mutter führte ein halbes Jahr einen harten Abwehrkampf gegen Gevatter Hein, die letzten drei Tage im Standby-Modus einer extrem reduzierten Schnappatmung mit zuletzt 1-2 Atemzügen pro Minute. Das alles war schwer zu ertragen, aber es sind naturgemäß die vorletzten Entwicklungsaufgaben, denen wir uns zu stellen haben. Meine Schwiegermutter erfreut sich mit 86 Jahren einer guten Gesundheit im Sinne des im Rheinland vertrauten frommen Wunsches: Oben licht und unten dicht. Hingegen fristet mein Schwiegervater ein elendes Dasein, dem vor drei Jahren die Pflegestufe III attestiert wurde.

Das Elende seines Daseins liegt hier allerdings primär im Auge des Beobachters, des beobachtenden Schwiegersohns. Die Vorsorgevollmacht liegt in Händen seiner Tochter und über eine Patientenverfügung hat er selbst lebensverlängernde intensivmedizinische Interventionen ausgeschlossen. Wir pflegen – wie oben angedeutet – zu Hause. Sein Lebenswille ist eindeutig indiziert über regelmäßiges Essen und Trinken. Auch wenn er dazu selbst in keiner Weise in der Lage ist, steht sein Lebenswille für mich außer Frage. Alle körperliche Zuwendung, alles Drücken, Schmusen und Küssen fällt, wie Regen in der Wüste, auf überaus bedürftigen, aber auch fruchtbaren Boden. Und seine Mimik und Gestik lassen keine Zweifel an seinem Wohlbehagen. Sie sagen uns: Alles ist gut, hier bin ich wohl, hier fühle ich mich geborgen und aufgehoben.

Fulbert Steffensky zentriert seine Gedanken um eine triviale und gleichwohl fundamentale Erfahrung: „Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen." Mit Fulbert Steffensky nähere ich mich einem theologisch begründeten Gnadenbegriff, mit dem er uns nahelegt, Gnade zu denken bedeute zu erkennen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmache: „Alte Menschen, dauerhaft Kranke sind wenig tauglich und verwendbar. Sie können sich nicht durch sich selbst rechtfertigen, nicht durch ihre Arbeit, durch ihre Intelligenz und ihren Witz. Sie sind, weil sie sind. Sie sind nicht, weil sie etwas leisten." Auch Kinder – betont Steffensky – seien zunächst einmal nicht durch ihre Funktion für die Gesellschaft gerechtfertigt. Aber sie seien immerhin – wie Zyniker sagen – eine „Investition für die Zukunft".

Ich bedenke Fulbert Steffenskys Auffassung, dass die Bedürftigkeit den Grundzug aller Humanität ausmache. Und ich kann der Idee folgen, dass ein Wesen umso bedürftiger sei, je geistiger es ist: „Umso mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke." (Ja, da wird doch auch irgendwie verständlich, warum der ehemalige Benediktinermönch Steffensky, Bruder Fulbert, zum Protestanten wird, mit Dorothee Sölle eine Familie gründet und ein gottgefälliges Leben anstrebt.) Den Fokus seiner Argumentation bildet schließlich eine Idee, die ich als die letzte Entwicklungsaufgabe verstehen möchte, die uns möglicherweise gestellt ist: „Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selber rechtfertigen; wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen [...]."

Vor einigen Monaten habe ich mich im Fitness- und Gesundheitscenter Dany angemeldet und verrichte dort meine gesundheitsfördernden anthropotechnischen Übungen. Ich denke über Motive nach. Am 21. Februar 2010 ist mein 58. Geburtstag. Manfred Lütz (München 2007) hat mir vor Jahren – wie auch vielen anderen – die Frage gestellt: „Sind Sie gerade im Moment gesund?" Und das auch möglicherweise noch im Sinne der Definition der WHO, wonach sich vollständige Gesundheit aus einem umfassenden bio-psycho-sozialen Wohlbefinden zusammensetzt. Menschen, die sich in dieser Weise gesund fühlen, erfahren dies in der Tat als systemisch begründetes, will sagen: intensives wechselwirksames körperlich-seelisch-geistiges Wohlbefinden. Im Großen und Ganzen, Summa summarum und cum grano salis gehöre ich wohl mit meinen fast 58 Jahren zu einer verschwindenden Minderheit von Menschen, die sich in der beschriebenen Weise für gesund halten (dürfen). Vielleicht ist mein gesamtes Leben der lebendige Ausdruck eines pfleglichen und achtsamen Umgangs mit mir selbst. Wäre ich im Sinne einer christlichen Grundorientierung ein gläubiger Mensch, würde Fulbert Steffenskys Idee vielleicht auf mich zutreffen, dass „wer an Gott glaubt, nicht Gott zu sein und Gott zu spielen braucht. Er muss nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste sein."

Ich frage mich, ob die wunderbaren Ideen Steffenskys ihre tatsächliche Kraft verlieren, wenn der Glaube an Gott fehlt? Oder könnte es möglicherweise nicht gerade umgekehrt sein? Warum brauchen wir diese Gottesidee, um dem „merkwürdigen neuen Leiden" zu entgehen, das sich im Sinne Steffenskys in einer „überhöhten Erwartung an das Leben und der Subjekte an sich selber" ausdrückt? Der Katalog, den Fulbert Steffensky auflistet, kommt uns allen vertraut vor: „Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt und glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht." Nein, so ist das Leben nicht!

Aber warum muss sich Gott zwischen diese nüchterne Einsicht schieben? Warum genügen wir uns nicht selbst und können nicht aus der Einsicht in die wunderbaren Gedanken Fulbert Steffenskys jene Bescheidenheit gewinnen, die uns das Leben in vollen Zügen genießen lässt, und sei es noch so begrenzt? Zeigen uns nicht eben genau diese Grundhaltung so viele kranke, beeinträchtige und behinderte Menschen? Gnade denken heißt mit den Worten Steffenskys, den Mut zum fragmentarischen Handeln zu finden: „Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu verachten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist."

Steffensky nimmt auf Paulus Bezug und stellt mit ihm fest: „Der Mensch ist, weil er sich verdankt." Damit spricht Fulbert Steffensky in seiner kleinen Schrift ein Letztes an, das mich zutiefst anrührt und jenseits aller Gottesphantasien zu einem Grundmotiv meines Lebens führt: „Die große Grundfähigkeit des Lebens ist der Dank. Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben." Für mein überreiches Leben danke ich, konkret, weil ich mich selbst so (über)lebensnotwendig verdanke: der ungewöhnlichen Liebe meiner Eltern, der Liebe meiner Frau und meiner Kinder, der Aufmerksamkeit und Wertschätzung der bedeutsamen anderen.

In diesem Büchlein stehen viele meiner Gedichte und lyrischen Selbstzitierungen für diese Erfahrung. Dennoch möchte ich dieses ausführlichere Kapitel mit einem längeren Zitat aus Fulbert Steffenskys Schrift beschließen: „Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich erzähle eine persönliche Geschichte. Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau zehn Jahre vor ihrem Tod erwähnt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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