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Karfreitagsgedanken 2025 (Teil I) - heute mit Moritz Aisslinger (hier: Teil II)

Moritz Aisslinger darf in der Osterausgabe der ZEIT das Dossier gestalten: 20 Leute, der Anführer tot. Was soll da schon rauskommen - Zusammen hatten sie Irres erlebt, davon wollten sie nun der ganzen Welt erzählen. Bis Hunderte mitmachten, Tausende, am Ende Milliarden. Die Erfolgsstory des Christentums (ZEIT 16/25, S. 13ff.)

Jesus als Revolutionär: Die Zeit für Jesus war jedenfalls günstig:

"Das Land, durch das die Gruppe streifte, war okkupiertes Land, Rom befahl. Die meisten Juden wünschten sich ein Ende der Fremdherrschaft. Viele glaubten, nur Gottes Beistand könne ihnen dazu verhelfen. Seit Urzeiten hatte es die Hoffnung des jüdischen Volkes auf das Erscheinen des Messias gegeben. Nun waren einige überzeugt: Jesus ist jener Messias."

Die Christen feiern Ostern die Auferstehung jenes Messias, dessen Revoluzzerkarriere on the road - wie Aisslinger schreibt - nach zwei Jahren endet mit seiner Verhaftung und seiner Hinrichtung wegen Aufruhrs:

"An einem Tag, den Menschen später einmal als Karfreitag in Erinnerung behalten sollten, starb er. Ohne Jesus stand die Truppe vor dem aus."

Später einmal: Das ist nunmehr seit 2025 Jahren der Fall - die ganze moderne Zeitrechnung im Westen richtet sich aus nach der Geburt Christi!!! Moritz Aisslinger durchschreitet die Geschichte des Christentums in einem rasanten Parforce-Ritt. Man kann es an den Kapitelüberschriften nachvollziehen:

  • Um das Jahr 60: circa. 1.250 Christen weltweit
  • Um das Jahr 110: circa 10.000 Christen weltweit
  • Um das Jahr 200: circa 155.000 Christen weltweit
  • Um das Jahr 250: circa 650.000 Christen weltweit
  • Um das Jahr 300: circa 3 Millionen Christen weltweit
  • 28. Oktober 312: circa 3,8 Millionen Christen weltweit
  • Um das Jahr 400: circa 30 Millionen Christen weltweit
  • Das Jahr 2025: circa 2,5 Milliarden Christen weltweitIch greife aus Moritz Aisslingers Parforce-Ritt nun lediglich die mir persönlich bedeutsam vorkommenden Stationen auf:

Aus Saulus wird Paulus! Wir befinden uns etwa fünf Jahre nach Begründung der Urgemeinde im Jahre 35:

"Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum. sondern sie hatten alles gemeinsam." Also im Jahre 35 "stapfte ein Mann von Jerusalem nach Damaskus. Der Mann hieß Paulus, er war Mitte zwanzig, ein römischer Bürger aus der Stadt Tarsus in der heutigen Türkei. Er kam aus einer jüdischen Familie, sein jüdischer Name war Saulus. Er hasste die Gruppe (der Urchristen). In Jerusalem hatte er sie fanatisch verfolgt, weil sie behauptete, ein verurteilter Verbrecher sei der Sohn Gottes. Auf seinem Weg nach Damaskus aber passierte etwas mit ihm."

Von allen lebenslaufbezogenen (kontingenten) Wendepunkten ist wohl die nun folgende Gehirn- und Seelenwäsche, der sich Saulus unterzieht - und zu Paulus wird, eine der folgenreichsten. Moritz Aisslinger schreibt lapidar: "Ob sich die Bekehrung (des Saulus) genau so (spektakulär) abgespielt hatte (wie sie uns überliefert ist) oder doch etwas undramtischer: egal. Hauptsache, die Gruppe hatte jetzt ein Mitglied mehr. Und was für eines."

Paulus war derjenige, der das Christentum mit einem schier unvorstellbaren Eifer und Engagement nach Europa hineintrug. Paulus wird von Moritz Aisslinger charakterisiert als Kosmopolit, als großstädtischer Bildungsbürger. Mir ist und bleibt er nahe durch die Briefe, die er an seine Korinther schrieb. Moritz Aisslinger fasst Wesentliches knapp zusammen.

"18 Monate blieb Paulus in Korinth. Am Ende waren Juden, Griechen, Sklaven, Freie, Arme und Reiche in seine Kirche eingetreten. Sie war so durchmischt, wie er sich das gewünscht hatte. Und wie wohl auch Jesus es sich gewünscht hätte. Als er aufbrach, um anderswo weitere Gemeinden zu gründen, schrieb er den Korinthern Briefe: >Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnisse hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber der Liebe nicht, wäre ich nichts.< [...] In den Briefen zimmerte er das Erbe Jesu, dessen Taten und Tod, zu einer ersten christlichen Theologie zusammen." Paulus wird schließlich um das Jahr 60 in Rom hingerichtet. Paulus war tot. Doch das Christentum blühte seinetwegen gerade erst auf. Er hatte es im gesamten Mittelmeerraum bekannt gemacht. Es war in Rom angekommen, in Griechenland, in Kleinasien und selbst in den hintersten Ecken des römischen Reiches."

Die umwälzende Kraft und Botschaft des frühen Christentums: Moritz Aisslinger führt an einer Stelle aus, den frühen Christen sei es egal gewesen, aus welcher Familie jemand stammte oder welchen Beruf er hatte:

"Bäcker oder Handwerker, die keine Chance hatten innerhalb der Klassengemeinschaft aufzusteigen, konnten bei den Christen an Status gewinnen. Sie konnten ein wenig Geld für die Gemeinde spenden, Versammlungsorte bereitstellen, für Ämter kandidieren. Sie konnten mehr werden, als das System für sie vorgesehen hatte. Eine wesentlich Rolle, sagt Hartmut Leppin (Professor für Alte Geschichte in Frankfurt), spielten dabei Frauen: >Die Erwartungshaltung an Frauen war ja weithin: heiraten und Kinder gebären.< Junge Frauen, die darauf keine Lust hatten, und junge Witwen, die das alles nicht noch mal durchmachen wollten, hätten schnell ihre soziale Anerkennung verloren. >Die Christen hießen sie willkommen.< Weil in ihren Augen vor Gott ja alle Menschen gleich waren, konnten auch Frauen besondere Rollen in ihren Gemeinden einnehmen. Manche durften Taufen vornehmen, andere, wie Perpetua, wurden als Märtyrerinnen verehrt. Es gab eine spezielle Witwenfürsorge."

Die Wende kommt früh und nachhaltig - Konstantin wird Kaiser und Christ - mit dramatischen Folgen - das Christentum auf dem Weg zur Staatsreligion: In Rom tobte mal wieder ein Bürgerkrieg - wir schreiben das Jahr 312:

"Ein Mann namens Konstantin führte eine der Kriegsparteien an. Am 28. Oktober stand die Entscheidungsschlacht an." Moritz Aisslinger kommt auf den Punkt: "Konstantin musste gut überlegen, auf welchen Gott er setzen wollte. [...] Er fühlte sich zu der aufstrebenden Religion hingezogen, er wollte sie für sich nutzen. Für die Schlacht ging er all-in und ersuchte den Gott der Christen um Beistand. Die Wette ging auf. Konstantin gewann. Bei seinem Siegeszug ließ er, nicht ganz so christlich, den abgeschlagenen Kopf seines Gegners vor sich hertragen, aufgespießt auf einem Speer. Konstantin wurde Kaiser und zum Dank an den hilfreichen Gott: Christ. Seit Paulus hat es keine folgenreichere Bekehrung gegeben."

Moritz Aisslinger schildert den rasanten Aufstieg des Christentums und macht Station in Nicäa:

"Während sich die alten Götter sich in Luft auflösten, fragten sich die Christen: Wer ist eigentlich unser Gott? Ist Gott Jesus? [...] Es gab Streit. Um ihn zu klären, verschickte Konstantin im Jahr 325 per Post eine Einladung an Hunderte Bischöfe aus dem ganzen Reich. [...] Auf dem Konzil sollten die Kirchenoberhäupter ein gemeinsames Glaubensbekenntnis formulieren. Nach wochenlangen Debatten hatten sie sich geeinigt: Gott und Jesus waren nun wesensgleich. Außerdem hatten sie noch ein paar praktische Dinge geregelt:

  • Bischöfen, Priestern und Diakonen wurde verboten, mit einer Frau zusammenzuleben.
  • Ostern sei immer an einem Sonntag nach dem jüdischen Pessachfest zu feiern und müsse für alle Christen am selben Tag stattfinden.
  • Die Bischöfe hatten ihre Kirche fundamental verändert: Sie war jetzt einheitlich und universell.
  • Männer hatten das Sagen, Frauen wurden nach und nach aus ihren Ämtern gedrängt.
  • Alle mussten an das Gleiche glauben.

Im fünften Jahrhundert nach Jesu Geburt verschiebt sich das Machtgefälle zugunsten des Klerus: Moritz Aisslinger bezieht sich auf ein Pogrom, dass sich im Jahre 388 im Osten des römischen Reiches zutrug. Kaiser Theodosus, der den christlichen Mob einem Strafgericht zuführen wollte, unterlag im Machtkampf dem Mailänder Bischof Ambrosius. Hier zeigen sich zum ersten Mal jene Auswüchse, die Religionen innewohnen, wenn sie einen Allelinvertretungsanspruch erheben. In einem Brief an Theodosus argumentiert Ambosius wie folgt und setzt sich durch:

"Es gibt keinen ausreichenden Grund für eine so große Aufregung, dass wegen des Brandes eines Gebäudes das Volk so streng bestraft wird, aber viel weniger, weil eine Synagoge angezündet wurde, ein Platz der Treulosigkeit, ein Haus der Gottlosigkeit, ein Zufluchtsort des Wahnsinns, den Gott selbst verurteilte." Moritz Aisslinger stellt lapidar fest, dass die Kirche über den Kaiser gesiegt hatte: "Die Kräfteverhältnisse zwischen Staat und Kirche begannen sich historisch zu verschieben. Mit der Macht kam ihr Missbrauch. Die Verfolgten wurden zu Verfolgern. Christen versagten teilweise spektakulär darin, ihre Ethik mit ihrem Tun in Einklang zu bringen. Im Namen des Christentums begingen sie Horrortaten." Moritz Aisslinger führt auf:

  • Die Kreuzzüge
  • Die Inquisition
  • Die Hexenverfolgungen
  • Der Achtzigjährige Krieg und der Dreißigjährige
  • Krieg und die Kolonialkriege
  • Die Legitimierung der Sklaverei
  • Die Verstrickung in den Faschismus
  • Die Missbrauchsskandale

Moritz Aisslinger beendet seinen Parforce-Ritt mit Lissy. Lissy Eichert arbeitet als Pastoralreferentin für die Kirche. Gemeinsam mit anderen hat sie 1993 begonnen eine Kirchengemeinde in Neukölln aufzubauen. Hier können wir das gesamte Engagement jemandes nachvollziehen, der sich in der christlichen Idee aufgehoben fühlt: Im Kellergeschoss der Katholischen Kirche St. Christophorus ist Herberge entstanden. Es gibt einen Mittagstisch mit bis zu 170 Essen jeden Mittag - alles umsonst: 

"Viele Gäste - sagt Lissy Eicher - sind Stammgäste. [...] Sie sagt, sie habe einige Probleme mit der Institution Kirche, aber sie sei ein gr0ßer Fan von Jesus. Für sie verkörpere er die Möglichkeit, neu anzufangen, eine neue Haltung einzunehmen, gegenüber sich selbst und allen anderen. Einmal habe ein Mann, der seit Jahren hierher zum Essen kam, gesagt: >Ihr habt mich nicht von der Straße holen können. Aber ihr habt mir meine Würde wiedergegeben.< Lissy Eicher sagt, genau darum gehe es."

Es ist anrührend, tragisch und paradox zugleich, dass Lissy Eicher im Jahr 2025 - zweitausenundfünfundzwanzig Jahre nach Jesu Geburt - die christliche Idee retten muss. Es ist wohl müßig das Gute, das segensreiche Wirken der Kirche aufrechnen zu wollen gegen ihre Verbrechen und die ihr innewohnende kriminelle Energie. Letzteres - so würde Peter Sloterdijk in Anlehnung an Niklas Luhmann sagen - ist allen Weltbildern erster Ordnung inhärent. Und alle Religionen - alle Religionen - basieren auf Weltbildern erster Ordnung:

Sloterdijk konstatiert, dass die Intellektuellen, die für sich einen höheren Ernst reklamierten, weil sie sich als Fürsprecher einer Realität ersten Grades, einer unmittelbaren Not oder einer unabgekühlten Wut aufträten, genau diese Einsicht verweigerten. Die Entbindung der ungeheuerlichen Gewaltexzesse im 20. Jahrhundert und ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart hinein schreibt Sloterdijk in Anlehnung an die Luhmannsche Haltung der „Selbstdesinteressierung“ dem allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärenten Paranoia-Potential und dem von ihm gebundenen und entbundenen Gewaltpotential zu: „Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten." (Luhmann-Lektüren - Kadmos-Verlag, Berlin 2010, S. 153)

Karfreitagsgedanken Teil II

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund