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Tahsim Durgun: >Mama, es reicht<

Die Sinnhaftigkeit dessen, was ich hier tue, erschließt sich aus einer Haltung, aus der heraus sich Deutschland lernt zu verstehen als Schmelztigel:

In der Soziologie und in den Politikwissenschaften beschreibt der Begriff „Schmelztiegel“ (engl.Melting Pot) die Assimilation und die Integration von Einwanderern in die Kultur eines Landes. Die verschiedenen Kulturen und Werte sollen sich zu einer gemeinsamen integrierten nationalen Kultur mischen. Neben „Melting Pots“ sind aber immer auch so genannte „Salad Bowls“ vorzufinden, in denen nicht alle Kulturen verschmolzen werden, sondern Einwanderergruppen je für sich eigene, klar abgegrenzte Kulturen pflegen. Dies kann – wie in Kanada als „multikulturelles Mosaik“ praktiziert – ausdrückliches Ziel sein oder auch auf mangelhafter Detail-Umsetzung einer Schmelztiegelpolitik beruhen.

Xenophobie oder: Bleib doch!

Es regt sich,
sanft -
das Leben
im milden Schein der Sonne;
Frühjahr schon -
kein Sommer.
Zaghaft und nicht wild,
nicht fett und satt.
Nur stiller Hunger,
der noch weiß,
wie Fremdes schmeckt.
Nicht drängend,
eher zart,
für sich.
Denn Fremdes bleibt nicht fremd.
Aber einfach weiterrudern?
Achtet ihr das Fremde,
ehrt es auch?
Ist’s doch euer Leben.
Wisst ihr denn,
was Inzucht wirklich ist?

Xenophobia!

 

Dieses Gedicht (siehe hier) ist so alt wie der Comedian und Influencer Tahsim Durgun (29). Durguns Familie - jesidische Kurden - stammen aus der Osttürkei. Er selbst ist in Deutschland geboren. Carola Padtberg widmet ihm im SPIEGEL (10/25, Seite 112-114) einen überaus lesenswerten Beitrag, der facettenreich beleuchtet, welche Blüten (erfolgreiche) Integration treibt und welche Problematik sich nach wie vor hinter Ein- bzw. Zuwandererbiografien verbirgt. Die ersten Sätze lassen aufhorchen:

"Als sich Tahsim Durgun eines Tages traute, seiner Mutter das Offensichtliche zu sagen, bereute er es sofort. Er habe sich umgehend wie ein gieriges Arschloch gefühlt, so erinnert er sich - gierig, weil er von seiner Mutter, die so viel für ihn tat, noch mehr verlangte. Er hatte damals den einen verbotenen Gedanken ausgegraben und sie angeschrien: >Was verstehst du überhaupt? Mama, es reicht - bitte lern Deutsch!<. Als sie dann anfing zu weinen, habe er sich geschämt. Und seine Forderung zzurückgenommen. Da war er 15."

Der Aufstieg aus sozialen Niederungen der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren verbietet sich eigentlich als Referenzrahmen. Carola Padtberg stellt die Frage, ob man heiter über Integrationsprobleme schreiben könne? Sie räumt ein, Durgun bemühe sich, es gelinge aber nur in der ersten Hälfte des Buchs. Und dann?

"Zum Ende hin wurde es einfach eine Liebeserklärung an meine Mutter."

Vermutlich liegt in der Feststellung Carola Padtbergs, der Kitschgefahr entkomme Durgun "dank seiner nüchternen Ironie und ausreichend fails", so etwas wie eine Legitimation diese Einwanderergeschichte prominent im SPIEGEL zu platzieren. Mich fasziniert an dieser Geschichte, dass der Comedian und Influencer Durgun - wie Carola Padtberg betont - von Integration besessen sei:

"Er ist das, was manche einen Vorzeigemigranten nennen würden: ohne Staatsangehörigkeit in Deutschland geboren, inzwischen eingebürgerter Akademiker, finanziell erfolgreich, als Tik-Tok-Star medial präsent."

Seine Integration sei sein Stolz - gleichzeitig sei sie der Kern seines klugen Humors auf Social Media. Auch wenn es sich verbietet - wie weiter oben angedeutet -, Vergleiche zwischen der Einwanderungsgeschichte der Familie Durgun und meiner Herkunftsgeschichte herzustellen, bin ich dennoch überzeugt, seinen Stolz und seine Bitterkeit gleichermaßen eher nachvollziehen zu können. Das Beharrungsvermögen und die Undurchlässigkeit der sozialen Schichtung in den 50er und den beginnenden 60er Jahren der Bonner Republik erwies sich als solider Beton. Gleichwohl spielte sich das Aufbrechen exklusiver sozialer Milieus bei uns Aufsteigern - wie das der Schule - innerhalb eines nationalen und kulturellen Referenzrahmens ab, im dem Fremdheit eher im Sinne der feinen Unterschiede (Pierre Bourdieu) wirksam wurde - gewiss ohne ethnische Vorbehalte und kulturell definierte Barrieren. Letzteres stimmt nicht ganz, insofern eine beträchtliche Anzahl von gescheiterten Schulkarrieren durchaus in (hoch-)sprachlichen Defiziten eine Erklärung fanden.

Carola Padtberg stellt fest:

">Mama, bitte lern Deutsch< ist die berührende Anerkennung der Lebensleistung einer Frau, die in der deutschen Gesellschaft unsichtbar ist, weil ihr im Leben wenig mitgegeben wurde."

Bis heute - so Durgun - möge er sich nicht wirklich vorstellen, was seine Mutter erlebe, wenn sie alleine unterwegs sei. Darin sieht Durgun auch den Grund dafür, dass sich Rollen von Eltern und Kindern manchmal umkehren müssten - einfach, weil das Leben anders gar nicht möglich sei. Mein eigenes Motiv, Tahsim Durgun im Rahmen meines Blogs einen eigenen Beitrag zu widmen, liegt aber vor allem in zwei Hinweisen Carola Padtbergs:

  • "Tashim Durgun liefert mit seiner Binnensicht ein Gegenmittel zu rechtem Zeitgeist. Über nichts wurde im Wahlkampf schärfer diskutiert. Umso wichtiger ist es, genauer über Migrationsgeschichten zu sprechen. Nicht nur über Vorzeigekarrieren, sondern auch über Frauen wie Mutter Durgun, >die seit 30 Jahren 365 Tage im Jahr das gleiche Eiscafé in Oldenburg putzt und dabei vier Kinder großzog und sich nie beschwert hat, aber es nicht schaffte, eine neue Sprache zu lernen<."
  • "Die Schilderungen erklären, warum der Faktor Familie für Menschen wie Tashim Durgun so wirkmächtig ist. Sie machen verständlich, warum Familienstrukturen unter >Migras< - so nennt Durgun Menschen mit Migrationsbezügen, knapp ein Drittel unserer Gesellschaft - oft als übergeordnet wahrgenommen werden, sowohl von ihnen selbst als auch im Blick von außen."

Carola Padtberg weist darauf hin, dass Eltern manchmal Einstellungen und Folgen von Traumata an ihre Kinder weiterreichten - ein Phänomen, das unter dem Begriff Transmission erforscht wird:

">Die Erfahrung von Angst, Ausgrenzung, und Ausweglosigkeit ist Teil der DNA unserer Familie<, schreibt auch Durgun, dem seine Mutter bisher nicht genau geschildert hat, was ihr widerfahren ist in ihrem Geburtsland. Er wird nicht psychologisierend, aber es wird deutlich, dass er Familienklima als Keimzelle begreift. Sie ist mehr als biologische Verwandtschaft - sie ist eine kulturelle Prägung, aus der er nicht herauskommt."

Tashim Durgun hat mit seinen 29 Jahren eine Social-Media-Karriere vorzuweisen. Gleichwohl betont er, kein Aufstiegs-Bling-Bling zu wollen: "lieber ein bodenständiger Geschichtslehrer werden, irgendwann, wenn sein Internet-Hype vorbei ist."

Apropos Geschichtslehrer: Tashim Durgun hat seine Bachelorarbeit über den Widerstand der Geschwister Scholl im Nationalsozialismus geschrieben. Ich selbst habe - als Geschichtslehrer - Björn Höcke und Alexander Gauland einer intensiven Nachhilfe in neuester Geschichte ausgesetzt. Wie weit sind wir gekommen, wenn das Kind jesidischer Kurden einem deutschen Geschichtslehrer (zumindest weisen die lebenslaufbezogenen Daten Björn Höcke als solchen aus) Nachhilfe erteilen muss?

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund