Mors certa – hora incerta – der Tod ist uns gewiss – die Stunde ungewiss
Novembergedanken am Lebensabend zu der Frage, wie Herkunft und Gestaltungswille im Lebenslauf zusammenwirken - das ist immer auch die Frage danach, welche Einflüsse Schicksalszufälliges und Beliebigkeitszufälliges in unserem Leben haben?
Wir Alten – auch wir jungen Alten müssen nachdenken, und soweit es in unserer Gestaltungsmacht liegt, entscheiden, wie wir auf die Umstände und Rahmenbedingungen in den letzten Jahren unseres Lebens Einfluss nehmen wollen. So erzählte mir ein Freund, dass einer seiner nahen Bekannten – noch nicht siebzig Jahre alt sein Haus verkaufe. Er bemühe sich um eine Wohnung in einer Seniorenresidenz mit der Option für Versorgungsleistungen im Rahmen betreuten Wohnens. Marianne, die ich aus Jugend- und Schulzeiten kenne (so alt wie ich, also 72), und die lange in der Nachbarschaft wohnte, sprach mich an, ob ich ihr etwas zum Angebot des betreuten Wohnens in einer Gülser Senioreneinrichtung sagen könne, ich habe doch dort mehrere Jahre ehrenamtlich gearbeitet.
Seit 2019 wohnen wir – Claudia und ich – in Güls auf dem Heyerberg. Von 2017 bis 2019 haben wir ihr Elternhaus saniert und umgebaut. Wir haben altersgerecht saniert und einen Aufzug einbauen lassen. Damals lebte Claudias Mutter, meine Schwiegermutter noch, und wir hatten ursprünglich erwogen, sie vielleicht doch noch einmal in ihr altes Wohnumfeld – sie hat dort genau 50 Jahre gewohnt – zu integrieren. Die Entwicklung hat andere Fakten geschaffen, und wir haben sie 2020 im hohen Alter von fast 97 Jahren zu Grabe getragen. Gegenwärtig entzieht es sich meiner Vorstellungskraft ähnlich lang zu leben. Aber zieht man einmal den weiteren verwandtschaftlichen Genpool zu Rate, ist dies für meine Frau alles andere als ausgeschlossen.
Gestern saß Joachim Meyerhoff auf dem Roten Sofa beim NDR (DAS). Beiläufig ging es (auch) um autobiografisches Schreiben. Einen Berufeneren als Joachim Meyerhoff kann man sich kaum vorstellen: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (auch als Film) zeugt von einer ambitionierten Befassung mit der eigenen Herkunft und der Frage, wie man in der unvermeidbaren Auseinandersetzung mit und gegen die bedeutsamen Anderen einen eigenen Weg findet – auch unter belastenden familiären Gegebenheiten.
2003 habe ich auf den Vorsatzseiten meines ersten Gedichtbändchens Günter Kunert und Graham Greene zitiert. Der eine meint: „Schreiben ist Rettung vor dem Tod“ bzw. „Jedes Gedicht ist ein Geschenk.“ Der andere sagt: „Schreiben ist eine Art Therapie; manchmal frage ich mich, wie all jene, die nicht schreiben, komponieren oder malen, es zuwege bringen, dem Wahnwitz, dem Trübsinn und der panischen Angst, die dem menschlichen Dasein innewohnen, zu entfliehen.“
Im Frühjahr wird Das lyrische Klärwerk erscheinen – eine stark autobiografisch eingefärbte lyrische Exkursion in Lebensumstände und –verläufe. Hier wird sich im Rückblick ein kaum vorstellbares Privileg offenbaren – allein schon der Tatsache geschuldet, in einem Kerneuropa ohne Krieg aufgewachsen zu sein; eine geschenkte Demokratie mitgestaltend; als erste Generation in vollem Umfang den Ambivalenzen und Widersprüchen der Moderne ausgesetzt – daraus Schlussfolgerungen und Gestaltungsoptionen ableitend. Man sieht dann – gewiss in Anbetracht von blinden Flecken – wer man war, und wer man ist.
Im Gegensatz zu unserer privilegierten Daseinsweise – einschließlich des aufgeklärten Blicks auf unsere Welt - stellen sich die Startbedingungen einer Generation, die in der Kohorteneinteilung als Kriegskinder erscheinen, anders dar. Meine Schwester (Jahrgang 1942) und ihr geschiedener Mann (Jahrgang 1937) stehen in dieser Reihe. Zuletzt habe ich Splitter dieser gravierenden Unterschiede in Happy Birthday Boomer thematisiert.
Ein Auslöser für die folgenden Impressionen ist ein über 600 Seiten umfassendes Lesebuch – zerfleddert, zerlesen, auf dessen Hardcover sich der Name meines Schwagers findet. Ich habe es von ihm vor Jahren übereignet bekommen, damals schon ahnend, dass mir dieses Buch ansatzweise vermitteln wird, welchen Einflüssen die Generation der Kriegskinder bis hinein in die nach 1949 behutsam Gestalt annehmende Republik ausgesetzt war. Um keine unangemessenen Schlussfolgerungen zuzulassen, weise ich darauf hin, dass mir zu diesem Lesebuch die bibliografischen Angaben fehlen. Es scheint sich um ein Standardwerk noch aus Kaiserzeiten zu handeln (Erscheinungsdatum vermutlich vor 1918), das sich im Besitz der Familie befand und von den Eltern auf die Kinder übergegangen ist (mein Schwager als 1937 Geborener ist ein Nesthäkchen, seine älteste Schwester ist dem Jahrgang 1923 zugehörig). Die Tatsache, dass dieses Buch seinen Weg bis auf meinen Schreibtisch gefunden hat, mag veranschaulichen, dass es auch in relativ bildungsfernen Familien eine Wertschätzung für das gedruckte Wort gab. Die Textauswahl spiegelt Zeitgeist und vor allem tief verwurzelte antidemokratische Reflexe wider, wie sie auch heute wieder in bestimmten politischen Kontexten hoffähig werden/sind. Die folgenden Zeilen sind meinem Schwager gewidmet:
´37 geboren – hinein in Hybris und Wahn,
folgt ihr dem Führer nach - hinein in den Untergang
ein Jahr noch bis zur Kristallnacht – die Zeit des Pogroms;
danach reihen sich Siege an Siege – die Demokratien strecken die Waffen.
Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Windhunde
werdet ihr auserkoren zur braunen Elite im Arierwahn.
Der 43/44er Jahrgang steht stramm mit Schultüte und huldigt dem Menschheitsverbrecher,
während Eure Väter und Brüder verbluten in Stalingrad.
Mehrfach habe ich betont, dass man sus cofra,
dem gemeinen Wildschwein, zu nahe tritt, wenn man
Goebbels, Himmler, Göring und den Führer zu Drecksäuen adelt.
Eure Lehrer – nahezu alle – kuschten als Unmenschen vor Unmenschen.
Sie appellieren an euren Opfermut:
„Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn – wenn nötig – totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können?“ fragt euch alle ein Meister aus Deutschland - jene Karikatur des Satans mit Klumpfuß und sabbernder Fratze
(so tönt er am 18. Februar 1943 – 16 Tage nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad):
„Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen; wir müssen nur zufassen. Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles seinem Dienst unterzuordnen. Das ist das Gebot der Stunde. Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!“
Der Sturm brach los und fegte das Tausendjährige Reich hinweg
– und mit ihm die Ausgeburten des rassischen und völkischen Wahns – nicht ganz.
Auferstanden aus Ruinen seid ihr – doch eure Lehrer blieben die alten.
Und die Bücher, aus denen ihr Lehren ziehen sollt, huldigen weiter dem Wörterbuch des Unmenschen. Selbst die Dichter des Vormärz werden euch nahegebracht nur als Wortgeber für ein ungebrochenes, martialisches, national entartetes Selbstbild! Und überhaupt: Was waren Euch Bücher?
Eure Jahrgänge (1937/38) haben die Volksschule etwa 1951/52 verlassen – wie schon bemerkt, in die anbrechende Phase des sogenannten deutschen Wirtschaftswunders. Und als ihr anfingt zu leben, wuchsen die Bäume nicht in den Himmel. Weiter unten ist zu lesen:
„Verschiedene Ämter und Stände müssen sein.
In der Ungleichheit der Pfeifen ist die Verschiedenheit der Töne
und im Zusammenwirken der verschiedenen Töne die Harmonie begründet."
Eben: Eben als Maurer und Fahrer – nicht als Ingenieur oder Spediteur machte man seine Flötentöne
– und ordnet sich ein:
„Ich schlief und träumte, das Leben wäre Freude. Ich erwachte und sah: Das Leben war Pflicht. Ich handelte und siehe, die Pflicht war Freude.“ (Rabindranath Tagore)
Der soziale Aufstieg war der nächsten Generation vorbehalten – naja, nicht ganz:
Auf der brüchigen Hühnerleiter ging es schon ein paar Stiegen nach oben
– ein wenig sein eigener Herr sein?
Und auf das eigene Haus passte auch ein Dach – immerhin:
Nicht jeder Topf hingegen findet auch einen passenden Deckel,
Und: Bis das der Tod euch scheidet war schon auch fremdbestimmt – nein:
Es war die Fremdbestimmung schlechthin – Eure Kinder hätten das so nicht akzeptiert:
Happy Birthday Bommer möchte man da rufen.
So ging dann irgendwann jeder seinen Weg – denn wir sind ja freie Menschen – befreit und verdammt zur Wahl (aber hier ist höchste Vorsicht geboten!)!
Ein Leben erzählt sich einfacher im Rückblick –
da vermag man dann auch eher sehen, woran man heute krankt!
Aber das Leben? – das Leben ist, was es ist!
- Auferstanden aus Ruinen,
- lernst du, was du lernst,
- und was du lernst, liegt nicht in deiner Macht!
- Es wird dir auferlegt, woran du dich denn üben sollst, damit die Ungleichheit der Pfeifen die Welt zum Klingen bringt: damit ein jeder auch weiß, wo oben und wo unten ist!
- So zahlst du deine Steuern und klebst für deine Rente, damit das Alter sei erträglich!
- Und was dir nicht gegeben, und was du nicht gelernt, dass kannst du auch nicht leben!
- Gegeben bist du dir als Mann – wie vielen Männern begegnet dir eine Welt, in der das große F immer schon vor der Moral kam!
- Und suchst du Rettung, musst du altern – rette sich wer kann!
- Nun bist du alt, sehnst dich nach Ruh und Harmonie!
- Doch hast du die verdient? Kann man im Alter haben, was man im Leben sich versagt?
- Immerhin: Nicht alles war schlecht – wer anderes behauptet, der ist ungerecht.
- Verdruss und Unverträglichkeit über den Tod hinaus – das Tragen die Kinder und Kindeskinder aus!
Drum lest in der Folge, woran unsere Eltern sich stählten, woran Unbelehrbare sich heute noch laben. Von allen Gaben, die uns gegeben, ist die besonderste, die zu vergeben.
Wir vergeben allerdings nicht jenen,
die unbelehrbar sind und dumm!
Die sich in Sätzen, die hier folgen, noch heute erheben.
Und das sind alle, die wissen können,
worum es hier geht,
wenn die Würde und Gleichheit
aller Menschen auf dem Spiele steht.
Vor mir liegt also dieses über 600 Seiten starke, zerfledderte Lesebuch. Es mag sein, dass dieses Buch meinem Schwager mit der Einschulung übereignet wurde. Es finden sich jedenfalls in diesem Buch Lesezettel. Anhand dieser Sammlung von Texten wird nachvollziehbar, dass illiberale, antidemokratische Gesinnung und Impetus nahezu jeden Text zu korrumpieren, zu missbrauchen und zu instrumentalisieren vermögen – insbesondere dann, wenn sich Autoren nicht mehr verwahren und wehren können. Dies gilt selbstverständlich für die Dichter gegen die napoleonische Zwangsherrschaft (Theodor Körner, Ernst Moritz Arndt), zu Teilen für die Dichter des Vormärz (selbstredend mit der Ausnahme von Heinrich Heine).
Warum mache ich mir die Mühe der nachstehenden recht willkürlichen Auswahl von Texten? Nun, ich bin der Überzeugung, dass Sozialisation und Enkulturation Heranwachsender, je jünger sie sind, desto prägender in ihren Wirkungen sind. Antidemokratische Reflexe – oder besser im Umkehrsinn: Die mangelhafte Habitualisierung demokratischer Grundhaltungen haben umso größere Chancen und Potentiale als es an grundlegender Praxis, Bildung und Erfahrung demokratischer Grundhaltungen und Verfahren mangelt. Um nicht mehr und nicht weniger wird es gehen, wenn wir uns fragen, wer wir sind, und wer wir waren.
- Wer ist ein Mann – Ernst Moritz Arndt
„So, deutscher Mann, so, freier Mann,
Mit Gott, dem Herrn zum Krieg!
Denn Gott allein mag Helfer sein,
Von Gott kommt Glück und Sieg.“
- Treu bis in den Tod – Heinrich von Holleben
„Stolz weht uns die Flagge schwarzweißrot
Von unseres Schiffes Mast.
Dem Feinde weh, der sie bedroht,
Der diese Farben haßt […]
Ihr woll’n wir unser Leben weihn,
Der Flagge schwarzweißrot!“
- Vom Dienen – Johann Friedrich Ahlfeld
„Verschiedene Ämter und Stände müssen sein.
In der Ungleichheit der Pfeifen ist die Verschiedenheit der Töne
und im Zusammenwirken der verschiedenen Töne die Harmonie begründet […]
Dem rechten Gesinde ist der Herrschaft Ehre seine Ehre,
der Herrschaft Schande seine Schande.“
- Deutsche Helden – Heinrich von Holleben
„Dort, wo der Peiho seine dunkelgefärbten Fluten träge in das Gelbe Meer schiebt,
drohten bis vor kurzer Zeit den Fremden massige, stark mit Kanonen versehene Festungen,
die Takuforts […] Die Chinesen fühlten sich sicher in ihren Festungen
und verübten Greuel und Mord an Europäern und einheimischen Christen.
Um diese Schandtaten zu rächen, hatten die verbündeten Europäer und Japaner
einige tausend Mann als Strafexpedition nach Peking entsendet […]
Nach ungleichem Kampf waren die feindlichen Batterien zum Schweigen gebracht
und die Flaggen der Verbündeten flatterten auf allen Peihoforts.
Die mutige Schar (des neuen Kanonenbootes Iltis) hatte sich der Besatzung der alten Iltis
würdig erwiesen, die treu bis in den Tod mit einem Hurra auf ihren Kaiser
in den Wellen versunken war.“
- Der Fahneneid – Heinrich Herold
Der Kaiser (Wilhelm II.) richtet väterlich ernste Worte an seine jüngsten Söhne:
„Als Soldaten meiner Garde ist euch ein besonderes Ehrenkleid gegeben worden.
Vergeßt nicht, daß ihr den Rock eures Königs tragt […] Blickt jetzt auf die Fahnen,
die vor euch stehen […] Laßt sie nie beleidigen! Gedenkt der Standbilder der Könige und Führer,
die auf euch herniederschauen, denkt an euren Eid, dann werdet ihr gute Soldaten sein …]
Haltet eure Fahne hoch, die hier schwarzweißrot vor euch steht, und denkt an euren Eid, denkt an euren Kaiser.“
- Das Lied der Deutschen – Hoffmann von Fallersleben (und eben nicht nur die dritte Strophe)
„Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt -
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt.!“
- Frühlingsgruß an das Vaterland – Max von Schenkendorf
Nehmen wir einmal die fünfte Strophe – jenseits ihres historischen Kontextes konnten sie die Nazis missbrauchen, so wie sie heute aus dem Munde Björn Höckes klingt:
„Aber einmal müßt ihr ringen
Noch in ernster Geisterschlacht
Und den letzten Feind bezwingen,
Der im Innern drohend wacht!
Haß und Argwohn müßt ihr dämpfen,
Geiz und Neid und böße Lust!
Dann nach schweren, langen Kämpfen
Kannst du ruhen, deutsche Brust.“
- Die Wacht am Rhein – Max Schneckenburger
Nehmen wir einmal Strophe eins, drei und vier:
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein,
Wer will des Stromes Hüter sein!“
Liebe Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Er (der deutsche Jüngling) blickt hinauf in Himmelsau’n,
Wo Heldenväter niederschaun,
Und schwört mit stolzer Kampfeslust:
„Du Rhein, bleibst deutsch wie meine Brust!“
Liebe Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
„Und ob mein Herz im Tode bricht,
Wirst du doch drum ein Welscher nicht;
Reich wie an Wasser deine Flut
Ist Deutschland ja an Heldenblut.“
Liebe Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Was hier nicht fehlen darf - nie mehr fehlen darf? Das ist jener Selbstappell, jene Selbstverpflichtung, die mir verbietet darüber zu schweigen, dass es Unterschiede gibt - Unterschiede in Herkunft, Bildung, Zeitgeist und Einflüssen, die unsere (politische) Sozialisation und unsere Enkulturation und damit unsere Wahrnehmung, unsere Deutung und unser Verhältnis zu Welt und Gesellschaft maßgeblich beeinflussen - "Man kann doch nicht einfach machen, was man will" (Tatort am 17.11.2024):
Ich erinnere an meine Erinnerung des 12.11.2024 - das wäre der 69ste Geburtstag meines Bruders gewesen: Bei meinen kleinen Toden, wenn ich abends die Augen schließe und mich den Bildern überlasse, die tief in mir lebendig bleiben, weiß ich schon, was dieser Seitenwechsel bedeutet - dann verschmelzen Vergangenheit und Zukunft zu einem schwarzen Loch - Sein und Seiendes gehen ineinander auf, bevor ein neuer Morgen kündet von der Last und Lust des Lebens - das a in: L a s t wandelt sich zum u in L u s t, wenn wir uns öffnen, uns erinnern, erzählen und das lähmende don't ask - don't tell in seine Schranken weisen:
Die Welt kommt zu uns (manchmal auch als Flaschenpost – seinerzeit von Paul Celan, heute von Benedict Wells)
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.
Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.
(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerbricht das dünne Eis der Contenance.)
Danach - und manchmal auch zuvor -
hilft dann Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.
Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!
Wenn’s jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -
und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!
Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,
so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)
*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320