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Botho Strauss: Oniritti - Höhlenbilder

Unter dem Eindruck eines höchst intensiven Wochenendes fallen mir Botho Straussens Oniritti Höhlenbilder vor die Augen. Brutale Kost, die Abwehrreflexe mobilisiert – immer auf der Suche nach Rettungsankern. Die Höhlenbilder verbürgen, dass wir weder herkunftslos noch hoffnungslos in dieser Welt stehen, wobei Letzteres durchaus mehr als fragwürdig erscheint. Überlasse ich jetzt Botho Strauß (es wird nicht verschwiegen, dass Botho Strauß unbotmäßig schweigt!) das Wort, wird Herkunft (die er selbst so eindringlich wachruft – eben in Herkunft - siehe auch ganz unten im Sinne eines würdigenden Nachtrags) übermächtig, wirkt wie eine Krake, die uns im Drosselgriff den Atem nimmt. Die Hoffnung erweist sich als ein Girsch oder ein Hahnenfuß, unzählige Male traktiert, extrahiert und dennoch nicht auzumerzen!

Ich halte Botho Strauß im Auge, wie weiland Gottfried Benn - sollte er in der Tat, wie einst Carl Schmitt, zum Kronzeugen einer neuen Rechten werden, wird er der Giersch, den ich zwar verzehre, aber als Gast in meinem Garten nicht vorbehaltlos willkommen heiße. Geht tatsächlich einer in die Irre, ist aber damit nicht gleichzeitig sein gesamtes Lebenswerk verbrannt bzw. verbannt!

Willkürlich setze ich ein auf Seite 24, die anhebt mit Großmüttern. Die wiedergegebene Passage erweckt den Eindruck als hätte der Misantroph Botho Strauß, der hier eine ungewohnt humorvolle Seite zeigt, die letzten 50 Jahre bei uns an der langen Familientafel gesessen – und jeder wird unvermutet Facetten der Rollen finden, die ihm von anderen zugeschrieben werden und die er sich selbst möglicherweise erworben hat:

„Matronen, untergehakt, zwei mollige Figuren mit braunen großen Brillen, die Strickjacken über die Schultern gehängt, flanieren am warmen Abend über den Schau-Platz, Großmütter, die hier ebenso gingen, abends zu zweit, als sie noch junge Mädchen waren. Nur daß sie jetzt sich sagen: um uns bildete sich kein Zeitalter, nackt Erinnernde sind wir, ohne das Kleid einer Epoche stehen wir im Freien der wechselnden Zeit. Dort vergessen, hier wiederholen wir was, aber es bilden sich uns von Vergangenheit keine Begriffe. Keine Haltestellen halten uns auf. Ja, wir geraten bei allem Verstehen sofort und unweigerlich in einen Verstehenswust. Wir sind dazu verurteilt, jede Art von Begriff zu verfehlen. Wir verstehen blind drauflos. Wo ein Begriff uns formend hätte bremsen können, stieben die Gedanken wie eine Schar scheuender Pferde auseinander. Falsche Zusammenhänge, eine Welt voll falscher Zusammenhänge. Erst umgarnen sie uns, dann verstricken sie uns, schließlich erdrosseln sie uns! Mit diesem Schädel, der eigentlich viel Nützliches zu leisten imstande wäre, könnten wir… sagen wir… ach, es hält uns ja niemand auf. Man ist ja schon glücklich, daß man gesundes Atmen noch sein eigen nennt. Obwohl es auch kein Zeichen in die Zeit setzt.

Es kommt der langsame Mann, bleich und töricht, in alten Hosen und mitten im Sommer trägt er eine Pelzmütze auf dem Kopf. Er fällt auf seinen Wegen um. Ich bin krank, sagt er zu jedem, der ihm aufhilft, die Ärzte wissen nicht, was es ist. Am liebsten liefe ich über zu denen, die unbändig vor Freude, vor Schwärmen einer dem anderen in die Arme fallen, von einem Freund zum nächsten eilen, da jeder Mensch ihnen ein Festgenosse ist. Wenn also heute, jetzt gerade, einer vielleicht in Valencia mit Brüdern, Schwägern, Kindern und Eltern… das seh ich, das fehlt mir, sonntags mit Leuten und mit gut durchblutetem, leichtem Herzen an einem langen Tisch sitzen und mit den Taflern übermütig sein, das fehlt und zehrt an mir. Jedoch: Wär ich dabei, immer würd mich einer auf gewisse Schwächen meiner Gesundheit ansprechen! Wie beneide ich die, die eitle Helligkeit verströmen und jedes Gesicht beleuchten, das ihnen zu Gesicht kommt. Aber, langsam! Jeder lebende Mensch, auch der gesündeste, amüsiert einen Ahnen, der im Jenseits gerade nichts mit sich anzufangen weiß. Das war schon immer so. Bei Indianern und den alten Isländern.“

 

Bevor ich mich - vielleicht einmal mehr - unmöglich machen werde, weil ich mich auf einen einlasse, der seine Integrität (vermeintlich) dabei ist zu verspielen, verweise ich mit  ihm dennoch auf jene Einsicht, ohne die wir herkunfts- und hoffnungslos in der Luft hängen - bodenlos, ungeederdet und leider häufig genug auch sprachlos. Es gibt viele, die dieses Schicksal tragen, annehmen, dabei aber auch die Kraft und die Zuversicht verlieren sich gegen die abseitigen Anteile zu verwahren, die mit dem Aufleben unsäglicher rechtsradikaler Gesinnung einhergehen!

Gewiss wird mich das hier geöffnete Faß dazu veranlassen, auch die eigenen Identitätsbezüge noch einmal sorgfältig unter die Lupe zu nehmen: Dazu gehören auch die Hommage an meinen Großvater und selbstredend die Facetten eines Vaterbildes, ohne die ich nicht der wäre, als der ich mir vorkomme.

 

Es ist bekannt, dass ich Bücher häufig von hinten nach vorne lese - heute hat es zwar anders angefangen, aber dieser guten Tradition folgend gebe ich zu bedenken:

"Es genügt ein Stecknadelkopf mit Sinn angereicherten Unsinns, um jede Weltanschauung in die Luft zu sprengen." (S. 273)

Merkt es euch, ihr rechten Spacken: Auch mit Botho Strauß sitzt euch der Sinntod fest im Nacken; natürlich auch Dir zugedacht, werter Herr Strauß - ist ja schließlich auf Deinem Mist gewachsen!

Und für alle, die älter und älter werden:

"Der vielen Türen Auf und Zu, das einmal im Vordergrund des Lebens stand, Ausdruck ungebremsten Tatendrangs, rückte mit der Zeit in den Hintergrund, die Taten blieben aufgeschoben oder waren eher unscheinbar, und irgendwann wurden die Türen nur noch bitter zugeschlagen oder fielen eine nach der anderen dumpf und manchmal endgültig ins Schloß." (S. 269)

 

Eine Art Nachtrag: Dorothea Dieckmann schreibt in ihrer Rezension von Botho Straussens Herkunft unter anderem:

"Kurz vor der Vollendung seines 70. Lebensjahrs entdeckt er die Rückseite der Reife
Oft hat sich Botho Strauß als Wiedergänger selbst gewählter Vorbilder und Geistesgrößen bezeichnet; wenn er dagegen in >Herkunft< die Losungen von Wiederholung, Prägung und Nachfolge ausgibt, dann in direktem Bezug auf die physischen Ahnen, auf Heimatort und Abstammung. >Herkunft< ist zugleich eine Studie über das Erinnern selbst, als Produktivkraft, Daseinselement und poetischer Antrieb. Dabei bedient sich der Autor auch eigener, älterer Texte – etwa dort, wo er mit einer provozierenden Rehabilitation der Sentimentalität aufwartet. Sie bestimmt das Verhältnis des Alternden zur Vergangenheit in einer Welt, die dem Früheren keinen Wert mehr beimisst. Strauß illustriert dies mit einer fast unveränderten Passage aus dem zehn Jahre alten Buch >Der Untenstehende auf Zehenspitzen<, wo es heißt:
>Das abnehmende Leben (...) verwendet zur Herstellung von wertvoller Sentimentalität auch das Damals fremder Zeiten. Älterwerden in einer untraditionalen Welt muss vollkommen aus eigenen Stücken bewältigt werden. Irgendwo muss es sich Stütze und Stoffe verschaffen (...) Dann wird Sentimentalität eine Konter-Aufwallung zu Begierde und Wollust, die nur die reine Gegenwart kennen.<"
 
Herkunft zu lesen als "eine Studie über das Erinnern selbst, als Produktivkraft, Daseinselement und poetischer Antrieb" gibt mir hohen Sinn. Die schrecklichste und verheerendste Erfahrung ist die des Verstummens. Es ist der Zuruf an dirk oschmann und an alle, die ihre Herkunft in Frage stellen:
 

Es gibt einen Punkt, an dem ich dirk oschmann (Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein - 5. Auflage, Berlin 2023) vehement widerspreche, wenn er in Anmerkung 94 (Seite 214) glaubt bemerken zu müssen: "Insofern gilt Odo Marquards berühmter Satz >Zukunft braucht Herkunft< nicht, wenn man die falsche Herkunft hat." 

Ich möchte hier weder ausfallend werden noch abfällig erscheinen. Aber hier irrst Du, dirk oschmann. Von falscher Herkunft zu sprechen - das alleine bedeutet bereits die totale Kapitulation. Das ganze Gegenteil muss unser Impetus und Anspruch sein: Scheiß auf die Deutungshoheit selbst ernannter Eliten oder Beitrittsgewinnler. Jeder einzelne von uns hat eine Stimme. Und wenn er der Auffassung ist, dass er denken kann, dann soll er diese Stimme erheben und damit aufhören das Elend der Welt (und sein eigenes darin) auf Sündenböcke zu projizieren. Mein Neffe hat mir vor Jahren in diesem Sinne einmal seinen Selbstanspruch im Sinne von  e m a n c i p a t i o  - ja die Entlassung aus der väterlichen Hand vermittelt! Oschmanns Botschaft in dieser Hinsicht wird deutlich, wenn er darauf besteht, die individuellen und kollektiven Flugbahnen zu verbinden.

Erst unter dieser Prämisse wächst gleichermaßen Verständnis für die Irrtümer derer, die uns vorausgegangen sind, wie der notwendige Abstand, um unsere eigenen Fehlleistungen selbstkritisch einzuräumen. Nur so kann der Kreislauf nicht enden wollender Vorhaltungen und Schuldzuweisungen den anderen gegenüber durchbrochen werden. Und dies gilt sowohl für die individuellen als auch die kollektiven Verfehlungen.

 

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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