dirk oschmann - es kommt auf die geschichten an - und auf die prämissen (in progress)
für meinen Neffen
dirk oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung (Ullstein - 5. Auflage, Berlin2023)
Ja, ich lese schnell und begreife offenkundig auch noch schnell. Es reicht, exemplarisch einen Argumentationsstrang herauszugreifen aus oschmanns Argumentation, um zu begreifen, dass nach mehr als dreißig Jahren jemand sagen muss, was auf der Hand liegt, was alle wissen und niemand verschweigen muss:
"Heute gibt es kein Gebiet in Europa, in dem der Bevölkerung so wenig von dem Grund und Boden gehört, auf dem sie lebt, in der so wenige Immobilien und Betriebe ihr Eigen nennen können wie im Osten Deutschlands." (Ingo Schulze) Und oschmann fragt: "Und das soll die Realität sein, mit der man sich im Osten >anfreunden< und >abfinden< soll?" (Seite 121)
Nein, damit kann sich niemand abfinden, der - nehmen wir einmal meine Alterskohorte, also die zu Beginn der 50er in die 50er Jahre Hineingeborenen und meinetwegen die Kohorte der sogenannten Babyboomer. Kohortenweise haben sie den Osten nach dem Beitritt kolonalisiert, in den neuen Bundesländern den Rechtsstaat implementiert, ihnen unser Schulsystem übergestülpt. Rechstanwälte, Notare (halt Juristen jeglicher Fach- und Spezialausrichtung , Lehrer, Hochschullehrer, Verwaltungsbeamte (auch in ihrer weiblichen Ausprägung) haben westdeutsche Standards angewendet beim Aufbau Ost. Die Treuhand hat den Weg bereitet für die zweite Enteignungswelle und die Goldgräberstimmung der westdeutschen Wirtschaft (und nicht nur deren Hunger traf auf ein reich bestelltes Feld). Aber das kann man ja alles en Detail nachlesen bei dirk oschmann. Er hat (fast) alle Argumente auf seiner Seite und er leistet einen erklärungskräftigen Beitrag zum Verständnis des etablierten und sich vertiefenden Schismas zwischen Ost und West - zwischen West und Ost.
Vielmehr interessieren mich die Prämissen, die dirk oschmann teils explizit (teils implizit) setzt, um seiner Argumentation eine geschichtliche Perspektive zu geben:
Er fragt: "Welche Geschichte wollen wir erzählen?" Und er stellt zunächst einmal klar, dass er von Hause aus weder Politologe, Historiker noch Soziologe ist, sondern Literaturwissenschaftler (mit einem Schwerpunkt auf der deutschen Literatur zwischen 1750 und 1933). Und er versteht sich "als Laie", dessen Expertise lediglich darin bestehe, "seit Langem teilnehmender Beobachter zu sein". Und nun kommt eine Sequenz, die eben folgenreich ist, wenn man sich auf bestimmte Weise als Sozialwissenschaftler versteht:
"Das bedeutet auch, von mir auf eine Weise zu reden, in der sich Autobiografie und teilnehmende Beobachtung miteinander verbinden, wie man es aus der Ethnografie kennt. Dass dieses Verfahren, >die individuellen und kollektiven Flugbahnen< zu verbinden, sehr erhellend sein kann, zeigen entsprechende Bücher von Soziologen, etwa von Pierre Bourdieu und Didier Eribon oder von Oskar Negt und Steffen Mau in Deutschland..." (Seite 18) Eine Seite zuvor bekennt er eine Trivialität, an der sich letztlich aber alles entscheidet:
"Dass wir, um uns selbst zu verstehen, Geschichte erzählen müssen, liegt auf der Hand. Aber wer darf die eine oder die vielen Geschichten erzählen? Und aus welchen Perspektiven?" (Seite 17) Und wie sehr auch dirk oschmann traumatisiert erscheint wird aus den nachfolgenden Sätzen auf eklatante Weise ersichtlich:
"Wenn eben die in der Regel eben westdeutschen Historiker als zuständige Fachprofis für die Abweisung einer gemeinsamen Geschichte plädieren, bedeutet das auch, dass sich der Westen in die Deutungshoheit unter keinen Umständen nehmen lassen oder auf eine andere Perspektive auch nur einlassen will. Ob der Osten dann wiederum seine eigene Geschichte erzählt, quasi am Katzentisch, ist egal, weil sie ohnehin nicht zählt, sofern sie überhaupt erzählt wird." (Seite 17f.)
Ich danke meinem Neffen für die Gabe. Ich werde dirk oschmann versuchen auf akribische Weise gerecht zu werden (auch durch die von ihm selbst gewählte Kleinschreibung seines Namens). In dirk oschmanns resignativen Anwandlungen spiegelt sich meine eigene Resignation wieder mit Blick auf die Sprachlosigkeit, die wir auch im Westen beobachten bzw. die sich viele von uns verordnen. Damit meine ich im übrigen nicht den unerträglichen Dünnsprech, der in den sozialen Medien seuchenartig grassiert. Ich meine uns alle - uns wohl und gut (aus-)gebildete Nutznießer von mehr als siebzig Jahren geplünderter Friedensrendite. Wir no-names sollten uns nicht verpissen, sondern uns der Anstrengung des Begriffs unterziehen - "die individuellen und kollektiven Flugbahnen verbinden" in der Gewissheit, dass man "zwar vorwärts leben muss, aber nur rückwärts verstehen kann". Diese oschmannsche - auf Sören Kierkegaard gegründete - Einsicht bedeutet Pflicht nicht nur zur Selbsteinsicht, sondern auch zur Selbstpositionierung! Das sind wir allein schon unseren Ahnen sowie unseren Kindern und Kindeskindern schuldig. Und hier meine ich nicht irgendeine deutsche Intellektuellentradition, sondern ich meine u n s - ja uns, die wir das unfassbare Privileg einer soliden Ausbildung und Bildung(?) genossen haben. Es ist übrigens ein Punkt, an dem ich dirk oschmann vehement widerspreche, wenn er in Anmerkung 94 (Seite 214) glaubt bemerken zu müssen: "Insofern gilt Odo Marquards berühmter Satz >Zukunft braucht Herkunft< nicht, wenn man die falsche Herkunft hat."
Ich möchte hier weder ausfallend werden noch abfällig erscheinen. Aber hier irrst Du, dirk oschmann. Von falscher Herkunft zu sprechen - das alleine bedeutet bereits die totale Kapitulation. Das ganze Gegenteil muss unser Impetus und Anspruch sein: Scheiß auf die Deutungshoheit selbst ernannter Eliten oder Beitrittsgewinnler. Jeder einzelne von uns hat eine Stimme. Und wenn er der Auffassung ist, dass er denken kann, dann soll er diese Stimme erheben und damit aufhören das Elend der Welt (und sein eigenes darin) auf Sündenböcke zu projizieren. Mein Neffe hat mir vor Jahren in diesem Sinne einmal seinen Selbstanspruch im Sinne von e m a n c i p a t i o - ja die Entlassung aus der väterlichen Hand vermittelt! Oschmanns Botschaft in dieser Hinsicht wird deutlich, wenn er darauf besteht, die individuellen und kollektiven Flugbahnen zu verbinden.
Erst unter dieser Prämisse wächst gleichermaßen Verständnis für die Irrtümer derer, die uns vorausgegangen sind, wie der notwendige Abstand, um unsere eigenen Fehlleistungen selbstkritisch einzuräumen. Nur so kann der Kreislauf nicht enden wollender Vorhaltungen und Schuldzuweisungen den anderen gegenüber durchbrochen werden. Und dies gilt sowohl für die individuellen als auch die kollektiven Verfehlungen.
Lieber dirk oschmann lies bitte noch einmal, was du auf Seite 15 formuliert hast - zur Erklärung des immer deutlicher werdenden Erfolgs der AfD (vor allem im Osten)!!!
in progress