Friedemann Schulz von Thun - Erfülltes Leben? (Teil I) - hier so etwas wie Teil II
Nun bin ich mit Friedemann Schulz von Thun bis zur Seite 112 vorgedrungen; Seite 112 seines Kleinen Modells für eine große Idee (Erfülltes Leben, 2. Auflage, München 2021). Dies bedeutet, dass die Erfüllung vom Typus Alpha – Wunscherfüllung – genauso wie die Erfüllung vom Typus Beta – Sinnerfüllung – sowie die Erfüllung vom Typus Gamma – Biografische Erfüllung – hinter uns liegen. Es hat sich gelohnt. Mir geraten die Ausführungen Friedemann Schulz von Thuns zu einer großen Bestätigung meiner eigenen Bemühungen (von Thun begleitete mich im Übrigen mein gesamtes Berufsleben und nun auch privat!).
Alle Bücher, die ich seit 2002 vorgelegt habe:
Komm in den totgesagten Park und Schau;
Das Leben ein Klang;
Kopfschmerzen und Herzflimmern;
Die Mohnfrau;
Hildes Geschichte;
Kurz vor Schluss
und erst recht mein aktuelles Projekt einer
Lebenslaufbezogenen Familienrekonstruktion
kreisen um die die von Friedemann Schulz von Thun aufgeworfenen Fragen, deren Prämisse schlicht lautet: „Du und ich, wir haben nur unser Leben, unser Ein und Alles, das in seiner Besonderheit erkannt und gewürdigt sein will (7).“ Von Thun arbeitet sich ab an den Fragen, worin das Wesen der Erfüllung liegt und was im Leben zählt. Er nähert sich seinem Unterfangen in durchaus kritischer Haltung – vor allem mit der Frage, ob ein solches Buch nicht zur Unzeit komme; als sei der Individualismus nicht schon genug ins Kraut geschossen? „Sollte nicht, angesichts der horrenden Bedrohungslagen auf diesem Erdball, unser individueller Lebenslauf ein ganz zweitrangiges Thema werden (9)?“
Geht man aber wie Schulz von Thun davon aus, dass ein erfülltes Leben sich als eines erweisen wird, das nicht nur das Ego und den lustvollen Genuss auf Erden zu steigern trachtet, sondern seine Würde und seine Erfülltheit vor allem auch dadurch gewinnt, dass es Aufgaben wahrnimmt, die dem Wohl des Ganzen dienen, dann rückt die Frage ins Zentrum aller Fragen, wie unser rätselhaftes Gastspiel auf Erden verläuft und wie es ausgeht! In existentiellen Grenzsituationen rückt diese Frage ins Zentrum unseres Denkens und Fühlens. Andy Neumann hat dies in seinem mit heißer Nadel geschriebenen parforce-Ritt - Es war doch nur Regen - auf eindrückliche Weise gezeigt.
So kommt es nicht von ungefähr, dass ich meine Würdigung Friedemann Schulz von Thuns mit Kapitel 6 beginne: Erfüllung vom Typus Delta: Daseinserfüllung! Von Thun verblüfft zunächst einmal mit einer ungewöhnlichen Relativierung seiner bisherigen Bemühungen, denn er behauptet:
„Die Erfüllung vom Typus Delta, von dem jetzt die Rede sein soll, braucht keine Ereignisse vom Typus Gamma, die dem Drama des Lebenslaufs Hoch- und Tiefpunkte, Sternstunden uns Schicksalsschläge, unvergessliche Gänsehaut-Erlebnisse bescheren. Das megasensationelle Ereignis deines Lebens ist bereits unwiderruflich eingetreten und setzt sich in jedem Augenblick fort – auch in diesem Hier und Jetzt, da du diesen Text liest oder hörst, mit meinen Gedanken Verbindung aufnimmst (112).“
Was Friedemann Schulz von Thun auf den nun folgenden sieben Seiten vollzieht, ist nichts Geringeres als der Versuch die Schöpfungsgeschichte aus mindestens zwei Perspektiven auf unser singuläres Dasein zu beziehen. Dies allein mag nicht ungewöhnlich oder gar spektakulär sein. Bemerkenswert und mich selbst zutiefst anrührend ist allerdings die Koinzidenz, die sich einstellt, wenn die aufgeworfenen Fragen aus beiden Perspektiven ins Offene führen; in jene Sphären, die mich selbst zutiefst immer schon umgetrieben haben und mir das Schlupfloch ins Spirituelle ermöglichen, ohne dass ich dort je wirklich heimisch geworden wäre:
Grenzgänger (Die Mohnfrau, Seite 62)
Wenn mein Herz zerfließt
Und alles in mir schreit,
Wenn aller Regen fließt
Und Leben wurzelt breit.
Wenn mein Herz vor lauter Freude weit
Und meine Arme voller Liebe breit,
Wenn alle Unterschiede dann zerfließen
Und Phantasien über alle Ziele schießen.
Wenn Ja und Aber mich erheitern
Und alle Blicke Horizont erweitern,
Wenn Kleinmut meinen Großmut weckt
Und Liebe unsre Wunden leckt,
Wenn es dann läuft,
Und Sonne meine Seele wärmt,
Und wenn mein Selbst in Liebe sich ersäuft,
Vor lauter Wohlsein nur noch schwärmt,
Wenn letzte Tage winken,
Und Frühjahr sich mit Herbst vermischt,
Wenn Hoffnung und Erfüllung ineinander sinken
Und letzter Unterschied sich dann verwischt,
Dann geh ich weg und komme heim
Und ahne jene Grenzen,
Die jenseits bleiben und geheim Für alle –
vor Gräbern und vor Kränzen.
Es sind dann konstruktivistisch inspirierte Grundannahmen, die Friedemann Schulz von Thun dazu veranlassen in allerverständlichster Weise das Unfassbare unserer Existenz anzudeuten:
„Es ist fantastisch und unfassbar, dass es dich >>gibt<<, dass du Augen im Kopf hast, mit denen du etwas von der Welt sehen kannst – und was heißt denn >>sehen<<? Sehen heißt, dass die Lichtwellen, die von unterschiedlichen Dingen auf besondere Weise reflektiert werden und auf deiner Netzhaut ankommen, als Nervenimpulse weitergeleitet werden an dein Gehirn, wo sie in ein Bild verwandelt werden, das dir >>bewusst<< wird und du so ein Bild von der Welt gewinnst – nicht als Abbild ihres Seins, sondern als Erschaffung deines Gehirns. Rot, Grün, Gelb, Blau – das alles trägt den Stempel des Gehirns, wird dort erfunden. Ohne Gehirn gibt es in diesem Universum kein Rot, Grün, Gelb und Blau. Und diese Erschaffung erweist sich im Normalfall (die Fata Morgana ist eher eine Ausnahmefall) als hinreichend adäquat dafür, in ganz unterschiedlichen Situationen Entscheidungen zu treffen, die unser Überleben sichern (112f.).“
Dieter Lenzen hat dies einmal zu der lapidaren Feststellung veranlasst, dass jede Form der Außenrepräsentation immer nur eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation sein könne. Nicht jeder wird nun Friedemann Schulz von Thun folgen, wenn er vom Mysterium unseres Gewordenseins spricht. Er schreibt erkennbar für ein breites Publikum, nicht für die Wissenschaftsgemeinde. Nur so erreicht man vielleicht den Leser, den er mit der Frage konfrontiert, wie denn die Augen in seinen Kopf kommen: „Wer hat sie da hineingetan?“ Schulz von Thun macht uns alle noch einmal zu Grundschüler:innen, denen er das Narrativ vom Bauplan nahebringt:
„Niemand (hat die Augen da heineingetan), sie sind als Teil von dir in deinem Bauplan vorgesehen gewesen und entsprechend gewachsen. Gewachsen? Ja, im Bauch deiner Mutter ist das geschehen, denn du warst (beachte, dass von dir die Rede ist!) zunächst nur eine einzige Zelle. Die war zwar mikroskopisch klein, aber der Bauplan war schon in ihr drin – er wurde dann in den nächsten Monaten wirksam – und zwei Augen mit ganz bestimmten Eigenschaften waren darin vorgesehen und prägten sich dann aus. Und wer war der Baumeister? Die Mutter? Nein, die Mutter konnte nichts machen. Sie konnte nur abwarten und darauf vertrauen, dass es von selbst geschah. Von selbst?? Ja, in dieser Zelle, die du warst, war ein Bauplan erhalten, der sich in einen Prozess der Selbstverwirklichung ohne Eingriff von außen begeben hat. Das ist alles zu fantastisch, als das man es glauben könnte! Eben! Und es kommt noch wundersamer! Wie bin ich denn, also diese eine Zelle, in den Bauch der Mutter hineingeraten? Von nichts kommt nichts! Also, wer hat sie da reingetan, und wer hat diesen mysteriösen Bauplan in die Zelle hineingeschmuggelt? Habe ich nicht ein Recht darauf, über meine Herkunft Bescheid zu wissen? Ja, unbedingt (113f.)!“
Friedemann Schulz von Thun schlüpft weiter in die Perspektive der Grundschüler:innen und schaut mit ihren Augen auf das Mysterium unserer Entstehung und macht – Mysterium – mehr daraus als einen Elementarkurs zum Akt der Zeugung. Obschon er genau mit der Vermutung beginnt, dass „du nicht aus dem Nichts entstanden bist“:
„Du Zelle bist ein Gemeinschaftswerk von Mutter und Vater. Jeder von beiden hat eine (einzige) Zelle von sich selbst (denn der Mensch besteht aus Milliarden solcher Zellen) dazugegeben. Die Zelle der Mutter lag bereit, und der Vater hat seine Zelle zu ihr auf den Weg geschickt – ein erneutes Wunder. Die Mutterzelle enthielt den Mutter-Bauplan, die Vaterzelle den Vater-Bauplan. Und jetzt geschah es, dass diese beiden Zellen einander getroffen haben und sich sodann – halte dich fest! – vereinigt haben. Und diese Vereinigungszelle, das warst du! Jedenfalls steckte da drin, was du werden solltest. Aber von wem habe ich den Bauplan, wer hat den bestimmt? Ja, das ist abermals wundersam, ist von einer unfassbaren Genialität. Die beiden Baupläne haben sich so gemischt, halb von der Mutter, halb vom Vater, dass daraus etwas Neues entstanden ist, was es vorher auf der ganzen Welt nie gegeben hat (114).“
Friedemann Schulz von Thun vermittelt uns allen die authentische Vorstellung, dass wir – jede(r) für sich einmalig im ganzen Universum sind. Er spricht anschaulich von einem Mutter-Vater-Gemisch in einer vollkommen zufälligen Kombination: „Dein Bruder, deine Schwester haben dasselbe Mutter-Vater-Gemisch, aber in einer völlig anderen Kombi, ausgewürfelt vom – wir wissen nicht, von wem, darum sagen wir: vom Zufall (114).“
Wenn wir nicht die Vorsehung bemühen können/wollen, so führt ein Ausweg in der Postmoderne zum Prinzip der Kontingenz: Wir alle sind weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl - so Odo Marquard! Aus der Perspektive von Vorsehung oder gar Prädestination stellt sich natürlich viel eher die Frage, "wer denn der Baumeister war, der an alles gedacht hat und es so gemacht hat, wie er oder sie es im Sinn hatte (115)?" Nach Friedemann Schulz von Thun bedeutet dies die Frage nach der Schöpfungsgeschichte, die aber durchaus auf verschiedenen Annahmen begründet sein kann:
"Die eine Version findest du in der Bibel, im Tagebuch der Menschheit. Danach war Gott der Konstrukteur und hat den Menschen so geschaffen, wie er jetzt ist - und ihn so geformt, dass er ihm ähnlich sei. Der aufgeklärte Wissenschaftler in uns glaubt das nicht - es sei denn, es wäre als Metapher gemeint, als ein Denkbild, um uns das Unbegreifliche vorstellen zu können (115)."
Daher führt die zweite Annahme zur Evolutionstheorie, wonach unsere Baupläne eine lange, Milliarden Jahre lange Geschichte des Werdens und Gewordenseins hinter sich haben. Von Thun führt uns vor Augen, was es bedeutet die Evolutionsgeschichte bis an ihre Anfänge zu denken - unter anderem mit dem Ergebnis, dass "wäre auch nur einer oder eine von deiner Ahnenreihe vor der Geschlechtsreife gestorben, es dich nicht geben würde".
Eine kleine Randnotiz (mit dem Hinweis, sich das erwähnte Interview verfügbar zu machen): Alexander Kluge hat dies in einem Interview mit Denis Scheck zu seinem 80. Geburtstag folgendermaßen verdeutlicht: "Es ist am leichtesten sich zu verankern, in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen."
Zum Schluss - beim Versuch, die Evolutionstheorie an ihre Ursprünge zurückzuverfolgen, holt Friedemann Schulz von Thun entsprechend weit aus:
"Und wenn wir deinen Ursprung noch weiter zurückverfolgen, vielleicht noch einmal so lange wie bisher, wahrscheinlich länger, dann begegnest du irgendwann einem mikroskopisch kleinen Vorfahren, der nur aus einer einzigen Zelle besteht und der - jetzt wird alles vollends unfassbar - aus einem Staubkorn Erde, also unbelebter Materie entstanden ist, irgendwann, irgendwie. Verglichen mit dieser Urverwandlung sind alle späteren Veränderungen - vom Einzeller zum Fisch zum Amphibion zum Säugetier zum Menschen - nur minimale Erweiterungen, obwohl sie von grandioser Unfassbarkeit sind. Aber das dein Vorfahre ein Staubkorn war? Wer soll das begreifen (117)?"
All diese Überlegungen treiben sicher nicht nur Friedemann Schulz von Thun zu einem infiniten Regress. denn die Frage nach dem Urknall (der gegenwärtig weitgehend alternativlos im Raum steht) löst ja nicht nur bei naiven Menschen die Frage aus, wer oder was denn diesen Urknall verursacht hat - und wieso hatte der die Folgen, die er hatte? "Dass es nämlich Sternenstaub gab und gibt, aus dem ich letztlich entstanden bin?"
"Spätestens hier endet unser Wissen, und alles erweist sich als ein großes Mysterium. Ich habe dir auf den letzten Seiten gewiss nichts Neues erzählt und doch habe ich dir und mir diesen Hintergrund unseres Daseins vergegenwärtigen wollen. Denn diese wissenschaftlich fundierte Schöpfungsgeschichte nötigt mir noch mehr staunende Ehrfurcht ab als die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Und wenn du dich als Teil dieses Mysteriums begreifst, wenn du das mal so richtig an dich heranlässt, dann wirst du jeden Augenblick deines Daseins, auch gerade den hier, jetzt, in diesem Moment, als eine unfassbar gigantische Sensation erkennen und empfinden. Das Innewerden dieses Mysteriums - das ist Erfüllung vom Typus Delta (118)!"
Fraglos (Die Mohnfrau, Seite 63)
Immer wenn die Welt sich offenbart,
Dann werde ich ganz still,
Weil meine Spur - die zielbestimmte Fahrt -
Sich wendet und sich ändern will.
Immer wenn sich Größe zeigt,
Verwandle ich mich leise.
Wenn sich ein Irren hin zum Ende neigt,
Werd ich – trotz blinder Flecken – manchmal weise.
Wenn leise Klänge sich verdichten
Und großer Klang entsteht,
Wenn Fragen sich in Fragen lichten,
Ein Hauch von Weisheit uns umweht,
Wenn Farben sich vermischen,
Und Buntheit sich in Grau ergeht,
Wenn aller Hochmut dann verblichen,
Am Horizont ein Hoffen steht,
Dann geh ich auf die Reise
Und frage nicht mehr viel.
Ich wandle einfach still und leise,
Ich spüre Kraft und bin das Ziel.