Friedemann Schulz von Thun - ZU GUTER LETZT
Friedemann Schulz von Thun (*1944) hat an dieser Stelle zuletzt zu überzeugen gewusst mit einem kleinen Modell für eine große Idee. Er hat sich Gedanken gemacht, was man unter einem Erfüllten Leben (Carl Hanser Verlag - München 2021) verstehen könnte. Das von ihm entwickelte 5-Felder-Modell mag er verstehen als Anregung, ein gelebtes - unter Umständen ein langes - Leben zu würdigen. Schulz von Thun geht voran, indem er immer wieder auf eigene Lebenserinnerungen zurückgreift. Er spricht von eigener Beseelung, um das Gedachte und Abstrakte zu veranschaulichen und motiviert damit, die von ihm entwickelten fünf Felder mit eigenen Lebensbeispielen zu füllen. Wäre ich noch aktiv in der Lehrer(aus)bildung tätig, gewiss böte sich Gelegenheit, sein Modell in den von mir entwickelten Veranstaltungen (Professionalität und Selbstbild oder auch in den Grenzsituationen) richtungsweisend anzubieten.
Es macht ganz gewiss einen Unterschied, ob man sich auf naive Weise in ein Berufsfeld hineinbegibt, das auf nachhaltigste Weise die Wechselbeziehung offenbart zwischen den (Aus-)Wirkungen, die dieses Berufsfeld auf den eigenen Lebenslauf ausübt und den professionell begründeten Zielen und Haltungen, mit denen man eigene gestaltende Akzente in diesem Feld setzen will. Von Thun fragt, ob der Leser/die Leserin vielleicht Pastorin oder Trauerredner sei? Die Anstöße für eine Biografiearbeit, die er erwähnt, sollten nicht nur älteren Menschen vorbehalten sein; sie sollten von Anbeginn in einer selbstreflexiven, professionellen Berufsvorbereitung und -ausbildung eine zentrale Rolle spielen. Gestatten wir uns eine Zitat an dieser Stelle, das aufzeigt, wie man aus der Sicht Schulz von Thuns mit den von ihm angebotenen Optionen das Leben eines Menschen zu betrachten und zu würdigen vermag:
"Was war einem Menschen vergönnt, welche Träume konnte er sich erfüllen (das Feld Alpha)? Welchen erkennbaren Sinn hatte sein Leben? Was hat dieser (verstorbene) Mensch für uns bedeutet? Was haben wir ihm zu danken? Wofür hat er, wofür hat sie sich eingesetzt (das Feld Beta)? Wie ist das Leben verlaufen? Was waren die entscheidenden Weichenstellungen? Die Sternstunden? Die Schicksalsfügungen und Schicksalsschläge? Welcher Roman entsteht vor unserem geistigen Auge, wenn wir die Gestalt des Lebenslaufes betrachten (das Feld Gamma)? Welchen Reim hat er sich auf sein Leben gemacht? Welche Lebenseinstellung zu Gott und der Welt war charakteristisch für sie, für ihn? Was bedeutete es ihm, geboren worden zu sein und zu sterben (das Feld Delta)? Und was war er für ein Mensch? Wie trat sein Wesen zutage? Wie werden wir sie, wie werden wir ihn in Erinnerung behalten (das Feld Omega)?
Fünf Felder als Inspirationsquellen und Suchperspektiven. Dabei sollen die fünf Felder Aspekte von Ereignissen/Episoden beleuchten: "Man kann ein und dasselbe Ereignis, ein und dieselbe Lebensphase von fünf Standpunkten aus betrachten." Von Thun weist darauf hin, dass dieses Buch nicht geschrieben worden wäre, wäre er nicht im Jahr 2020 - dem Jahr des Ausbruchs der Pandemie - überwiegend zu Hause geblieben wäre. So zwingt sich von da aus die Frage geradezu auf, wodurch sich wohl ein erfülltes Leben in der Zukunft wohl auszeichnen wird?
"Globalisierung und Internet, Digitalisierung, Wiedererstarken autoritärer Regime, beginnende Demokratie-Skepsis, zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und vor allem: lebensbedrohliche Erderwärmung - all dies schafft im 21. Jahrhundert einen anderen Daseinskontext, als ich ihn im Nachkriegsdeutschland vorgefunden und erlebt habe: Deutschland lag städtebaulich und moralisch in Trümmern, stand als Kriegstreiber und unfassbar grauenhafter Massenmörder vor der ganzen Welt da, war trotzdem im Restbestand davongekommen und konnte sich aus den Ruinen noch einmal neu aufbauen. Der Daseinskontext, den ich im westlichen Teil Deutschlands zwar noch nicht als Kind, aber dann als Jugendlicher vorgefunden habe, war geprägt von Demokratie und menschenwürdiger Verfassung, von Wirtschaftswunder und Rechtsstaatlichkeit, von sozialstaatlicher Mindestfürsorge, vom Bemühen um europäische Integration und Kooperation mit den Nachbarn. Meine Güte, ein Leben in Frieden und Freiheit, mitten in Europa, dem großen Schlachtfeld vergangener Jahrhunderte! An der Spitze des Staates standen nicht ein Adolf Hitler, sondern ein Konrad Adenauer und später ein Willy Brandt, ein Helmut Schmidt, eine Angela Merkel. Was für ein ethischer Quantensprung."
Ein langes Zitat, dem Schulz von Thun im Übrigen selbst hinzufügt, dass dies natürlich eine allzu idyllische und unkritische Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland sei - noch dazu von jemandem, der privilegiert sei in diesem System. Gleichwohl - das Buch ist vor dem 24. Februar 2022 auf den Buchmarkt gelangt - egeben sich daraus weitere zentrale Fragen, die nach der sogenannten Zeitenwende vielleicht in einem anderen, einem grelleren Licht erscheinen.
Ich folge der Sicht Friedmann Schulz von Thun und werde nicht müde zu betonen, dass Deutschland seine Lektionen gelernt hat. Im Zuge der Wiedervereinigung hat Deutschland mit dem Bekenntnis zum Gewaltverzicht und der Anerkenntnis der deutschen Ostgrenze (Oder-Neiße-Linie) internationale Standards gesetzt. Die Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes hätten auch Russland - selbst wenn man bedenkt, dass noch die Sowjetunion zu den Siegermächten des Zweiten Weltkrieg gehörte - die Gelegenheit geboten seinerseits diese Lektion zu lernen. Die Sowjetunion ist von der politischen Landkarte verschwunden, und niemand hat das Recht in iperialistischen Phantasien ihre Wiederauferstehung zu betreiben! Unser Bestreben muss es sein, mit aller Macht zu verhindern, dass jemals ein Wiedergänger Adolf Hitlers auch nur ein Yota Anteil gewinnt an jener staatlichen Macht, die auf der zeitlich begrenzten Mandatierung von Ämtern einerseits und einer intakten Gewaltenteilung andererseits beruht. Genau hierin unterscheiden wir uns vom Russland Putins. Sein Lebenslauf kann nur noch als der eines autokratisch agierenden Gewaltherrschers geschrieben werden - als der eines Kriegsverbrechers, der nach innen mit Angst und Terror regiert und dessen Außenpolitik jegliches internationale Recht verächtlich macht.
Im Sinne eines erfüllten Lebens lässt Friedemann Schulz von Thun keinen Zweifel daran, welche Fragen sich jeder einzelne von uns beantworten muss:
"Wie kann ich, wenn die Würde des Menschen jetzt unantastbar sein soll, als Individuum von meiner Freiheit so Gebrauch machen, dass ich ein Leben führe, das mir entspricht? Wie geht es meiner Seele dabei? Was kann ich tun, wie kann ich mich wehren, wenn ich mich drangsaliert, diskriminiert oder ausgebeutet fühle? Und wie können wir im Privaten, im Beruf und in der Öffentlichkeit miteinander umgehen, das Toleranz und Verständigung gelingen? Wie können wir >den Muff von tausend Jahren< überwinden, den >Untertanen< (Heinrich Mann) in uns, den autoritären Charakter hinter uns lassen und in eine parternschaftliche Haltung mit Selbstachtung, Respekt und Wertschätzung hineinwachsen?"
Familie, vorschulische Einrichtungen, Schulen, staatliche Institutionen und Zivilgesellschaft müssen hierauf lebendige und tatkräftige Antworten finden, damit der Unterschied zwischen totalitärer Gewaltherrschaft und demokratischer legitimierter Herrschaft immer mit der notwendigen Trennschärfe gesehen und gelebt wird.