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(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffenen wir das vierundzwanzigste Türchen (24)

Familie - die (vor-)letzte Bastion in eisiger Zeit

In der dritten Adventswoche hatten wir Bescherung – in der Spitze mit 14 Grad minus bescherte uns Hochdruckeinfluss für eine Woche tiefwinterliche Verhältnisse. Am 18. Dezember bin durch diese Winterlandschaft gewandert, hoch oben auf dem Heyerberg, der mir seit 40 Jahren vertraut ist. An diesem Sonntagmorgen war es hell, und die Sonne ließ die verschneiten Ackerflächen in ihrer gleißenden Helle erstrahlen gegen einen sanft-blauen Himmel mit milchigen Rändern. Und das Dunkel des Waldsaumes wurde gemildert durch Schnee- und Eiskristalle auf Ästen und Gestrüpp. Die Steigerung – oder vielleicht auch nur die andere Seite – tiefen Winters fasst Karl Ove Knausgard in Worte. Er spricht vom Wesen des Winters:

„Wenn der schneebedeckte Wald reglos unter dem schwach dämmernden Himmel steht, herrscht vollkommene Stille. Wenn es dann anfängt zu schneien und die Luft sich mit Schneeflocken füllt, ist es vollkommen still, aber diese Stille ist anders, sie wird sozusagen dichter, konzentrierter, und dieses Geräusch, das kein Geräusch ist, sondern bloß eine Nuance der Stille, eine Art Intensivierung oder Vertiefung davon, ist der akustische Ausdruck für das Wesen des Winters.“

Mit Herbert Rosendorfer greife ich die Frage nach dem Wesen des Winters auf – Herbert Rosendorfer, der gegen seine Schilderung einer Schlittenfahrt in den aufbrechenden Tag hinein, in die Helle, in die strahlende Kraft eines aufbrechenden Wintertages hinein die Rückfahrt durch die Alpenlandschaft – wie eine Art Kontrapunkt setzt:

„Als es dämmerte – dort im tiefen Winter um drei Uhr –, wurde dem Kutscher die Pferde wieder einzuspannen geheißen […] Die nächtliche Luft schlug uns wie ein Tuch unter der gedrungenen Tür des Gasthauses entgegen. Freiwillig verzichtete ich jetzt auf den Platz am Bock und setzte mich zwischen meine Großeltern. Wieder zogen die Pferde mit einem Ruck, der alles schüttelte, den Schlitten an […] Die Dämmerung, und bald die Nacht, verzauberte die Landschaft vollends. Tiefblau zogen sich die langen Schatten, die die schwarzen Fichten im vollen Mondlicht warfen, über die schweigend verschneiten Felder. Die Nacht wölbte sich mit den tausend funkelnden Sternen über die winterliche Einsamkeit der Straße. Von den Höfen blitzten die rötlichen Lichter der kleinen erleuchteten Fenster, die fast vom Schnee erstickt schienen. Der dampfende Atem der Pferde war nicht mehr zu sehen, das Klingeln der Schellen weckte hie und da die Krähen in den Fichten, die sich schreiend erhoben und hinter uns sich wieder in die Zweige setzten, die jedesmal einen Berg ihrer Last an Schnee polternd entluden. Die obwohl verschneit, tiefschwarzen Berge hoben sich in einem Panorama von Silhouetten vom unendlich tief-schwarz-smaragdenen Himmel ab, und nichts, kein Hauch, kein Atem, nur die unendliche, eisige, glasharte und spröde Ruhe des mächtigen Winters schien um  uns in dem jetzt eiligeren Schlitten – eingehüllt in Decken, satt und warm…

Kleiner Exkurs: Der Schönheit der Sprache (des Sprachgebers) – ich bemühe einmal die Linguistik bzw. Semiotik – gelingt es mit ihren wenigen Zeichen etwas in die Welt zu zaubern, das wir in diesem Fall als Winter bezeichnen. Ich folge Karl Ove Knausgard, das es eines Bezeichners bedarf (Signifikant), um das Bezeichnete (Signifikat) – hier den Winter – in seinem Wesen zu erfassen. Allein schon das Erlesen versetzt uns in die Lage, die Einzigartigkeit und Strahlkraft eines Gegenstandes zu begreifen. Aber Vorsicht: Beide, sowohl Signifikat als auch Signifikant, sind vom Gegenstand und dem wirklichen Ding zu unterscheiden. Das wirkliche Ding ist so unendlich vielfältiger, und keine Schilderung vermag ihm gerecht zu werden (bleibt doch der Winter in den beiden Schilderungen in all seinen brutalen Facetten <Lawinen, Kälte, Frost, Not, Tod> vollkommen ausgrenzt). Wir werden also mit all unseren Bemühungen das Wesen verfehlen und nur irgendwelche Teilaspekte erfassen können; aber immerhin - und für heute, mit Blick auf Weihnachten, will ich mich genau damit auch begnügen.

Und entgegen einer Wesensbestimmung gestattet mir meine kleine Impression - über einen  Abstand von mehr als 60 Jahre hinweg - mit Momenten zu spielen, die die anheimelnde und unschuldige Winterimpression gleichermaßen missbrauchen, um Kontextmomente zu offenbaren, die das naive Erleben im Nachhinein vielfältig brechen und relativieren und eben für Facettenreichtum sorgen:

Dies ist ein kleiner Vorabdruck, mit dem wir schon den Schritt wagen durch das 24. und damit letzten Türchen  meines Adventskalenders (der vorstehende Link führt zurück ins letzte Jahr 2021, und es obliegt mir an dieser Stelle Innezuhalten und meines Freunds Winfried Rösler zu gedenken). Denn im Gegensatz zum letzten Jahr habe ich viel Kontext gestrichen,  um wenigstes anzudeuten, wie unbefangen und unbeschwert unser Weihnachtserleben in der Kindheit war:

Aus meinen Kindheitserinnerungen ragt ein Heiliger Abend mit großer Strahlkraft heraus, weil er mir ganz und gar besonders und einzigartig vorkommt, nicht zuletzt, weil er uns die immer heiß ersehnte weiße Weihnacht bescherte. Es muss eine Weihnacht Anfang der sechziger Jahre gewesen sein, vermutlich noch bevor mein Vater sich das erste eigene Auto - immerhin ein Mercedes 180 mit Weißbandreifen - leistete. Denn er zog mit uns - mit meinen Bruder Willi, meiner Cousine Gaby und natürlich mit mir - in der Dämmerung los; auf die andere Seite der Ahr, wo hoch über Bad Neuenahr ein Bergfriedhof Heimstatt bot für die, die schon gegangen waren. Kleinen Zwergen gleich zogen wir frische Spuren durch den Neuschnee und fühlten uns wohlbehütet, geborgen in der Aufmerksamkeit und Fürsorge der großen Familie.

Wie auf einer Postkarte kommt mir dieser Spaziergang durch die verschneite Winterwelt vor, erfüllt von einer eigentümlichen Spannung. Den Heiligen Abend und die Bescherung vor Augen wanderten wir durch die schneeerfüllte Luft hinein in die Dämmerung; hinein ins Dunkel, in die Friedhofsruhe – immer in der beruhigenden Gewissheit, dort ein wenig zu verweilen, das Leben zu fühlen, innerlich jauchzend schon in der Vorfreude auf das, was uns erwartete; in der Gewissheit, dass wir zurückkehren würden in die warme, strahlende Stube, wo das Christkind noch am Werk war, und wo sich alles nur um uns drehen würde.

Während ich so phantasiere, spüre ich wieder die Kälte, eingemummelt in warme Winterkleider und sehe vor mir das weihnachtliche Motiv einer weißen Friedhofslandschaft. Wir stehen am Grab meiner Großeltern. Unser warmer Atem malt helle Schleier in die kühle Schneeluft. Mein Vater zündet eine Kerze an; auf fast allen Gräbern flackern die schwachen, zarten Lichter der Erinnerung. Und so oft ich später an sein Grab kam, war schon jemand vor mir da. Auf jenem Grab, in dem auch seine Eltern begraben sind, brannte eine Kerze für ihn. Nur fünf Meter und eine Gräberreihe trennen ihn heute von seinem Sohn, Willi (meinem jüngeren Bruder). Und Gabys Vater liegt zwei Gräberreihen entfernt, alle ganz nahe beieinander. Und 2003 bzw. 2004 haben dort, im großelterlichen Grab mütterlicherseits meine Mutter und meine Tante, Gabys Mutter, ihre letzte Ruhe gefunden. Von meiner Herkunftsfamilie leben nur noch meine Schwester und ich – und meine Cousine Gaby gehört wie eh und je dazu. So sind wir heute in der Unterzahl und es gibt nicht mehr so viele, die eine Kerze entzünden.

Aber damals an diesem Heiligen Abend wird uns der Rückweg zum Fest. Es hat wieder zu schneien begonnen mit dicken und doch so leicht daher schwebenden Flocken: Die menschenleeren Straßen und die Parks vermitteln eine behagliche Ruhe, alles geschäftige Leben ist erstorben und weicht einer weihevollen Stille. Doch in uns brennt die Fackel erblühenden Lebens. Im schwachen Licht der Straßenlaternen tänzeln und glitzern die feinen Schneekristalle wie pulverisiertes Lametta. Der Schnee hüllt Dächer und Straßen, Bäume und Plätze in ein festliches Weiß. Alles deckt er zu und weckt in mir eine Art beharrlichen Gleichmut, der  mich wie ein basso continuo in meinem Leben immer wieder besänftigen und ermuntern wird. Jeder Schritt im weichen, frischen Schnee führte uns damals hinein in ein Leben, das uns an diesem Tag herrlich und endlos erschien. Wir gehören zusammen, fühlen uns verbunden, und so tauchen wir ein in die festliche Stimmung – immer noch Vorfreude. Und niemand ist allein! Alle Fenster leuchten, manche hell wie der Weihnachtsstern, andere heimlicher und flackernd wie ferne Gestirne. Aber alle verheißen das Weihnachtsfest. Und alle Menschen kommen zusammen, die zusammengehören.

Alle?

Erst Jahrzehnte später - im Nacherleben dieser heiligen Stimmung - kriechen unter der geschmolzenen und mürbe gewordenen Schneedecke Fragen ans Tageslicht: Wie wohl Gaby das alles erlebt haben mag. Gaby, deren Eltern - meine Tante und mein Onkel - zwar geschieden waren, dies aber gewissermaßen im Verborgenen lebten, um ihrer Tochter einen Rest an Geborgenheit zu gewähren. Im Alter von zehn Jahren hatten wir in unseren bescheidenen Vorstellungen von der Welt noch kein wirkliches Bewusstsein davon, was denn ein Scheidungskind wäre, und viel weniger noch Begriffe parat für den Fall, dass Eltern getrennte Wege gehen. Ob wir durch die große Familie und unsere Gemeinsamkeit das Fehlen ihres Vaters ein wenig abgemildert haben? Das Trauma, ein Scheidungskind zu sein, überwinden nicht alle. Manch eine(r) trägt sein Leben lang an dieser Kränkung, die uns Geborgenheit nimmt und Zugehörigkeit zutiefst in Frage stellt. Wie glücklich darf ich mich schätzen, dass ich alle Liebe, alle Fürsorge und alle Anerkennung dieser Welt bis zum letzten Atemzug meiner Eltern tief in mich aufnehmen durfte. Sie leben weiter in der Liebe, die durch mich in meine Kinder und Enkelkinder übergeht.

In diesem Jahr 2022 – eineinhalb Jahre nach der schrecklichen Flut im Ahrtal - feiern wir in der großen Familie mit unseren Kindern und Schwiegerkindern, mit unseren Enkelkindern, mit den Schwiegereltern Annes das Weihnachtsfest gemeinsam. Leo hat lange schon - nach seinem Beinbruch im Dezember vergangenen Jahres - das Laufen wieder gelernt, gemeinsam mit seiner Schwester Jule.

Ich wünsche allen, die – auch in diesem Jahr – sporadisch meinem Adventskalender gefolgt sind, ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr (an die am 11.12. Geborenen in meinem Wahrnehmungskreis denke ich mit Dank für Resonanz – zuletzt mit Josefs Blick auf Josef und die Keramik-Madonna in der Liebfrauenkirche – den Facebook-Nutzern sei die dazu angelegte Madonnen-Foto-Reportage empfohlen, die meisten werden wissen, wo sie fündig werden (:-).

 

Die Textstellen von Karl Ove Knausgard und Herbert Rosendorfer sind entnommen aus: Weihnachtszauber (Diogenes), Zürich 2019 (Knausgard, Seite 209 und Rosendorfer, Seite 249f.). Vielen Dank Ingrid und Klaus für die Weihnachtsgabe und vielen Dank, liebe Claudia, für das Aufspüren der Textstellen (:-))

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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