(M)Ein Adventskalender (2022) - heute öffnen wir das dreiundzwanzigste Türchen (23)
„‚Josef war der erste Feminist‘, sagt der Pfarrer (Marie-Lucas N’Dione aus Joinville in Nordfrankreich). ‚Kein Held, aber heldenhaft.‘ Er ließ sich ein Kind unterjubeln, um das er sich rührend kümmerte. Er nahm das Wohl seiner Frau wichtiger, als den eigenen Stolz. Er war ein Normalo, der angesichts der Umstände über sich hinauswuchs. Ein Mann der Tat, nicht der Worte (ZEIT vom 22. Dezember 2022 – Dossier: Josef).“
Es ist diese kleine Passage in der ersten Spalte, die Josef – Marias Josef – in eine familiendynamische Konstellation hineinkatapultiert, die einen Sturm fegen lässt durch die Niederungen so omnipräsenter Spießerkulturen, in denen Moral immer die Kraft und Gewalt hatte auszugrenzen, radikal auszugrenzen. Versteht man unter Moral Konventionen bzw. Regeln, mit deren Hilfe gut und richtig von böse und falsch geschieden werden können, dann hatte deren rigide Anwendung niemals Spielraum und Toleranz für das Abweichende. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! (Bergpredigt 7,1) Wer von den Hoffärtigen käme auf die Idee, 6,14 und 6,15 der Bergpredigt als Mahnung ernst zu nehmen, wenn es da heißt:
„Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben.“ Und: „Wenn ihr aber den Menschen ihre Verfehlungen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“
Das Dossier über Josef hat mir – der ich Josef heiße (neben Franz) noch einmal offenbart, wer in meiner Familie der Josef war. In unserer Familie hieß Josef Theo, wurde am 11.12.1922 geboren – im Herzen und in Gedanken habe ich mich seines einhundertsten Geburtstages auch mit Wehmut erinnert. Könnte er lesen, was ich hier aufschreibe, würde er lachend abwinken und mir bedeuten: „Mach nicht so viel Aufhebens.“ Ich habe gestern im 22sten Adventskalendertürchen schon angedeutet, dass sich eines der unzähligen Ausgrenzungsdramen mitten in meiner Herkunftsfamilie vollzogen hat. Die engere und weitere Nachbarschaft schuf ein Klima und sorgte dafür, dass Hilde, die erst zehn Jahre später meine Mutter werden sollte, weg musste aus der Gemeinde der selbstgerechten und gnadenlosen Christengemeinde, um ihr Kind – ein Kind der Schande – fern von zu Hause zur Welt zu bringen. Heute würde ich ihnen noch eine andere Stelle der Bergpredigt entgegenschleudern: „Alles nun, was ihr wollt, dass die Leute euch tun sollen, das tut auch ihr ihnen ebenso (7,12).“ Theo heiratete Hilde und nahm ihre Tochter an Vaters Stelle an. Dazu mehr hier (für alle, die es interessiert).
In derselben ZEIT-Ausgabe wird die „Weihnachtsfrage“ gestellt: „Woran kann man noch glauben?“ Matthias Katsch, Opfervertreter und Sprecher der Initiative „Eckiger Tisch“ äußert sich zum Begriff Fortschritt. Er erzählt über seine Großmutter, die als junge Mutter die faschistische Diktatur erlebte und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin überlebte:
„In ihrem fast hundertjährigen Leben hat sie gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritt erlebt. Dass wir einst mit der ganzen Welt über ein Medium verbunden sein würden, hätte sie sich im Dunkel des Dorfes ihrer Kindheit nicht vorstellen können. Ebenso wenig hätte sie es für möglich gehalten, dass ihre Enkel, nämlich ich, einmal einen Mann heiraten würde. Dennoch hat sie mit uns diesen Tag gefeiert …] Und ich bin überzeugt: So wie die Diskriminierung von Minderheiten oder die früher allgegenwärtigen Gewalt in der Erziehung gesellschaftlich überwunden wurde, wird eines Tages auch sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen überwunden sein.“
In diese Hoffnung fügt sich Henning Sussebachs Schlussakkord ein, mit dem er Geniviève Belbézier das Wort gibt, die meint, man müsse beharrlich, geduldig und verlässlich bleiben, eben wie Josef: „Der half einst einer Frau, jetzt helfen wir ihm.“ Sie helfen ihm im Gedächtnis zu bleiben – vielleicht so, wie ihn uns der Pfarrer im Eingangszitat vorstellt.