(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das einundzwanzigste Türchen (21)
Deutschland - ein Wintermärchen
Im traurigen Monat November wars,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reißt ich nach Deutschland hinüber.
So hebt Heinrich Heine an - Caput I seines Wintermärchens, mit dem er Deutschland besingt (Deutschland ein Wintermärchen, Frankfurt 2005 <Fischer Taschenbuch Verlag> Seite 113-206). Er begegnet uns als heimattrunkener Bänkelsänger -
Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaubte sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.
Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zu Mute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.
um uns dann mit seinem mäandernden Epos eine bissige Kritik der staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland zu bieten. Nach nahezu vierhundert Vierzeilern wendet er sich in Caput XXVII den Fürsten und Königen zu, um sie mit vernichtender Drohgebärde zu exekutieren. Ach wäre es nicht nur ein Wintermärchen, sondern allen Despoten dieser Welt gegenüber ein unabwendbares Fatum - Heinrich Heines Epos bliebe nicht nur ein Märchen. Er mahnt und droht:
O König! Ich meine es gut mit dir
Und will einen Rat dir geben:
Die toten Dichter, verehre sie nur,
Doch schone die da leben.
Beleidge lebendige Dichter nicht,
Sie haben Flammen und Waffen,
Die furchtbarer sind als Jovis Blitz,
Den ja der Poet erschaffen.
Beleidge die Götter, die alten und neun,
Des ganzen Olymps Gelichter,
Und den höchten Jehovah obendrein -
Beleidge nur nicht die Dichter!
Die Götter bestrafen freilich sehr hart
Des Menschen Missetaten,
Das Höllenfeuer ist ziemlich heiß.
Dort muß man schmoren und braten -
Doch Heilige gibt es, die aus der Glut
Losbeten den Sünder, durch Spenden
An Kirchen und Seelenmessen wird
Erworben ein hohes Verwenden.
Und am Ende der Tage komm Christus herab
Und bricht die Pforten der Hölle;
Und hält er auch ein strenges Gericht,
Entschlüpfen wird mancher Geselle.
Doch gibt es Höllen, aus deren Haft
Unmöglich jede Befreiung;
Hier hilft kein Beten, ohnmächtig ist hier
Des Welterlösers Verzeihung.
Kennst du die Hölle des Dante nicht,
Die schrecklichen Terzetten?
Wen da der Dichter hineingesperrt,
Den kann kein Gott mehr retten -
Kein Gott, kein Heiland erlöst ihn je
Aus diesen singenden Flammen!
Nimm dich in acht, daß wir dich nicht
Zu solcher Hölle verdammen.
Zu viele, allzu viele reißen die Despoten mit in jene Hölle, die doch ihnen vorbehalten sein sollte. Heinrich Heine selbst hat seinem Epos den Titel Märchen gegeben. Auch er wusste um das Beharrungsvermögen der Missetäter und hatte eine Ahnung davon, wie sehr den Missetaten ein systemisches Eigenleben beschieden ist; ein Eigenleben, das manchmal skurrile Folgen zeitigt: Eine 97jährige Frau muss sich vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Itzehoe verantworten: Nach Festellung der Strafkammer war die Angeklagte von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur von Stutthof bei Danzig tätig. Damit habe sie den Verantwortlichen des Konzentrationslagers bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet (so in der TAZ zu lesen). Was würde Fritz Bauer dazu wohl sagen, bedenkt man, mit welchen Widerständen er 1963 zu Beginn der Auschwitzprozesse zu kämpfen hatte?