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(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das siebte Türchen (7)

 Schon wieder Soziologie (:-(

Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft

in der wir schon längst leben!

Der Luhmann-Schüler Dirk Baecker hat bereits 2007 im Suhrkamp-Verlag "Studien zur nächsten Gesellschaft" veröffentlicht - darin einen knappen Beitrag, den er in Anlehnung an Niklas Luhmann "Familienglück" nennt (S. 191-205): Um eines vorwegzunehmen - auf diesen knapp 15 Seiten werden wir nichts erfahren über "Familienglück". Gleichwohl geht es um elementare Einsichten. Die taugen aber eher dazu Fragebedarf und Skepsis gleichermaßen zu erhöhen:

Beginnen wir mit Dirk Baeckers letztem Satz:

"Man wird jedoch als Form der Bewältigung dieser Ungewissheit wissen, dass man es genau dann mit einer Familie zu tun hat, wenn man auf Leute stößt, die Verantwortung dafür übernehmen, wie der andere geboren wird, lebt und stirbt (S. 205)."

Dirk Baecker rechnet die Familie zu den Einmalerfindungen der Gesellschaft: "Sie ist in ihrer Funktion der Bereitstellung eines Schutzraumes für die Aufzucht des Nachwuchses der Gesellschaft ebenso unverwüstlich wie unverzichtbar." Gleichwohl wird man konzedieren müssen, dass andere gesellschaftliche Einrichtungen - Kirche, öffentliche Erziehung und Betreuung (vorschulische Einrichtungen und Schule) - in Konkurrenz zur Familie treten. Hinsichtlich der Unverzichtbarkeit muss offenkundig ein weiteres Alleinstellungsmerkmal hinzukommen: Neben der Bereitstellung eines Schutzraumes für die Aufzucht des Nachwuchses greift Baecker auf die Annahme zurück, das Familien populationsökologisch eine weiteres Argument für sich reklamieren können: nämlich dass sie einen geschützten Raum auch für die Kommunikation von Intimität - wenn sie Dauer wolle - zur Verfügung stellen; zusätzlich bzw. parallel zur Aufzucht von Kindern und der Versorgung der Alten. Die Familie als imitationsfertige und variationsgeeignete Form stellt also offenkundig daneben einen Rahmen bereit, der - wie Peter Fuchs meint - geeignet zu sein scheint, Intimpartnern eine wechselseitige Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz zu ermöglichen. Wir gelangen auf diese Weise zu einer soziologischen Verortung und Funktionszuweisung, die die Familie mit den Worten von Dirk Baecker als einen Attraktorzustand erscheinen lässt, in dessen Einflussbereich wir geboren werden und aufwachsen

"und sei es in der Form der Kommunikation eines Mangels, wenn es an der Familie fehlt. Und in den Einflussbereich dieses Attraktors gerät, wer sich auf Dauer binden will, Kinder aufziehen und seine Eltern versorgen möchte, so sehr die Formen hierfür variieren und so sehr die daraus entstehenden Aufgaben durch die Größe der Familie unterschiedlich verteilt und durch Zusatzleistungen der Gesellschaft ergänzt und ersetzt werden können (S. 192)."

Bereits nach einer guten Seite konzediert Dirk Baecker, dass sich die Kommunikation über (oder auch in) Familie(n) auf ihre Mängel konzentriert - zumindest dann, wenn es an Familie fehlt bzw. wenn es ihr als Form nicht gelingt einen positiven Referenzrahmen bereitzustellen. Nicht von ungefähr betont Baecker die Imitationsfertigkeit und die Variationsbreite der Form Familie. Auf diese Weise kann sowohl über ideale Szenarien spekuliert werden als auch über Defizite oder gar krankmachende Fehlformen:

"Die Familie ist der Ort, an dem man geboren wird, aufwächst und stirbt, so sehr man dann auch zeit seines Lebens damit zu tun hat, die Grenzen dieses Ortes kennenzulernen, auszuloten und zu überschreiten (191) ."

Die Familie ist also eine soziale Einheit. Sie kennt und kultiviert bestimmte Formen der Bindung; Bindung offenbart und lebt sich aus in selbstverständlicher Zugehörigkeit. Ob und wie man Zugehörigkeit verspielen kann, löst in Familien häufig brisante Kontroversen und Konflikte aus, die nicht selten die Familie als soziale Einheit nachhaltig gefährden bzw. in Frage stellen. Dabei ist mit Dirk Baecker zu bedenken, dass die Personen in einer Familie nicht oder nur begrenzt - nämlich unter Ehegatten - ausgetauscht werden können (Eltern und Kinder bleiben, wer sie sind). Baecker betont, dass daher Variabilität der Familie sowohl im kulturellen Vergleich als auch im biografischen Ablauf nur aus einer Variabilität der Person gewonnen werden könne. Er bezeichnet das als gesellschaftlich untypisch. Ob das gesellschaftlich untypisch ist, das ist die eine Frage. Die andere -letztlich entscheidende - Frage ist, ob es überhaupt biografisch möglich ist, so etwas wie Variabilität an den Tag zu legen. Variabilität stößt vermutlich an enge Grenzen. Greifen wir einmal ein gleichermaßen kontroverses wie empirisch evidentes Phänomen auf:

Thomas Schäfer schreibt in seinem Buch Was die Seele krank macht und was sie heilt (München 1998) auf Seite 77: "Ob jemand seine Eltern achtet oder nicht, hat immer eine Rückwirkung auf ihn: Ein Mann schimpfte mit den unflätigsten Ausdrücken auf seine Mutter. Es tat weh, ihm zuzuhören [...] Wer seine Eltern verachtet, lehnt gleichzeitig auch sich selbst ab, denn jeder Mensch ist sein Vater, ist seine Mutter, und darüber hinaus bringt er etwas Eigenes mit. Dieses Eigene hat jedoch nur dann eine Chance, zur Blüte zu gelangen, wenn man seine Eltern so nimmt, wie sie sind." Interessant ist in der Folge, dass Schäfer aufgrund vielfacher Beobachtungen zu der Auffassung gelangt, dass sich im Stellen von Ansprüchen eine besondere Form der Ablehnung manifestiere: "Wer Ansprüche stellt, verweigert das Nehmen und fühlt sich groß. Wenn er das nehmen würde, was ihm die Eltern geben, müsste er die Ansprüche aufgeben. Viele halten lieber den Anspruch aufrecht, und deshalb kann ihnen die Trennung von der Eltern nur schwer gelingen. Wenn man trotzig glaubt, man müsse dieses oder jenes noch im nachhinein von den Eltern erhalten, bleibt man fest an sie gebunden, ohne sie jedoch genommen zu haben (a.a.O., Seite 84)."

Evidenzbasierte Wissenschaft, evidenzbaiserte Therapie - wenn der Therapeut/die Therapeutin bekennt, dass es weh tut, dem Klienten in seinen Abrechnungen mit Vater und Mutter zuzuhören, dass sich spontan das Bedürfnis einstellt, Türen und Fenster zu öffnen, dann kann das im besten Fall zu einem Spiegel geraten, in dem der Klient/die Klientin erkennt, wie er gleichermaßen seine Eltern und sich selbst verfehlt. Heilsam oder auch Entsetzen auslösend mag sich dann unter Umständen die Erkenntnis einstellen, dass der hier gepflegte, schädigende Beziehungsmodus eben nicht beschränkt bleibt auf die Dyade Kind ./. Eltern, sondern dass sich dies in der nächsten Generation fortsetzt und auf unkalkulierbare Weise Bahn bricht.

Schließen wir diese Anregungen ab mit ein paar Auslassungen, die die ZEIT (18/22, Seite 31) ihren Lesern abgelauscht hat - ausgelöst durch die Bitte den Teilsatz: Familie 2022, das ist... zu ergänzen. Hier ein paar Rückmeldungen:

  • den Dreck der anderen wegzuräumen;
  • die Angst davor, den eigenen Liebsten keinen Schutz vor Krieg udn Klimakatastrophe bieten zu können;
  • sich ewig als Kind zu fühlen, obwohl man schon längst erwachsen ist;
  • ein Anker, der sogar dann noch Halt gibt, wenn Freunde weichen;
  • Liebe und Verlust;
  • ein schwieriges Thema. Drei sehr unterschiedliche Geschwister, gegenseitige Erwartungen, die nicht zu erfüllen sind. Latente Konflikte, hohe Verletzungsgefahr, Eifersucht;
  • hoffen, dass es Oma und Opa gut geht;
  • Verwandtschaft, aber nicht mehr;
  • durch nichts zu ersetzen;
  • wenn Menschen meinen, sie könnten alles bestimmen und man habe nach ihrer Pfeife zu tanzen. Kann krank machen.
  • Geborgenheit und Liebe;
  • die Basisstation;
  • die Heimat eines Kindes;
  • in Nähe und Liebe, in Enttäuschung und Toleranz zu leben;
  • eine Zumutung - aber so ist das Leben, und so ist es schön;
  • gemeinsam gegen Ungewissheit, Angst und Unsicherheit zu stehen, sich mit Liebe und Optimismus zu motivieren und andere damit anzustecken, um ein Zeichen für die Zukunft zu setzen;
  • mit seinen Kindern erneut Ereignisse besprechen zu müssen, von denen man gehofft hatte, sie nie besprechen zu müssen;
  • ein Miteinander, das wächst und mal besser und mal weniger gut funktioniert;
  • vielleicht der letzte fixe Bezugspunkt moderner Gesellschaften;
  • oder wie mein Ex-Schwager zu bemerken pflegte: Familie bedeute, von Gott gegebene Feinde zu haben(:-(
  • Ich hätte es gerne etwas versöhnlicher mit der Soziologien Jutta Allmendinger, die meint: "Nicht starr. Familie bedeutet: Kopf und Herz zu öffnen für andere Menschen."

Hier geht es zum achten Türchen (8)

   
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