(M)Ein Adventskalender (2022) - Heute öffnen wir das achte Türchen (8)
Beobachten – Zuhören – Redenlassen
„Die Kindheit selbst tritt in Erscheinung. Dieser radikale Zustand, in dem man der Welt noch offen entgegenwächst, statt sich abzuschirmen gegenüber den überall lauernden Verletzungen.“
So zu lesen in: Etwas wütet in ihnen (ZEIT, 44/22, S. 37). Der Beitrag setzt sich mit Safe auseinander; eine Serie, in der das Drehbuch von der Oscar-Preisträgerin Caroline Link stammt. Sie führt auch Regie. Anna-Lena Scholz spricht von einem „Kammerspiel im Spielzimmer – so markerschütternd nah und realistisch wirkt es, als quelle das Innenleben dieser Kinder aus dem Fernseher hinaus“.
Damit scheint Anna-Lena Scholz eine angemessene Perspektive einzunehmen. Über die Kinder und Jugendlichen wissen und erfahren wir wenig. Sie sind Objekte der Beobachtung. Anna-Lena Scholz schreibt einen Beitrag für die ZEIT – eine gestandene Journalistin. Caroline Link schreibt das Drehbuch und führt Regie – eine gestandene und erfolgreiche Filmemacherin. Wir – die Erwachsenen – als Zuschauer „radikalen Begegnungen ausgesetzt“ (wie Anna-Lena Scholz meint) – fragen uns: „Wie viel Kindheit halten wir aus?“
Die Diagnosen der jungen Patienten: „Störungen des Sozialverhaltens“, „Depressionsreaktion nach Belastungssituationen“. Die ProtagonistInnen: „Ronja, 6, macht Krawall im Kindergarten. Jonas, 8, wird immer schweigsamer. Nellie, 15, hat Panikattacken. Sam, 17, ist gewalttätig. Etwas wütet in diesen Kindern. Sie erzählen nicht, was es ist, äußern sich aber dennoch. Ronja malt sich die Lippen rot und referiert: ‚Männer wollen, dass man sich auch mal schön macht für sie.‘ Sam führt seine neue Military-Hose vor, da finde auch ein Messer seinen Platz. Nellie ist rastlos, will sich ständig bewegen. Jonas kleckert beim Kakao-Anrühren, zuckt zusammen und sagt: ‚Ich mach immer Sauerei.‘“
Anna-Lena Scholz meint, wer als Zuschauer diese Intensität aushalte, sehe mit einem Mal nicht mehr nur die Kinder – die Kindheit selbst trete in Erscheinung. „Dieser radikale Zustand, in dem man der Welt noch offen entgegenwächst, statt sich abzuschirmen gegen die überall lauernden Verletzungen.“
Vier Biografien treten in Erscheinung und langsam beginnt sich herauszuschälen, woher der Schmerz rühren könnte.
„Stress, Gewalt, Tod, Angst. Die Kinder spiegeln das, was sie umgibt, eine teils bedrückende, kaputte Erwachsenenwelt.“
Caroline Links Leitmotiv – so Anna-Lena Scholz: „Wie wachsen wir zu einem Menschen heran?“ Dies sei schon so gewesen in ihren Kinofilmen: Jenseits der Stille (1996), Nirgendwo in Afrika (2001) oder Der Junge muss an die frische Luft (2018).
Eine interessante Beobachtung steuert Anna-Lena Scholz bei, indem sie bemerkt, wie in allen Kinofilmen von Caroline Link sei das Filmset von geschmackvoller Bürgerlichkeit –
„von der weinroten Küchenfront über das formschöne Wasserglas bis zum glänzenden Haar der Therapeutin.“ Diese warme Perfektion könne übersättigend wirken, „zu süß, zu fettig“. Doch sie folge einem ästhetischen Programm: „Link zeichnet alles Äußerliche weich und wohlig, damit der kindliche Schmerz umso schneidender wirkt.“
Anna-Lena Scholz bemerkt, es geschehe nicht viel in dieser Serie. Gleichwohl liegt ihr daran zu zeigen, dass die gezeigten lähmenden, Fragen aufwerfenden, entmutigenden Einblicke in die Welt der Kinder und Jugendlichen eben nicht aussichtslos seien:
Während die Kamera einfach draufhält und im Therapiezimmer verharrt, kommentiert Anna-Lena Scholz ihre Beobachtungen folgendermaßen:
„Ronja verbuddelt ein Püppchen im Sandkasten, Jonas baut einen Berg aus Kissen, Nellie fläzt sich aufs Sofa und giftet herum. Und doch passiert etwas. Ronja lacht nach einer Weile wieder wie eine Sechsjährige. Jonas findet im Ferienlager Freunde. Sam grollt nicht mehr gegen seinen Pflegevater Norbert, diesen Waschlappen, der irgendwie doch ganz okay ist. Etwas glättet sich, plötzlich trägt der Boden wieder.“
Zum Schluss der Hinweis:
„Aber Achtung! Diese Serie ist Fiktion – und damit wie jedes ästhetische Kunstwerk manipulativ. Caroline Link treibt die Zuschauerin in die Enge, bis sie nicht mehr anders kann, als sich zu fragen: ‚Wie viel Kindheitsgefühle kann ich aushalten, bei meinem eigenen Kind – oder dem, das ich selbst einmal war?“
Absolut entscheidende Fragen, die wir als Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel an uns heranlassen müssen. Das sei die Zumutung schlechthin – die Zumutung dieser Serie, der Kunst, des Lebens:
„dass uns innerlich ganz anders werden kann.
Zum Schlechteren,aber auch zum Besseren.“
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