Digitale Souveränität als wesentliche Voraussetzung für politische und gesellschaftliche Teilhabe?
Den folgenden Beitrag habe ich offensichtlich verschenkt, indem ich ihn nicht inhaltlich positioniert habe, sondern ihn einfach als drittes Türchen/Fensterchen in meinen Adventskalender 2021 integriert habe. Er war ja in der Tat auch nur als (politisches) Schmankerl gedacht.
Kurze aktuelle Vorbemerkung: Wir - vier Pensionistas - treffen uns regelmäßig montags von 10-12 Uhr, um der Welten Läufte und eigene Befindlichkeiten zu diskutieren.
Zuletzt ergab sich ein Disput über Legitimationsaspekte des politischen Systems. Einer von uns meinte, das Wahlrecht müsse an die Voraussetzung politischer Urteilskraft gekoppelt sein (wir alle waren mehr oder weniger als Lehrer involviert in das, was man politische Bildung als institutionelle schulische Kernaufgabe versteht). Ein interessanter - selbstredend vollkommen irrsinniger Gedanke, mit dem man den Begriff der Demokratie ad absurdum führt. Manch einer spielt halt gerne mit der Idee einer Gelehrtenrepublik.
Ein Beitrag von Ulrich Sarcinelli (ZParl 3/2020, S. 703-723), dessen Habilitationsschrift (1984) mir wesentliche Impulse für meine Dissertation lieferte, beschäftigt sich mit der Rolle des Staates in Zeiten des Internets. Unter Punkt 10 rückt die Frage nach einer Ordnungspolitik für den digitalen Kapitalismus in den Mittelpunkt. Prämisse für seine Überlegungen bleibt der Staat als zentrale demokratische Legitimationsinstanz. Diese Prämisse beruht auf der Annahme, dass sich auch in der globalisierten Welt die politische Geographie nicht einfach auflöse: "Der Staat bleibt eine, wenn nicht sogar die zentrale Legitimationsinstanz." Entsprechend dringlich erscheint die Suche nach einer angemessenen Ordnungspolitik. In Zeiten einer internetbasierten und -dominierten Welt, ist es möglich, "sich jederzeit über alles Informationen zu verschaffen und zu verbreiten". In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob eine zunehmend digitalisierte und vernetzte Welt demokratische Meinungsbildung eher begünstigt oder eher bedroht? Denn demokratische Meinungsbildung setzt - so Sarcinelli - politische Urteilskraft voraus. Damit hängt Ulrich Sarcinelli die Latte für Legitimationsaspekte äußerst hoch, kann man doch im Umkehrschluss die Frage stellen, ob die durch Wahlen jeweils hervorgebrachten machtpolitischen Positionszuschreibungen (mit dem Endergebnis, für eine Wahlperiode Ämter innezuhaben oder eben nicht) auf der politischen Urteilskraft der Wähler beruht? Nimmt man das von Sarcinelli skizzierte Kompetenzprofil zu Rate, mag man entsprechende Rückkopplungseffekte bezweiflen. Meint er doch, politische Urteilskraft beruhe nicht allein auf Informationen, "sondern auf der Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen, Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. Dazu gehört dann auch die Kompetenz, Fake-News, Bots und Trolle als solche zu erkennen." Und daraus folgt im Übrigen für Sarcinelli ein weiteres Gütemerkmal funktionierender Demokratien. Denn aus seiner Sicht stellt sich dieser Anspruch vor allem den 'Qualitätsmedien' als Aufgabe! Andererseits belegt Sarcinelli am Beispiel des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG), dass eine staatliche Ordnungspolitik über harte Strafen bei Verbreitung von Hass-Postings auch das Strafrecht erweitern und bemühen müsse. Ein politisch urteilsfähiger Bürger seinerseits müsste also gleichermaßen in der Lage sein, sich sein Urteil in der Auseinandersetzung mit den "Qualtitätsmedien" zu bilden und dabei ein Gespür dafür ausbilden, wann rechtliche Sanktionen erforderlich sind - wenn nämlich Akteure fortgesetzt und massiv gegen die Regeln einer "digitalen Demokratie" verstoßen. Er müsste dafür Einblick haben und Verständnis - ja sogar Erwartungen - hegen mit Blick auf ein entsprechendes Regelwerk.
Für den seinerzeit im Kontext meines Adventskalenders aufgegriffenen Sachverhalt ist ein Verweis Sarcinellis auf Hartmut Rosa und Andreas Reckwitz von Bedeutung. Sarcinelli weist darauf hin, dass der von Rosa aufgezeigte Zusammenhang zwischen "Beschleunigung und Entfremdung" als eines der Grundphänomene des sozialen Lebens im Kapitalismus alles andere als trivial sei:
"Dieses Spannungsverhältnis könnte sich als einer der größten Herausforderungen für Gesellschaft und Demokratie erweisen. Der Kultursoziologe warnt davor, dass die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Dynamisierung in der Moderne zu einer 'progressiven Verlangsamung demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung' führe. Die Folge könne eine 'tiefreifende Desynchronisation zwischen der Sphäre der Politik und der technologisch-ökonomischen Welt' sein. Ganz ähnlich argumentiert Andreas Reckwitz unter dem bezeichnenden Titel 'Das Ende der Illusionen'. Die beschleunigte und zugleich zugespitzte, stark emotionalisierte form der Meinungs- und Willensbildung sei 'mit den klassischen Insitutionen der liberalen Demokratie nur mangelhaft' synchronisiert."
Der letzte Satz in Sarcinellis Ausführungen lautet:
"Weil aber 'digitale Souveränität' mehr und mehr eine wesentliche Voraussetzung für politische und gesellschaftliche Teilhabe sein wird, braucht es einen freiheitssichernden Staat nicht weniger als eine aktive Zivilgesellschaft."
Wir bewegen uns gleichermaßen in staatlich regulierten Kontexten als auch in den Nischen der Zivilgesellschaft. Wir sind und konstituieren permanent das, was wir Zivilgesellschaft nennen. Wie sich der einzelne hier bewegt, ist in einer freien und offenen Gesellschaft seinen Entscheidungen und Vorlieben vorbehalten. Die folgenden Passagen geben den Blick auf einen schmalen Ausschnitt dieses offenen Raumes frei, indem sie auch schon Reaktionen auf die von Hartmut Rosa und Andreas Reckwitz angedeuteten Entwicklungen erkennen lassen. Der hier verwendete Begriff des offenen Raumes kann Missverständnisse auslösen, da wir uns im Dezember 2021 - und im Übrigen ja auch noch gegenwärtig - in einer Phase staatlicher Regulierungen bewegen, die als Antwort auf die nach wie vor gegebenen Risiken im Zusammenhang mit covid19 zu verstehen sind:
Text vom 3. Dezember 2021:
Auch ohne eine digitale Dimension von Vernetzung im Auge zu haben, kann man den Begriff der Vernetzung ganz und gar traditionell auslegen. Gestern war unter anderem die Rede vom Verfall und der völligen Zerrüttung von Familien - der Kernform traditionaler Gemeinschaften. Zugrunde liegende Prozesse könne man vermutlich nur in den Blick nehmen (und auch heilen), wenn man den systemischen Nexus familiärer Dynamiken in den Blick nehme. Gestern ging es am Beispiel Svenja Flaßpöhlers um die Ausdifferenzierung sozialer Netzwerke, die man - bezogen auf die Familie - mit der Idee verbinden kann, dass gesund ist, wer sich frei in seiner Familie bewegen kann (ich glaube Gregory Batson). Auch Svenja Flaßpöhler - mit ihrem Tochter-Mutter-Trauma - legt für diese Annahme ein beredtes Zeugnis ab.
2021 hat Urs Stäheli eine 550 Seiten umfassende Studie vorgelegt mit dem Titel: Soziologie der Entnetzung (Suhrkamp - Berlin, 2021). Daraus möchte ich heute ein Schmankerl zum Besten geben. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mit den folgenden Ausführungen extrem vermintes soziales Gelände betrete:
Unter Hauptkapitel III beschreibt Stäheli Figuren der Entnetzung. In den neunziger Jahren begleitete mich Diana Kings Shy Guy. Lange vergessen, kommt er mir im Zuge der Lektüre Urs Stähelis wieder zu Bewusstsein. In Kapitel 1 seines Hauptkapitels III (Seite 246-265) setzt er sich mit Schüchternheit auseinander. Schüchternheit - so führt er aus - gelte nicht mehr nur als individuelles Defizit, Versagen oder Leiden, sondern als Problem einer zunehmend demokratisierten und urbanisierten Gesellschaft. Im Zuge dieser Entwicklung zerbrechen traditionelle Gemeinschaften und würden neuen Formen des Zusammenlebens weichen. Der Schüchterne selbst werde als Provokation für diese modernen Formen des freien und geselligen Zusammenlebens gesehen, während anders herum diese neuen Gemeinschaftsformen - Gemeinschaften unter Fremden - dem Schüchternen zur Qual würden.
So weit - so gut!? Von Interesse - jedenfalls für mich - ist die nun folgende Differenzierung, mit der Stäheli zwischen dem Schüchternen einerseits unterscheidet, der von sozialer Angst getrieben sei. Ihm gegenüber platziert Stäheli den willensstarken Introvertierten, der aus eigenem Willen auf soziale Geselligkeit verzichte. Im Kontext der Pandemie (Stäheli publiziert seine Studien 2021) färbt sich der Blick auf Schüchternheit nochmals anders ein:
"Im Zeichen der Corona-Pandemie werden die mit Schüchternheit einhergehenden Praktiken der sozialen Distanzierung sogar als neue Überlebenstechniken, ja als 'evolutionärer Vorteil' entdeckt: 'Ich wusste, dass meine Introversion einmal praktisch werden würde [...] Es war, als ob ich den >abgesagte-Projekte-Jackpot< gewonnen hätte'."
Führe ich mir das im Anschluss skizzierte Kompetenzprofil vor Augen (siehe weiter unten), kann ich dem durchaus attraktive Momente abgewinnen. Ich möchte sie allerdings relativiert wissen durch die Prämisse, dass all diese Zugewinne nur auf dem Hintergrund einer intakten sozialen Keimzelle - selbstredend die Familie - ihre Qualitäten offenbaren, und dass auch Freundschaften in ihren kostbarsten Ausprägungen (dies heißt eben in der Regel auch reduziert auf wenige wahre und wahrhaftige Kernbeziehungen) ein lebbares, erlebbares und belebtes Fundament bereitstellen:
"Die Neigung und Kompetenz des Schüchternen, in der Öffentlichkeit nicht mit Fremden zu kommunizieren, niemandem zu nahe zu kommen sowie sein den Aufenthalt in der Öffentlichkeit abkürzender Wunsch, möglichst schnell wieder alleine zu sein, machen ihn zur perfekten und paradigmatischen Figur sozialer Distanzierung. Getragen ist diese Distanzierungskompetenz von einer affektiven Haltung, welche den Nichtkontakt genießt und die Zeiten des social distancing zu erholsamen macht: 'Ich fühle mich wie in den Ferien'."
Stäheli bemerkt, dass den Extrovertierten zum ersten Mal nicht nur gesagt wird - sondern gar verordnet wird -, ihre Komfortzone nicht zu verlassen und zu Hause zu bleiben, um sodann festzustellen:
"Im Schüchternen findet eine übervernetzte Gesellschaft einen Hinweis darauf, dass sie verlernt hat, Momente der Inkommunikabilität - der Reduktion und des temporären Aussetzens von Kommunikation - auszuhalten oder gar deren Möglichkeiten zu erkennen."
Ich habe mir schon sehr früh den sekundären Krankheitsgewinn der Corona-Pandemie auf's Revers geheftet:
- Reiseaktivitäten nur noch punktuell und hochselektiv;
- soziale Kontakte - abgesehen von der Nabelschnur des Familiären - nur noch höchst selektiv und mit Prämissen versehen (hier ordnen nicht nur gesundheitspolitische Grund- und Wertorientierungen das soziale Feld neu);
- die Bewegung im Raum - von A nach B - bewusster, selektiver und in der Regel unter Legitimationsvorbehalt (ökologischer und pecuniärer Nebeneffekt: Kraftstoffverbrauch in etwa auf ein Fünftel des sonstigen Volumens reduziert);
- Selbstversorgerphantasien befördern attraktive und wertvolle Keimlinge zu Tage (der Garten wurde neu geordnet mit deutlicher Erweiterung des Nutzgartenanteils - inclusive einer üppigen Bienenweide):
- intakte soziale Kontakte gewinnen an Intensität und Qualität (z.B. Lesekreis).
Gewiss fallen mir noch weitere Aspekte ein, um die ich dann diese Liste gerne ergänze. Zuletzt wird mit einer Bemerkung Urs Stähelis deutlich, dass die letzten beiden Jahre auch die Formen der virtuellen Aktivitäten - zumindest bei mir - noch einmal erheblich geschärft und reduziert haben. Zugegeben: es gibt diesen Blog! Aber dieser Blog führt unterdessen ein Eigenleben, dessen wahrer Nutznießer ich selber bin. Die hier mögliche Form der Vernetzung offenbart das Netzwerk der mir möglichen intellektuellen Reizaufnahme, -beherrschung und -setzung. Auch wenn ich mich zuweilen entschuldigen muss, täuscht das nicht darüber hinweg, dass Anzahl und Qualität der sozialen Kontakte auf ein gesundes Maß geschrumpft sind. So greife ich eine Erfahrung meiner ältesten Tochter und ihres Mannes in der Weise auf, dass ich sie nachvollziehen kann, und es als Aufgabe begreife hier eine neue Kultur der Selbstbescheidung zu begründen. Denn wir alle kennen sicherlich die hier abschließend von Urs Stäheli zum Besten gegebene Erfahrung, deren Urheberschaft bei Abby Ohlheiser liegt (MIT Technology Review, 2020 - Zugriff 18.04.2020):
"Introvertierte haben gerade einmal einen oder zwei Tage Einsamkeit gekriegt, bevor die Extrovertierten an ihren virtuellen Türen mit Zoom-Treffen und Google-Hangouts rüttelten." Urs Stäheli kommentiert: "In der Tat hat sich in kürzester Zeit eine überbordende Zoom-Kultur, inklusive Zoom-Happy-Hours herausgebildet, die das verlorene Vernetzungsgeschehen während der Krise ersetzen soll - aber häufig nicht nur bei den Schüchternen zu großer Erschöpfung führt."
Ulrich Sarcinelli hat mich gefragt, wer denn eigentlich Adressat all meiner Bemühungen sei, die über meine Bücher und auch über meine Blog-Aktivitäten sichtbar würden? Ich antworte nach wie vor - nachdem ein studentisches Publikum nach meiner Versetzung in den Ruhestand weitgehend obsolet geworden ist -: Ich selbst bin der Adressat! Solange ich mir nicht fragwürdig werde in der existentiell und biografisch bedrohlichen Weise eines Abgleitens in die Demenz (dies ist kein Witz, sondern ernst gemeint, da sich entsprechende Erfahrungen aus der Begleitung meines Schwiegervaters in und durch die Demenz nähren - siehe Demenz-Tagebuch) - also solange ich glaube Herr meiner Sinne zu sein, werde ich mich der Anstrengung des Begriffs unterziehen; ein vorzügliche Übung sowohl im Sinne einer Selbstdisziplinierung als auch im Sinne einer beharrlichen Kontrollleistung inwieweit ich noch öffentlichen Diskursen zu folgen vermag.