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Peter Bieri - Eine Art zu leben - Über die Vielfalt menschlicher Würde: Teil II

Teil II ist notwendig, um den Überblick zu behalten. Würde als Anerkennung der Endlichkeit bedeutet als erwachsener Mensch seine Grundlektionen gelernt zu haben (siehe Teil I).

Ganz nebenbei bemerkt: Hätten kranke, und meinetwegen gekränkte Seelen, wie Wladimir Putin diese Lektionen gelernt, würde er die Ein- und Verkrümmungen nicht auf sich nehmen können, die ihm nun ermöglichen, die Würde von 46 Millionen Individuen und die Würde eines souveränen Staates mit Füßen zu treten und zu zertrampeln.

Ja, zusammen lachen und Blödsinn  machen, wenn alle anderen Brücken eingstürzt sind: Dazu rät Peter Bieri im Umgang mit schwer an Demenz erkrankten Menschen.

Auch im kleinen Unterkapitelchen Ausbruch (S.335f.) geht er noch davon aus, dass die Demenz uns immer noch davon träumen lässt, uns selbst und die Umstände unter denen wir leben, in der Hand zu haben. Einer seiner alten Lehrer - der Latinist - büchst aus; er flieht aus der Alteneinrichtung, in der man ihn zwingt, um halb sechs am Nachmittag noch ein putziges weißes Kügelchen zum Schlafen zu nehmen: "Warum stecken Sie einen erwachsenen Mann um diese Zeit ins Bett und betäuben ihn, damit er schläft?" Die Dienstpläne bestimmen den Tagesrhythmus. Wenn man kann, flieht man - und wenn man nicht kann, bleibt man an jenem Ort den Beaudrillard schon in den achtziger Jahren als Ort der Verwüstung beschrieben hat. Bieris Latinist flüchtet in die Halbwelt, nach Athen, eine Kneipe, wo sich die Gestrandeten und Verlorenen an den Resten ihres Lebens festhalten: "Hier bleibe ich jetzt", sagte mein greiser Lehrer. "Hier in Athen." Peter Bieri nimmt es zur Kenntnis und schließt seine kleine Einlassung ab mit vier kleinen Sätzen, die uns zu denken geben: "Einige Monate später rief mich seine Schwester an. Er war von einem Bus überfahren worden. Ein Unfall. Hieß es."

Sich selbst verlieren: Auflehnung - Peter Bieri hat sich zur konkreten Anschauung seiner Reflexionen ein Ehepaar geschaffen: Bernhard und Sarah Winter. Er lässt die beiden erörtern und ausloten, was im Falle eines Falles zu tun ist. Als sich bei Bernhard die ärztlichen Untersuchungen häufen, die Schwindelattacken häufiger werden, lässt er verlauten:

"Wenn der Moment gekommen ist, wo ich mich zu verlieren beginne, möcht ich sterben und werde das Nötige tun." Sarah nimmt dies zur Kenntnis und fragt lapidar: "Dich verlieren - was ist der Maßstab? Ellenlange Erörterungen führen zu keinem Ergebnis bis Sarah den großen Logikknüppel auspackt und Bernhard versucht argumentativ Schachmatt zu setzen: "Du gehst stets von der Voraussetzung aus, dass du den Verlust noch irgendwie bemerken würdest: nicht als artikulierte Erkenntnis, aber doch als Gefühl des vagen Unvermögens oder der Leere [...] Doch nimm einmal an, nimm es einfach an, dass es nicht so ist: dass mit dem stillen, schleichenden Verfall immer auch ein Vergessen des Verlorenen einhergeht, ein vollständiges Vergessen, so dass das, was du noch hast, wenngleich es objektiv gesehen eine Einschränkung bedeutet, nicht als Verlust erlebt wird. Schritt für Schritt, Nuance für Nuance, verlierst du deine Fähigkeiten, von denen du gesprochen hast, und gleichzeitig verlierst du die Fähigkeit, den Verlust zu bemerken." Das alles will ich nicht mag nun Bernhard ausrufen. "Warum genau?" fragt Sarah - "denk daran: Du merkst nicht, was du verloren hast [...] Das reduzierte Erleben ist, was es ist, du kennst nichts anderes mehr."

"Ich will nicht, dass die anderen mich so sehen, wo sie mich als einen ganz anderen kannten... Neulich hat er im Garten einen Apfel aufgelesen, und dann stand er mit dem Apfel in der Hand minutenlang da und blickte vor sich hin, als hätte er vergessen, was ein Apfel ist und was man damit macht. Das will ich nicht! Ich will vorher gehen! Vorher! Es ist eine Frage meiner Würde! [...] Ich will nicht still vor dem Haus sitzen in meinen ordentlichen Sachen. Vom Pflegeheim ganz zu schweigen. Auch dann nicht, wenn du dabei bist. Gerade dann nicht. Weil ich auch von dir nicht will, dass du mich so siehst, und siehst, was ich alles verloren habe. Diese Art Würde genügt mir nicht"

wird fortgesetzt

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund