(M)Ein Adventskalender (23) heute öffnen wir das dreiundzwanzigste Türchen/Fensterchen
Eine kurze Erklärung für die Text-Auswahl zu meinem 23. Adventskalendertürchen: Grete Weils Weihnachtslegende 1943 war mir bis zum heutigen Tag unbekannt - alles Weitere dazu weiter unten. Gegenwärtig lesen wir - Claudia und ich - gemeinsam Edgar Selges autobiografischen Roman und gemeinsam mit Gisela Christian Berkels Ada: Edgar Selge ist Jahrgang 1948, Christian Berkel ist neun Jahre später - 1957 - geboren worden. Ich stell mich mal dazwischen als früher 52er. Edgar Selge schildert in seinem Roman: HAST DU UNS ENDLICH GEFUNDEN (Hamburg 2021) folgende Szene: Als der jüngste der Brüder begreift er sich als Zündler und befeuert immer häufiger auftretende Konflikte - in der Regel während des Mittagstischs. In einem Gespräch über Gott und die Welt gelingt es Edgar durch kleine - harmlos daherkommende Frageimpulse - einen Streit ungeahnter Heftigkeit zu entfachen.
Als die Mutter sich darüber ereifert, dass die Juden Gottes Botschaft des Neuen Testaments mit Füßen getreten hätten und Jesus, der sie retten wollte, respektlos ans Kreuz genagelt hätten, reagiert der ältere Bruder Werner "trocken und vollkommen humorlos":
"Dann seid ihr ja quitt. Von Respekt zeugt euer Umgang mit den Juden auch nicht. Eher von Mordlust." Edgar kommentiert: "Das ist ein Satz für eine große Stichflamme", die damit entfacht wird, dass der Vater wütend mit der flachen Hand auf den Tisch schlägt und in eine Rechtfertigungshaltung übergeht: "Es hat niemand gewusst, was in den KZs geschieht, und wer es gewusst hat, ist abgeholt und selbst nach Auschwitz geschickt worden." Werner reagiert auf den Judenhass der Mutter und die Rechtfertigungsbemühungen des Vaters unerbittlich und mit Bierruhe: "Regt euch doch nicht auf. Ihr habt ja gründlich aufgeräumt. Jetzt könnt ihr zufrieden in eurem arischen Mief sitzen und euch an der eigenen Tiefe berauschen. Seele im Überfluss." Egar gießt weiter Öl ins Feuer: "Paul Celan ist auch kein schlechter Dichter", sagt er - Martin der zweitälteste der Brüder hat Edgar Celans Büchlein "Mohn und Gedächtnis" geschenkt. Es folgt ein Zitat aus der "Todesfuge". Die Mutter bekennt: "Die Worte sind schön, auch wenn ich sagen muss, dass ich nicht alles verstehe. Der Vater sagt zu Martin: "Du kannst ja dann Edgar erklären, was das heißt", woraufhin Werner, der Ältere dem Vater entgegnet: "Erklär du's ihm doch. Du weißt doch am besten Bescheid." Jetzt eskaliert die Situation vollends. Der Vater attakiert seinen Sohn mit der Vorhaltung:"Red doch nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst! Du hast doch damals noch gar nicht gelebt." Werner wiederum bläst seinerseits zur Attake: "Ich bin 1940 geboren, falls du es vergessen hast, und da haben sie in den Todesfabriken gerade so richtig losgelegt." Und dem Vater entgleist in schrankenloser Wut die worst-case-Replik: "Ach, und als Baby hast du das mitgekriegt, ja? Mach dich doch nicht lächerlich!, höhnt unser Vater. Warum haben wir dich bloß gezeugt!" Die Situation eskaliert weiter, schon allein, weil Werner nun seinerseits die dicke Berta in Stellung bringt: "Ich dachte eigentlich ihr hättet schon genug Kinder umgebracht, aber sicher hättet ihr mich im Euthanasie-Programm auch noch unterbringen können." Der Vater droht seinem Sohn, ihn vom Konservatorium zu holen und in eine Schosserlehre zu stecken, weil er noch nicht volljährig sei und er sein Studium zahle. Aber Werner hat nun Oberwasser und entgegnet: "Da finden wir schon eine Lösung. Wir können das Gespräch ja in der Akademie fortsetzen. Mit den Professoren. Wir können ja mal wegen eines Stipendiums nachfragen. Wenn du nicht mehr zahlen willst, weil ich deine Nazi-Ansichten nicht teile, haben sie vielleicht Mitleid mir dir. Aber ich fürchte, da wirst du kleinere Brötchen backen." Und nun geschieht das, was letztlich die Ausweglosigkeit des Konflikts offenbart, weil die Elterngeneration gleichermaßen im Habitus der Selbstgerechtigkeit wie der der Betrogenen und Unwissenden agiert: Edgar Selge schildert die Szene folgendermaßen:
"Das Fleisch im Gesicht unseres Vaters wird leicht zittrig, unsere Mutter wird dünner und dünner, ihr Blick immer härter. Hinter ihrer Stirn hält sie verzweifelt fest: Es kann nicht alles falsch gewesen sein, womit ich aufgewachsen bin! Und alles, was daraus entstanden ist,: Auschwitz, Stutthof, Dachau, Buchenwald - das hat doch nichts mit mir zu tun! Mein Vater springt auf, rennt aus dem Zimmer, knallt die Tür zu und schreit im Schlafzimmer weiter."
Edgar Selge geht mit seinem Roman in eine Haltung der radikalen Selbstentblösung, wie sie selten zu lesen war. Christian Berkel geht mit sich schonungsvoller um und betont vor allem mit Ada (Berlin 2020) einen Roman geschrieben zu haben und bemerkt dazu: "Auch wenn einige seiner Charaktere erkennbare Vor- und Urbilder in der Realität haben, von denen das ein oder andere biografische Detail übernommen wurde, sind es Kunstfiguren. Ihre Beschreibungen sind ebenso wie das Handlungsgeflecht, das sie bilden, und die Ergeignisse und Situationen, die sich dabei ergeben, fiktiv." Möglicherweise entspricht die von Berkel nun übernommene Passage in Ansätzen eher auch meiner Erfahrungswelt. Mein eigenes Driften hinsichtlich der Frage, wie wir Nachgeborenen mit den Verstrickungen unserer Eltern umgehen, hat entsprechend mildere Ausprägungen und Formen angenommen (siehe vor allem meine Adaption des Vorlesers):
Ada -die Protagonistin in Berkels Roman - schildert ihre Kindheit und Jugend im Berlin der Fünfzigerjahre auf Seite 12 folgendermaßen: "Berlin wuchs schnell, grau und hässlich. Gab es in der Fünfzigerjahren so etwas wie ein Gefühl dafür, das irgendetwas fehlte? Was war los in diesem Lummerland? Maikäfer flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommerland. Und Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg.
Der Maikäfer flog zu allen Gelegenheiten. Selbst meine Mutter trällerte das Lied beim Aufräumen oder Saubermachen. Es war, als gingen wir über eine Brücke, ohne es zu merken. Wohin? In unsere Vergangenheit? Ich glaube, dass wir gar keine Vergangenheit hatten. Zumindest versuchte jeder diesen Eindruck zu erwecken. Die Erwachsenen sprachen von der Stunde Null. Tabula rasa. Nicht nach uns die Sintflut, nein, wir waren die, die nach der Sintflut kamen. Wir wuchsen in den Trümmern auf, die man uns übrig gelassen hatte. Die meisten von uns sahen es nicht, weil sie es nicht anders kannten. Aber ich sah es, auch wenn ich es nicht verstand, weil ich aus Buenos Aires kam, wo es keine Bombenkrater gab. Dort tanzte die Sonne über den Dächern unversehrter Häuser. Deutschland war müde. Es roch nach Verwesung und Tod. Schweigend bauten die Leute das Land wieder auf. Als kämen sie aus dem Nichts. Als hätte es vor der Stunde Null in diesem Land kein Leben gegeben. Selbst das Maikäferlied schlug von Erinnerung befreit mit seinen Flügelchen den Takt für die Zukunft. Niemand sprach. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, war nichts geschehen. Aber ihre dumpfe Angst, es könnte sich wiederholen, erinnerte sie daran, dass da noch etwas war. Diese Angst wurde zu unserer Mitgift. Auf der Suche nach einem Ventil schleppten wir sie mit uns herum. Unsere Dichtungen waren defekt. Was in uns kochte, schon eines Tages nach allen Seiten aus uns heraus."
Nun gebe ich in meinem 23. Adventskalendertürchen eine Szene aus Grete Weils Weihnachtslegende 1943 wieder. Zu Weihnachten 1943 wurde es vom Gefesselten Theater der illegalen Hollandgruppe Freies Deutschland als Marionettenspiel für Untergetauchte in Amsterdam inszeniert. Grete Weil (1906-1999) emigrierte 1936 nach Holland, wo sie nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Untergrund lebte. In ihrem Puppenspiel Weihnachtslegende 1943 setzt sie sich kritisch mit den Kabarettauftritten deutscher Juden unter SS-Bewachung auseinander (näheres hier). 1947 kehrte sie nach Deutschland zurück. Mit Blick auf die autobiografisch gefärbten Romane von Edgar Selge und Christian Berkel liegt mir daran, ihren Schilderungen auch noch einmal Nachdruck zu verleihen durch die Authentizität der Auseinandersetzung Grete Weils mit den Realitäten des nationalsozialistischen Terrorregimes unter extrem riskanten Bedingungen. Die Weihnachtslegende 1943 ist ja nur eines unzähliger authentischer Dokumente zum Beleg dafür, wie unmittelbar und direkt die Rolle des Beobachters/der Beobachterin, des Protokollanten/der Protokollantin wahrgenommen wurde, so dass wir es heute mühelos nachlesen können. Um so unerbittlicher muss die Auseindersetzung bzw. Zurückweisung eines jeden Versuchs der Geschichtsklitterung durch rechtsextreme Demagogen zu unseren alltäglichen Bemühungen gehören. Und nun zur Weihnachtsbotschaft am 23.12.2021, bevor ich morgen die Zuckerdose auspacke.
Weihnachtslegende 1943
Ort: Irgendwo in Europa. Ein Theater, das als Sammelstelle für zu deportierende Juden benutzt wird.
Zeit: Weihnachtsabend 1943
Vorne vor der Bühne sitzen, Hand in Hand, mit dem Rücken zu den Zuschauern, der Mann und die Frau. Die Bühne ist fast leer. An der Rampe befindet sich ein Mikrophon, davor steht ein Junge vom Judenrat.
Junge Meine Damen und Herren. Mit Zustimmung der Wache findet heute Abend ein Kabarett statt. Rauchen ist verboten. Lachen nicht.
Frau Sie können über ihr eigenes Unglück noch Witze machen.
Mann Sie langweilen sich. Die Leere der Stunden frißt noch ihre letzte Kraft.
Der Tod kommt auf die Bühne, postiert sich vor dem Mikrophon
Tod Willkommen, wertes Publikum.
Ihr schaut erstaunt. Ihr blickt euch zögernd um.
Seid ruhig, ich tu euch heute nichts zuleid,
Ich lass euch und ihr lasst mir noch Zeit.
Ihr sollt auch eure Trübsal bald vergessen
Und ich – bin grade etwas überfressen.
Drum hab das Stundenglas ich gern vertauscht
Hier mit dem Mikrophon. Seid still und lauscht
Auf die Akteure, die ich euch beschwöre.
Es sind ein paar ganz allerliebste Chöre.
Nicht sehr erfahren noch in dem Agieren,
Vielleicht, dass einige sich selbst genieren.
Seid nicht zu streng. Und ist das Spiel zu Ende
Gebrauchet mir gar fleißig eure Hände,
Ich habe die Conference hier übernommen
Um euch die Zeit ein wenig zu verkürzen
Und sie mit meiner Künstlerschar zu würzen.
Sie sind die Welt. Wie sie sich heut als Bild
Uns zeigt. Großsprechend, blutig, wild
Und doch so arm. Vom Leben weit entfernt.
Sie haben nichts als Raub und Mord gelernt -
Und Sterben. Was sie tun, ist greulich.
Im Grunde find selbst ich es ganz abscheulich.
Doch was als Wirklichkeit schwer zu verdauen,
Soll als Symbol die Seele euch erbauen.
Und weil ihr leidet, seufzt, ergeht die Bitt
An euch, ihr Lieben, spielet kräftig mit.
Verwandelt euch aus starren Marionetten
In Menschen, die sich in die Handlung retten.
Ergreift die Tat! Und sei’s auch nur im Spiel.
Ich wette, dass es euch am Schluss gefiel.
Agiert und spielt. Dann ist schon viel getan.
Am Ende sieht der Tod euch lächelnd an.
Theater alles und um zehn vorbei.
Der deutschen Wache mach den Platz ich frei.
Wenn andere Menschen schlafen
Auf ihren Ruhekissen
Die Bösen und die Braven
Mit ruhigem Gewissen,
Dann schlägt für uns die Stunde.
Mit Stapel von Papieren
Beginnen wir die Runde.
Wir klopfen an die Türen.
Die Menschen in den Betten
Sie fürchten sich und zittern,
Sie wollen sich noch retten.
Das kann uns nicht erschüttern.
Wir saufen ihre Weine,
Wir fressen ihren Kuchen.
Wir nehmen ihre Scheine.
Wir wühlen und wir suchen
In ihren Kostbarkeiten,
In Fächern und in Kästen.
Wie herrlich sind die Zeiten
Um unsern Bauch zu mästen.
Wenn voll sind unsre Taschen,
Versiegt die reiche Quelle,
Wenn gar nichts mehr zu naschen,
Dann geht’s zur Sammelstelle.
Sorgfältig registrieret,
Quittiert und abgetragen.
Pro Stück wird honorieret.
Es lebt das freie Jagen.
Während der letzten Strophe ist der Hauptsturmführer, gefolgt vom Sprecher des Judenrates, aufgetreten und durch die Zuschauer bis zur Bühne gegangen.
Sprecher Herr Hauptsturmführer, der Mann hat sich verdient gemacht.
Hauptsturmführer Ach, was ihr so verdient nennt, Scheiße.
Sprecher Er ist der einzige Facharbeiter seiner Branche, den wir hier noch haben.
Hauptsturmführer Soll in Polen sein Fach ausüben.
Sprecher Die Frau ist hochschwanger, Herr Hauptsturmführer.
Hauptsturmführer Hat ihr jemand geraten, ein Kind zu bekommen? Ich will davon nichts mehr hören.
Sprecher Kennen Herr Hauptsturmführer den Witz: Zwei Juden sitzen sich gegenüber in der Eisenbahn…
Sie gehen nach hinten, man versteht nichts mehr.
Frau Sie sprechen über uns. Der Deutsche lächelt.
Mann Vielleicht lässt er uns frei bis du das Kind hast.
Frau Er sieht so jung und freundlich aus.
Mann Sicher wird alles gut.
Der Hauptsturmführer und der Sprecher sind wieder nach vorne gekommen.
Sprecher Herr Hauptsturmführer, hier ist diese Familie.
Hauptsturmführer bleibt gelangweilt stehen Warum haben Sie denn ein blau geschlagenes Auge? Haben sich drücken wollen, was?
Mann Herr Führer, Herr Oberführer, es ist, es kommt daher, weil…
Hauptsturmführer scharf Sie haben zu schweigen, wenn ich mit Ihnen spreche.
Frau Herr Hauptsturmführer, ich erwarte nächsten Monat mein erstes Kind.
Hauptsturmführer Tja, liebe Frau, das ist sehr bedauerlich. Das haben Sie sich nicht sehr geschickt ausgesucht.
Frau Herr Hauptsturmführer, wenn ich nach Polen muss, dann werd ich sterben und das Kind auch.
Hauptsturmführer sieht sie betroffen an, dann im Weitergehen zum Publikum Es sterben Hunderttausende. Kommt ja auch ein paar mehr oder weniger gar nicht an. Scheiße. ab, gefolgt vom Sprecher des Judenrates.
Frau sehr leise Herr Hauptsturmführer!
Tod Die schaffen mir die großen fetten Bissen,
Sie treiben mir die schönste Beute zu.
Glatt, kalt und elegant. Und wissen
Sie auch nicht ganz genau warum, so doch wozu.
Wenn einstmals sie sich in meinem Winke beugen
Und sagen dann: Wir haben nur gemusst
Und nichts geahnt. Ihr alle wart hier Zeugen:
Sie tatens gern, sie taten es bewusst.
Sie tatens feige mit dem Mut im Munde,
Sie tatens ehrlos, spielten sich als Held.
Geduld mein Publikum, es kommt die Stunde,
Da stehn sie einsam gegen eine Welt.
Kein Führer hilft, kein Gottesgnadentum,
Verantwortung trägt jeder nur allein.
Ihnen Vergessen. Doch euch bleibt der Ruhm,
Die Überwinder ihrer Tat zu sein.