Sandra Lüpkes - Die Schule am Meer, Stalingrad und Erich Kästner
Auf Sandra Lüpkes Homepage finden sich folgende Hinweise zu Die Schule am Meer:
NDR Kultur
"Spannend und ausgesprochen gut recherchiert (...) Ein interessanter und vielschichtiger Roman."
Radio Bremen
"Gute Unterhaltungsliteratur (...) ausgiebig und akribisch recherchiert."
Emotion
"Perfekter Romanstoff mit Zutaten wie Liebe, Hass, Freundschaft, Verrat (...) Eine bewegende Geschichte aus einer bewegten Zeit."
Münsterschen Zeitung
"Atmosphärisch dicht, sehr poetisch, vortrefflich erzählt."
Informieren Sie sich über aktuelle Veröffentlichungen und Lesungstermine.
Viel Spaß!
Die Kurzrezensionen finden meine Zustimmung; neben Spaß bietet Sandra Lüpkes auch Anregungen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Banalität des Bösen - hier in Gestalt des Weges einer isolierten ostfriesischen Insel hinein in die Zeit des tausendjährigen Reiches. Meinem Freund, Winfried Rösler - ein ausgewiesener Kenner der reformpädgogischen Bewegung - schrieb ich heute nach meinem Urlaub auf Juist:
Habe die Seele baumeln lassen und auf der Insel - mit beeindruckendem und bewegendem Lokalkolorit im Hintergrund - den 562 Seiten-Roman einer gewissen Sandra Lüpkes sehr akribisch gelesen. Ihr Roman nimmt die von Martin Luserke gegründete Schule am Meer zum Anlass einerseits die Geschichte dieser Schule zu erzählen und andererseits dies auf beachtliche Weise einzubetten in die Inselgeschichte hinein in die Zeit des Dritten Reiches. Ihr ist da - als Juisterin - durch akribische Recherche etwas gelungen, was mir Respekt abnötigt - einschließlich einer kritischen Würdigung der Reformpädagogik und des in ihr eher randständigen Martin Luserke.
Ich werde ihren Roman zum Anlass nehmen, eine beiläufige Bemerkung aufzugreifen, wonach der Weg eines ihrer (fiktiven, aber an reale Figuren angelehnten) Hauptprotagonisten - Maximilian Mücke (genannt "Moskito") - in Stalingrad endet. Hingegen als nicht fiktiv erweist sich die bedeutende Rolle Eduard Zuckmayers, ein Bruder Carl Zuckmayers, (genannt "Zuck"), der als Musiklehrer an der Schule am Meer wohl Bedeutendes geleistet hat. Sandra Lüpkes, die unter anderem auf die persönliche Expertise und Beratung Jürgen Oelkers für ihr Vorhaben zurückgreifen konnte, gelingt es vor allem die eher unbekannten, aber gleichwohl realen Akteure dieses reformpädagogischen Schulprojekts zu würdigen: So Dr. Paul Reiner und seine Frau Anni Reiner, die aus einer reichen Frankfurter jüdischen Familie (Hochschild) stammt und beträchtliche Teile ihres Erbes in diese Schule investiert.
Beim "Wichteln" - Weihnachten 1930 - zieht der 14jährige "Moskito" den Namen Eduard Zuckmayers, der sich während eines Besuch bei der verwitweten Anni Reiner 1962 in der Schweiz (in die Anni Reiner nach ihrer Entlassung durch Martin Luserke wegen ihrer jüdischen Herkunft <!!!> flieht) "Moskitos" erinnert. Auch Anni Reiner erinnert sich seiner: "Moskito denke ich. Für mich ist er immer achtzehn geblieben, jung, gesund und mutig. 'Stalingrad' frage ich lieber noch einmal nach, denn vielleicht habe ich ja vorhin auch nicht richtig verstanden. Manchmal höre ich schlecht. Doch Zuck nickt leider. Dann stoßen wir an, auf die Toten, auf die Überlebenden. Und auf uns (S. 562)." Damit endet - nach 562 Seiten - Sandra Lüpkes Roman.
Mir sind vor Jahren die "Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939-1945" in die Hände gefallen. Ich lese immer wieder in dem 1952 (mein Geburtsjahr) im Rainer Wunderlich Verlag erschienen Sammelband. Der fiktive "Moskito" ist ein tragisches Beispiel für die im Geiste der Reformpädagogik erzogenen jungen Menschen, die - vor allem auch auf Juist unter Martin Luserke - nur "Lu" genannt - beispielsweise von April bis Oktober durch den pflichtgemäßen Tauchgang in der Nordsee abgehärtet werden und die sich aufgrund dieser alltäglichen körperlichen Ertüchtigung den HJlern gegenüber im Wettkampf auch als überlegen erweisen. Sandra Lüpkes, lässt ihn - Moskito - in den Ferien mit einem Freund bis nach Berlin radeln, wo er Zeuge der Bücherverbrennung wird und - so arrangiert es Sandra Lüpkes - Erich Kästner begegnet.
In den erwähnten Kriegsbriefen stellt sich für mich immer wieder die Frage, wie für viele der Briefe-Schreiber (tiefgläubige Christen, vielfach dem Bildungsbürgertum angehörend) die Integration des Unvereinbaren gelungen ist. Die Briefe zeugen allerdings immer wieder auch davon, dass eben genau dies nicht gelingt. Vielfach erweisen sich diese Briefe als Zeugnisse einer realen Hölle. Und oft genug erweisen sie sich als Mahnungen, die gerade heute ihre Wirkung entfalten könnten. Ich suche nach Formen der Würdigung und Integration.
Für heute genug - liebe Grüße in der Hoffnung es möge Dir einigermaßen wohl ergehen in dieser merkwürdigen Welt.
Ich werde im Folgenden Sandra Lüpkes beiläufige Bemerkung zum Anlass nehmen, mich mit den erwähnten Briefen eingehender auseinanderzusetzen. Aber bevor ich diesem Beitrag damit eine andere Ausrichtung gebe, möchte ich - äußerst selektiv und begrenzt - über Sandra Lüpkes Schule am Meer berichten:
Wie schon erwähnt, erscheint Juist in Sandra Lüpkes Roman in keiner Weise als Idylle. Alles, was wir - meine Frau und ich - seit fast vierzig Jahren an Annehmlichkeiten dort als Urlauber genießen, liegt diesseits der schroffen, unwirtlichen, immer vom blanken Hans bedrohten Welt, in der die Juister der Insel das Lebensnotwendige abtrotzten und in die Martin Luserke, Paul Reiner und ihre Mitstreiter ihre Schule am Meer bauten. Deren Lebensläufe und Wirken sind dokumentiert - vor allem auch die Rolle Anni Reiners, die sich 1934 mit ihren Kindern in die Schweiz rettet; versöhnlich und anrührend zugleich, wie Sandra Lüpke Karin Reiner, der jüngsten Tochter Paul und Anni Reiners dankt für Unterstützung, "Großzügigkeit, Offenheit und das Vertrauen, als sie mir die Türen im Hause der Mutter geöffnet hat, sowie an Annis Enkel Angela Häfliger-Töndury und Peter Samelson".
Da ich die wenigen Leser meines Blogs eher dazu ermuntern möchte Die Schule am Meer von vorne bis hinten zu lesen - einschließlich des Nach- und Dankworts - beschränke ich mich hier auf eine dürre Skizze, orientiert an der Geschichte von Maximilian Mücke, genannt Moskito. Sandra Lüpke schreibt im Nachwort:
"Es gab keinen Schüler namens Maximilian Mücke, dessen Eltern in Bolivien eine Zinnmiene betrieben haben. Doch es gab den Schüler Sigfried Schmidt, dessen Vater Diplomat in China war und der als alter Mann über die Seekrankheit bei seiner ersten Überfahrt nach Juist und über sein Heimweh der frühen Schuljahre schrieb, über die Bergung der gestrandeten Hölzer und die Geheimgänge unter dem Jenseits. Genau wie Alfred Döblin über seinen Sohn Peter berichtete, der es im Eiswinter 1929 auf einer abenteuerlichen Route gerade noch rechtzeitig zur Abiturprüfung nach Wilhemlshaven schaffte. Beate Uhse, geborene Köstlin, erzählt in ihrer Biographie, wie sehr sie das Segeln mit Luserke liebte (darauf wird auch im Wikipedia-Beitrag hingewiesen). Und die spätere Filmschauspielerin Maria Becker, geborene Fein, erinnert sich an ihre ersten Auftritte in der Bühnenhalle in den Dünen (S. 565f)."
Die Geschichte des zehnjährigen Maximilian Mücke - fortan Moskito genannt -, und der sich als einer der Hauptprotagonisten entpuppen wird, beginnt auf Seite 33 mit dem Versuch "sich nämlich das erste Mal gegen dieses blöde Ritual" zu wehren, das die Lehrer "Mystisches Tauchbad" nennen. Von April bis Oktober beginnt damit jeder Morgen eines jeden Tages:
"Man zieht sich aus bis auf die Badesachen und rennt los, nimmt den kürzesten Weg über den Strand und sprintet ins Meer. Wenn es regnet und der Wind so weht wie heute, ist es besonders schlimm. Die meisten machen einfach einen Satz ins Wasser und tauchen unter, um es hinter sich zu haben... angeblich härtet es Körper und Geist ab." Im Fortgang der Geschichte bewahrt sein Zimmerkamerad, Volkmar, Moskito vor einer Dummheit: "Moskito, du Idiot. Kannst du dir doch denken, dass das nicht gut geht. Schon Walter ist damit aufgeflogen, vorletzte Woche, und da waren wir viermal so viele beim Tauchbad, weil noch keine Ferien waren [...] Es gibt kein Zurück... Volkmar nimmt Moskitos rechte Hand, Gregor die linke. Auch Hubert und Theo fassen sich an, gemeinsam bilden sie eine Kette und rennen los. Ja, Moskito will zu dieser Gruppe - den Bären - gehören, Teil ihrer Kameradschaft werden. Das Wasser schäumt zu ihren Füßen. Die ersten Tropfen landen auf seiner Brust. Dann ist er drin. Wasser im Ohr, im Mund, in den Augen. Moskito taucht unter. Hat's geschafft. Jetzt fängt der Tag richtig an."
Moskito wird nie zu den Bären gehören, trotz der Mutprobe, die er besteht und die seine Freundschaft mit der merkwürdigen, so ganz besonderen Marje begründen wird. Wir erleben, wie der einstmals pummelige Moskito seinen ganz eigenen Weg finden und gehen wird - gemeinsam mit Titicaca, einer Graugans, von den Juister Jägern angeschossen, von Volkmar geborgen und fortan von Moskito erst gepflegt und gepäppelt und dann erkoren zu seiner Begleiterin in all den Juister Jahren bis zum Ende seiner Schulzeit 1934:
"Ein verletzter Vogel... Als Moskito draußen ist, haben die anderen die Gans schon auf eine alte Decke gebettet. Selbst Marje ist dabei, sie hat sich hinuntergebeugt, traut sich aber nicht, das Tier anzufassen. Moskito kniet sich neben die Decke und streicht über die weichen, warmen Daunen am Bauch. Der Vogel hält still, also tastet er vorsichtig weiter. Mit der Hilfe Otto Leeges (dessen Wirken als Vogelkundler und -schützer dokumentiert ist) gelingt es Moskito die Graugans im Leben zu halten. Sandra Lüpke begründet an dieser Stelle die besondere Beziehung Anni Reiners zu Moskito: "'Hallo, ich bin Anni.' Pauls Frau reicht Moskito die Hand, die nicht so weich ist wie die Hand seiner Mutter, aber genauso warm. 'Ich finde es toll, dass du dich um das Tier kümmern willst. Da hast du diesen gewissenlosen Jägern schon einmal eine Menge voraus.' 'Vielleicht stirbt sie ja auch', erwidert Moskito. 'Das wäre sehr schade, aber du hättest ihr wenigstens eine Chance gegeben'." Titicaca stirbt nicht, vielmehr wird sie Moskito begleiten und "beschützen", solange seine Schulzeit dauern wird. Und für eine Herzens- und Gewissensbildung wird Moskito fortan auf besondere Weise einstehen in so vielen Situationen der Bewährung, die Moskito mit seiner besonderen Haltung, Empathie und einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein bestehen wird.
Sandra Lüpke gelingt es in einem Nexus der unterschiedlichsten Handlungsträger mit unterschiedlichen Charakteren und Entwicklungslinien am Beispiel Moskitos einer Welt Orientierung zu geben, die in der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten enden wird. Sie vermeidet dabei eine Schwarz-Weiß-Malerei. Auch in der fiktiven Figur von Gustav Wenniger, der als überzeugter Nazi die HJ auf Juist begründen und führen wird, offenbaren sich Ambivalenzen und die Banalität des Bösen. Ernüchtert stellen wir uns die Frage, wie aus Theo - ein Mitschüler Moskitos ein glühender Hitlerjunge wird und auf welch abenteuerliche Weise Martin Luserke seine Schule glaubt retten zu können; zumal es mit dem Sündenfall enden wird, die Jüdin Anni Reiner, deren Familie immer wieder mit finanziellen Transfers den Bestand der Schule gesichert hat, zur Kündigung zu nötigen. Sandra Lüpke legt Luserke Sätze in den Mund, die selbst unter Berücksichtung dessen, was Sönke Neitzel und Harald Welzer Referenzrahmen nennen, schwer verständlich und erträglich erscheinen:
Auf die Frage, wie er die finanziellen Einbußen durch den Verlust der jüdischen Schüler zu kompensieren gedenke, lässt Lüpkes Luserke antworten: "Die HJ wäre daran interessiert, regelmäßig bei uns Schulungen abzuhalten... und wer weiß, vielleicht werden wir ab nächstem Jahr eine Reichsführerschule sein!"
Dazu ist es zwar nicht gekommen, aber das Verhältnis unter den Schulgründern kann infolge dieser Entwicklungen nur in Zerrüttung enden. Sandra Lüpkes beginnt ihr Nachwort mit Zeilen aus einem Brief Martin Luserkes (1880-1968) an Anni Reiner (1889-1872), deren Mann (*1886) bereits 1932 gestorben war. Sandra Lüpke kommentiert diese Zeilen Luserkes:
"Es sind Dinge geschehen, die auf Erden wohl von Menschen niemals ganz geklärt werden können, doch könnte man ja wohl auch im Guten darauf verzichten, wenn keine Worte mehr möglich sind." (Martin Luserke an Anni Reiner, Meldorf, Februar 1967) vorsichtig und differenziert:
"Diese Zeilen stammen aus einem Brief, den ich im Sommer 2019 zwischen Korrespondenz, Fotografien, Zeichnungen und Schriftstücken fand, die etliche Jahrzehnte mehr oder weniger unbeachtet überdauert haben. In der Casa Reiner am Ufer des Lago Maggiore, wo Anni Reiner und ihre Kinder 1933 eine neue Heimat gefunden hatten. Als Anni Reiners jüngste Tochter Karin (*1932) mich eingeladen hat, dort zwei Wochen zu schreiben und ihrer Familiengeschichte nachzuspüren, war mein Roman Die Schule am Meer bereits im Entstehen. Ich hegte zu diesem Zeitpunkt einen gewissen Groll gegen Martin Luserke, dessen Name so eng mit der Schule am Meer verbunden ist und der auf meiner Heimatinsel in Ehren gehalten wird, während dort kein Mensch mehr von Anni Reiner spricht. Oder von ihrem Mann Paul. Auch das Eduard Zuckmayer (1890-1972) dort als Lehrer wirkte, wissen nur die wenigsten. Denn Martin Luserke war es, der die meisten Worte gemacht hat. Vielleicht stammt auch von ihm der Satz, mit dem das Ende der Schule am Meer überlicherweise zusammengefasst wird: Sie wurde im Frühjahr 1934 vor dem Hintergrund der NS-'Gleichschaltung' und des staatlichen Antisemitismus geschlossen. In ihrem Nachwort bemerkt Sandra Lüpkes weiter: "Martin Luserke hat zeitlebens wirklich eine Menge Worte gemacht. Doch um die an Anni Reiner und die anderen Lehrer und Schüler, die damals 'vor dem Hintergrund der Gleichschaltung' gehen mussten, hat er sich gedrückt. Das oben zitierte Schreiben sollte erst nach seinem Ableben an Anni Reiner ausgehändigt werden. Wenn - aus seiner Sicht - keine Worte mehr möglich wären."
Doch zurück zu Maximilian Mücke - Moskito. Auch hier räumt Sandra Lüpkes ja vor vorneherein dessen fiktiven Charakter ein - genauso, wie sie einräumt, dass es keine Kameradschaft der Wildgänse gegeben habe. Moskito erscheint in ihrem Roman als Gründer dieser Kameradschaft. Aus dem ehemals pummeligen Moskito erwächst ein athletisches, sportliches Integrationswunder, der nicht nur Titicaca im Leben hält, sondern der auch Volkmars Geheimnis enthüllt und ihm auf diese Weise - indem er seine Verfehlungen aus seinem abgründigen Lebenslauf heraus zu erklären versucht - weiterhin seinen Platz in der Schulgemeinschaft sichert. Mit Volkmar radelt Moskito nach Berlin. Genau hier wird sich seine Spur verlieren - gemeinsam mit Marje. Sandra Lüpkes - und dies hat mich persönlich tief berührt und getroffen - verliert hieran nur ein einziges Wort: S t a l i n g r a d. Wer weiß, dass von den mehr als 300.000 Wehrmachtsoldaten im Kessel von Stalingrad nach der Kapitulation Ende Februar 1943 etwa 90.000 in russische Gefangenschaft gerieten, wovon wiederum nur etwa 5000 Deutschland wiedersahen, weiß was Sandra Lüpkes damit sagen will.
Ihre Fiktion Moskito saß bereits auf der Fähre und wäre mit seinen Eltern sechs Wochen später 1933 in Bolivien gelandet, wäre er nicht von der Fähre gesprungen, um auf Juist seiner Schule die Treue zu halten und dort noch sein Abitur zu erwerben. Er hätte möglicherweise die Zinnmiene seines Vaters weitergeführt, wäre vielleicht seinem Idol Erich Kästner gefolgt. Apropos Erich Kästner - man mag es Sandra Lüpkes nachsehen, zu einem billigen Trick zu greifen. Ich halte ihn allein deshalb schon für genial, weil er mir im Nachgang zu Sandra Lüpkes Roman noch einmal eine intensive Kästner-Lektüre beschert (siehe weiter unten). Die Identifikation Moskitos mit Erich Kästner insinuiert eine so ganz und gar andere Orientierung in der Welt als sie sich beispielsweise im Hitlerjungen Theo offenbart, der gleichermaßen Schüler der Schule am Meer ist.
Nebenbei bemerkt hat man mit dem kleinen Dienstag, mit Hans Albrecht Löhr eine reale, historisch belegte Persönlichkeit, die ihre eigene Identität vor allem auch aus der Indentifikation mit Erich Kästner bezieht. Hans Albrecht Löhr fällt als junger Soldat 1942 in Rußland:
"Moskitos Gesicht ist heiß und trocken, obwohl Volkmar und er sicher zwanzig Meter vom Scheiterhaufen entfernt stehen. Er muss die Augen zusammenkneifen, um keine Asche hineinzubekommen. Die Luft ist voll davon. Papier, das von einem glühenden Saum gefressen wird, sich krümmt wie unter Schmerzen, sich einrollt, kleiner wird und leicht und schließlich schwebt, trotz des Regens. Auf einigen Fetzen kann man noch Buchstaben erkennen und Moskito überlegt, ob er diese Seiten nicht selbst einmal gelesen hat. Das erste Kapitel von Im Westen nichts Neues, das ihn so erschüttert hat, wegen der Sache mit dem Stiefel. Oder schwebt da gerade irgendeine Silbe aus Berlin Alexanderplatz vorbei, das Moskito gleich nach seinem Erscheinen verschlungen hat, weil es doch von Peters Vater geschrieben war." Moskito und Volkmar hören den Mann, der eine Rede hält - oder besser brüllt. "Ich übergebe alles Undeutsche dem Feuer!" Moskito und Volkmar beobachten, wie die Feuerwehr näher rückt: "'Was macht der denn da?' Moskito kann es nicht glauben. Einer der Feuerwehrmänner schleppt einen Kanister herbei, schraubt den Deckel ab und schüttet den Inhalt über das noch nicht entflammte Papier. Öliger Benzingeruch wabert zu Moskito herüber. Dann wirft ein Feuerwehr-Kollege eine Fackel hinterher. Ein glutroter Feuerpilz schwillt empor. Die Menge klatscht Beifall. 'Echt, lass uns abhauen, Moskito!', mault Volkmar. Doch Moskitos Füße sind am Boden festgeschraubt. 'Ich muss das sehen.' 'Das ist nur ein Feuer. Zu Hause machen wir doch jede Woche eins.' 'Das ist mehr als nur ein Feuer.' Der Mann mit dem Hut dreht sich in Moskitos Richtung und nickt ihm zu. Moskito nimmt allen Mut zusammen. 'Ich hab es geliebt', sagt er leise. 'Was?', fragt der Mann. 'Emil und die Detektive.' 'Das ist nicht dabei.' 'Es wird nicht verbrannt?' 'Noch nicht.' Moskito schluckt. 'Sie meinen, so was hier wird es in Zukunft öfter geben?' Der Mann nickt erneut. 'Aber das sind doch nur ein paar Studenten.' 'Dahinter steckt jemand ganz anderes. Und es ist mehr als ein Feuer, da hast du recht.' Er lüpft den Hut, versucht, verschmitzt zu gucken, doch es misslingt ihm. Dann verschwindet der Mann zwischen den Menschen, die laut lachen, während seine Geschichten als Aschepartikel auf braunen Jacken landen, aufweichen, in den Stoff sickern, Flecken hinterlassend."
Erich Kästner schildert die Ereignisse im Vorwort zu Bei Durchsicht meiner Bücher ähnlich:
"Mein erstes Buch, der Gedichtband 'Herz auf Taille', erschien Ende 1927. Und im Jahre 1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels mit düster-feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend bei Namen. Ich war der einzige der vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen [...] Es handelt sich, wie gesagt, um einen Rückblick. Die Verse zeigen, wie es vor 1933 in den Großstädten und anderswo aussah. Und sie zeigen auch, wie ein junger Mann durch Ironie, Kritik, Anklage, Hohn und Gelächter zu warnen versuchte. Dass derartige Versuche keinen Sinn haben, ist selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist, dass die Sinnlosigkeit einen Satiriker noch nie zum Schweigen gebracht haben und niemals dazu bringen werden. Außer man verbrennt seine Bücher."
Einige Kostproben:
Jahrgang 1899 (das Geburtsjahr Erich Kästners)
Wir haben die Frauen zu Bett gebracht,
als die Männer in Frankreich standen.
Wir hatten uns das viel schöner gedacht.
Wir waren nur Konfirmanden.
Dann holte man uns zum Militär,
bloß so als Kanonenfutter.
In der Schule waren die Bänke leer,
zu Hause weinte die Mutter.
Dann gab es ein bißchen Revolution
und schneite Kartoffelflocken;
Dann kamen die Frauen, wie früher schon,
und dann kamen die Gonokokken.
Inzwischen verlor der Alte sein Geld,
da wurden wir Nachtstudenten.
Bei Tag waren wir bureau-angestellt
und rechneten mit Prozenten.
Dann hätte sie fast ein Kind gehabt,
ob von dir, ob von mir - was weiß ich!
Das hat ihr ein Freund von uns ausgeschabt.
Und nächstens werden wir Dreißig.
Wir haben sogar ein Examen gemacht
und das meiste schon wieder vergessen.
Jetzt sind wir allein bei Tag und bei Nacht
und haben nichts Rechtes zu fressen!
Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,
anstatt mit Puppen zu spielen.
Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,
soweit wir vor Ypern nicht fielen.
Man hat unsern Körper und hat unsren Geist
ein wenig zu wenig gekräftigt.
Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist
in der Weltgeschichte beschäftigt!
Die Alten behaupten, es würde nun Zeit
für uns zum Säen und Ernten.
Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.
Noch einen Moment. Bald ist es so weit!
Dann zeigen wir euch, was wir lernten!
Das Gedicht einer ganzen Generation, wie Reich-Ranicki bemerkte? Harald Hartung verweist in seinem Nachwort darauf, dass 1899 auf der Generationenebene etwas von Aggression und Drohung habe: "In Kästners Didaktik ist das ein Stück Zweckpessimismus, der Versuch, seine Leser zu aktivieren, damit es weniger schlimm kommen möge als vorausgesagt." Was sagt denn Kästner voraus. Nun hört einmal:
Ein Traum macht Vorschläge
Ich träume - man kann das ja ruhig gestehen - fast nie.
Ich schlafe lieber, sobald ich liege.
Aber kürzlich hab ich trotzdem geträumt, wissen Sie.
Und zwar vom kommenden Kriege.
Aus den Gräbern krochen Millionen Männer hervor
(lauter Freiwillige, wie eine Stimme betonte),
die hoben ihre Gewehre zur Schulter empor
und prüften, wen zu erschießen sich lohnte.
Sie kamen einander entgegen, fertig zum Schuß und stumm...
Doch da schrie eine Stimme, als wäre jemand in Not!
Da drehten die Männer, wie auf Kommando, die Flinten herum
und schossen sich selber tot.
Sie fielen um in endlosen Reihn.
Ich träume doch eigentlich nie...
Und wer mag das nur gewesen sein,
der so schrie?
Und vorläufig abschließend zwei Gedichte an meine Zunft:
Von faulen Lehrern
Zu lernen ist schwer. Zu lehren noch schwerer.
Mir ist dieses Thema gut bekannt.
Ich kenne den deutschen Volksschullehrer
aus erste Hand.
Ich weiß, dass er sich die ersten zehn Jahre
mit hohen Idealen balgt.
Dann aber lässt seine Seele Haare.
Und er verkalkt.
Nun trabt er auf tänzelnden Steckenpferden
zur Altersgrenze und lässt sich Zeit.
(Ich sollte selber mal Lehrer werden
und weiß Bescheid.)
Ein jeder spezialisiert sich. Nämlich:
Der erste sucht Berge, die er besteigt;
der zweite frißt sich langsam dämlich;
der dritte geigt.
Der vierte betreibt Familiengeschichte.
Der fünfte hockt ständig vorm Hühnerstalle.
Nur in der Schule, beim Unterrichte,
da gähnen sie alle.
Sie wurden, das Volk zu erziehen, berufen!
Nun stehn sie herum und marschieren am Ort.
Und nur auf ihres Gehaltes Stufen
schreiten sie fort.
Einst hungerten sie nach geistiger Nahrung.
Und waren Freunde gepflegten Lateins.
Jetzt sind sie vertopft mit Paukererfahrung
und Einmaleins.
Sie könnten für Deutschland Größeres leisten
als Leute mit Namen und großem Maul.
Sie könnten. Sie sollten! Aber die meisten
von ihnen sind faul.
Den Aufschrei der Lehrerschaft kontert Kästner mit einer ungeahnten Verve. Er attackiert die Lehrerschaft, die aus der Weimarer Republik hinübergleitet ins Dritte Reich. Aber die Redaktion der Jugend, die Von faulen Lehrern in ihrer Nr. 36, 1930 abgedruckt hatte, konnte sich seinerzeit schon nicht mehr entschließen diese Replik abzudrucken und begründet dies mit Schreiben vom 3. Oktober 1930. Darin heißt es unter anderem:
"Während Sie in Ihrem Gedicht 'Von faulen Lehrern' den Lehrer lediglich als Spiesser ablehnen, der in seinem Beruf einrostet, wendet sich Ihre Erwiderung gegen einen Mangel, der in Ihrem ersten Gedicht nur flüchtig berührt worden ist, und zwar gegen die Militarisierung und Politisierung der Jugend. Obwohl uns auch das neue Gedicht an sich außerordentlich gut gefällt, so sind wir doch der Ansicht, dass es als eine Erwiderung auf die Angriffe der Lehrer nicht recht in Frage kommt."
Die Replik verfehlt - angesichts des 1933 einsetzenden Staatsterrors der Nazis und ihrer konsequenten Aufrüstungs- und Militarisierungpolitik - auch heute ihre Wirkung nicht. Ganz im Gegenteil scheint sie eher dazu geeignet, rechtsextremen Bestrebungen mit deutlichen Bezügen zu nationalsozialistisch geprägtem Gedankengut, äußerst wachsam zu begegnen:
An die beleidigten Lehrer
Die Lehrerschaft hat erklärt:
'Kästner hat uns beleidigt.'
Es wird Zeit, dass sie erfährt,
wie Kästner sich verteidigt.
Er lässt euch hierdurch sagen:
ihr brachtet den Kindern zwar bei,
nach dem Akkusativ zu fragen
und was eine Gleichung sei.
Aber er hatte sich mehr erträumt!
Er sah eure höhere Pflicht.
Diese habt ihr versäumt.
Diese tatet ihr nicht!
Zwölf Jahre,behauptet er,
vergingen seit dem Krieg.
Zwölf Jahre sind es her,
seit er euch liebte und schwieg.
Jetzt steht er von euch entfernt.
Sein Herz wurde immer schwerer.
Das Volk hat nichts gelernt.
Und ihr wart des Volkes Lehrer!
Ihr fandet nur dafür Zeit,
das Einmaleins zu lehren.
Nun sind wir wieder soweit
und spielen mit Schießgewehren.
Sie saßen in euren Klassen.
Sie waren in eurer Hut.
Nun wollen sie wieder hassen.
Nun wollen sie wieder Blut.
So habt ihr Deutschland erzogen!
Und da stellt ihr euch hin und sprecht:
'Kästner, der Kerl hat gelogen.'
Nein, der Kerl hat recht!
Hier schließt sich ein Kreis. Auch wir - die Generationen der LehrerInnen der letzten Jahrzehnte muss sich mit fragen lassen, wie es sein kann, dass viele wieder hassen wollen und wollen wieder Blut. Das Nie wieder! mahnt seit Eugen Kogon und Theodor W. Adorno. Wie kann es sein, dass ein Björn Höcke sich noch Staatsdiener nennt im hessischen Schuldienst? Fragen, die Kästner uns allen stellt, die wir Deutschland erziehen.
Wenn ich die Fiktion von Moskito zulasse, dessen Weg Sandra Lüpkes in Stalingrad enden lässt, dann habe ich keine Mühe, mir die subjektive Integration der Unvereinbaren auch vor Augen zu führen anhand der letzten Lebensäußerungen jener Soldaten, von denen anfangs die Rede im Zusammenhang mit den Kriegsbriefen gefallener Studenten die Rede war. Moskito könnte - wenn ihn Sandra Lüpkes sein Abitur 1934 an der Schule am Meer ablegen lässt - etwa Angehöriger der Jahrgänge 1914 bis 1916 gewesen sein, der sein Leben dem zufolge als knapp 30jähriger in Stalingrad verliert. Joachim Bannes ist fast zehn Jahre älter, lebte und arbeitete als Lektor in Heidelberg. Von Moskito erfahren wird nichts über lebenslaufrelevante Wendepunkte. Wir wissen nicht, ob und welches Studium und welchen beruflichen Weg er eingeschlagen hat. Wir wissen vor allem nicht, ob er eine Familie gegründet hat und ob er selbst Vater geworden ist - vielleicht der Vater der Kinder von Marje? In der Folge gebe ich das Testament von Joachim Bannes wieder, das seinen Kindern zugedacht ist. Möglicherweise gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Moskito und Joachim Bannes, der in der tiefen glaubensfesten Verwurzelung des Joachim Bannes begründet liegt. Ansonsten gilt sowohl für Moskito wie für Joachim Bannes der Versuch einer Quadratur des Kreises. Wie kommt man als Soldat aus diesem Leben, das sich zwischen soldatischer Pflicht und religiöser Bindung einerseits (Joachim Bannes) und ethisch-moralischer Bindung andererseits (Moskito) in kaum vorstellbaren Widersprüchen bewegt (aus: Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939-1945, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen und Stuttgart 1952, S. 308-311, Hervorhebungen, FJWR):
Aktuelle Vorbemerkung: Nach Übernahme des nachstehenden Textes aus der oben benannten Quelle bin ich durch Internetrecherche darauf gestoßen, dass Joachim Bannes ganz offensichtlich nicht schlicht den Beruf eines Lektors ausübte. Vielmehr tritt er 1933 mit der Publikation "Hitlers Kampf und Platos Staat" hervor und reiht sich damit - neben Carl Schmitt und seinen Epigonen - in die prominente Phalanx derer ein, die nach ideologischen und philosophischen Rechtfertigungen im Hinblick auf die Führerideologie Adolf Hitlers suchen. Also darf/muss man fragen, was ist mit Joachim Bannes bis zu seinem Tod 1944 geschehen (die knappen biografischen Angaben in der Briefanthologie erweisen sich jedenfalls als fragwürdig). Es stellt sich die Frage, ob sich in nachstehendem Testament ein wahrhaftiger Gesinnungswandel offenbart - eine Abkehr von der menschenverachtenden Ideologie und Praxis der Nationalsozialisten?
"Joachim Bannes (Lektor, Heidelberg): Das Testament, für meine Kinder bestimmt
25. Februar 1944, in Norditalien
Wir leben in einer Zeit, in der ich damit rechnen muss, dass Gott mich vorzeitig von Euch trennt, - nur dem Leibe, nicht dem Geiste nach. Meine Liebe wird immer bei Euch allen bleiben, und wir werden uns wiedersehen.
Jetzt seid Ihr noch so klein, dass Ihr meine Worte nicht verstehen könnt. Aber sollte ich vor Euch schweigen, die Ihr alle Zeit meinem Herzen nahe seid? Darum schreibe ich Euch diesen Brief. Die Mutter wird ihn Euch später geben, und Ihr werdet Ihn lesen, und Eure Herzen werden mir antworten.
- Haltet die katholische Religion in Ehren, studiert sie, lernt sie lieben und versucht, nach ihr zu leben, wie Eure Eltern und Großeltern. Ich habe erfahren, dass die Menschen, die die Kirche missachten, sie nicht verstehen, weil sie sich keine Zeit dazu nehmen, sie kennenzulernen. Um in das Wesen des Christentums einzudringen, muss man sich beständig darum bemühen. Ich glaube, dass unter allen Bemühungen, die das Leben uns auferlegt, diese die bei weitem würdigste und wichtigste ist. Wenn Ihr Euch dauernd darum bemüht, nach dem Glauben zu leben, und zwar nur dann, werdet Ihr allmählich auch seine Früchte kennenlernen: Wahrheit, innere Freiheit, Friede und Freude, die nicht von dieser Welt sind.
- Lernt von der Natur! In ihr offenbart sich der Wille Gottes in größerer Schrift als in der menschlichen Geschichte. Erwandert Euch ein wahres Verhältnis zu Wald und Feld, zu Gebirge und Meer. Ich rate Euch, von Zeit zu Zeit auch des nachts unter freiem Himmel zu wachen. Geht mit Tieren und Pflanzen um!
- Lasst Euch nicht von irgendwelchen Menschen überreden, die Euch Euer Vaterland abschwätzen wollen. Ihr seid Deutsche. Ihr wurzelt im deutschen Lande und Volke. Eure Art zu denken, Welt und Menschen anzusehen, ist die deutsche Art. Die Schätze der deutschen Kultur sind Eure Schätze. Davon lebt Ihr. Hütet sie! Pflegt die deutsche Philosophie, deutsche Musik, Baukunst, Bildhauerei, Malerei, deutsche Dichtung je nach Vermögen und Gelegenheit. Vor allem pflegt die deutsche Sprache und geht behutsam mit ihr um. Sie ist das kostbarste Instrument des deutschen Geistes und doch meisten der Gewissenlosigkeit der Menschen ausgesetzt.
- Haltet Euch fern von deutschem Dünkel. Das deutsche Volk hat, wie jedes andere, Schwächen und Fehler. Jedes Volk hat, wie jeder einzelne Mensch, einen eigenen Auftrag Gottes in der Schöpfung zu erfüllen. Es gibt Länder und Völker, die glücklicher sind als wir, und die auf verschiedenen Kulturgebieten mehr geleistet haben oder mehr leisten. Achtet sie alle und lernt von allen, besonders von den Völkern unserer europäischen Völkerfamilie.
- Bittet Gott um einen guten Freund! Ohne Freunde ist das Leben viel schwerer und mehr Gefahren ausgesetzt. Gute Freunde gehören zu den seltenen Kostbarkeiten des Lebens. Wenn Ihr frühzeitig unter Euren Gefährten einen findet, der Euch besonderes Vertrauen einflößt, so dankt Gott für diese Begegnung. Seht ihn Euch an und lasst Eure Mutter ihn ansehen. Geht seinen Interessen nach, seht ihn im Verkehr mit seinen Eltern und Geschwistern, arbeitet mit ihm, wandert mit ihm, und wenn er sich Eures Vertrauens würdig zeigt, öffnet ihm mehr und mehr Euer Herz, hört seinen Rat an und erwidert ihm Gleiches mit Gleichem. Haltet ihm die Treue und trennt Euch nicht von ihm, denn Ihr werdet schwerlich einen zweiten solchen finden.
- Lasst Euch in der Einrichtung Eures Lebens und in grundlegenden Entscheidungen niemals von äußeren Interessen leiten. 'Der Mensch ist auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen.' Diese Lehre unserer Religion muss Euch zum leitenden Grundsatz werden. Die Welt vergeht. Gott und die Seele bleiben. Danach richtet Euch. Ihr müsst Euch nach dem lieben Gott ausstrecken und ihm Jahr um Jahr entgegen wachsen. Davon hängt Euer Glück ab.
- Besonders jagt nicht dem Gelde nach, das den Menschen so oft um seine Ruhe und alle wahren Lebenswerte betrügt. Ich habe viele Arme gesehen, die zufrieden und glücklich waren. Vielleicht werdet Ihr es manchmal schwer haben, weil ich Euch keinen Reichtum hinterlasse. Seid mir darum nicht böse, liebe Kinder! Was ich Euch hinterlasse, ist mehr wert als Geld. Ich habe stets gearbeitet, aber das Geldverdienen habe ich nie verstanden. Ich empfehle Euch die Armut als meine gute Freundin, die mir immer treu geblieben ist.
- Liebe Kinder! Seid geduldig! Übt Euch im Ertragen von allerlei Entbehrungen, Ungerechtigkeiten, Verachtungen. Denn davon ist die Welt voll. Die Unvollkommenheit ist unserer Mutter, Sorgen sind unsere tägliche Speise, die uns stark macht. Schmerz, Not, Kummer, Trübsal, nehmt sie in Eure Arme und tragt sie gern. Seht auf den Heiland. Gott ist so gut! Hundert-, tausend Mal in meinem Leben habe ich es erfahren. Ihm sei Lob und Dank!"
Joachim Bannes ist im Frühjahr 1944 durch ein Partisanenkommando in Monte Fortino erschossen worden. Sein Vermächtnis offenbart den Versuch, seinen Kindern in einer heillosen Welt Orientierung zu vermitteln. Der Glaube ist ihm der unverrückbare Fels in der Brandung. 1944 markiert er von dort aus einen Wertehorizont, der auf besonders eindrückliche Weise offenbart, welch extreme Spannung aus den Widersprüchen resultiert, die sich aus seiner Zugehörigkeit zur Wehrmacht (auch als überzeugter Nationalsozialist? - siehe weiter oben) einerseits - hier schon als Besatzungsarmee in Italien - und seiner unverbrüchlichen Verankerung im katholischen Glauben andererseits ergeben. Die Warnung vor "deutschem Dünkel", die Achtung vor der Eigenart und den Leistungen anderer Völker, die Appelle, aus Freundschaft, der Achtung vor der Schöpfung und Glaubenszuversicht die Quellen für ein Leben in Bescheidenheit zu sehen, passen nicht zur Blut- und Bodenideologie und zum Rassenwahn dessen, auf den er einen Eid geschworen hat.