Aus der Geschichte lernen - Über die Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur
Angesichts der aktuellen Vorgänge in Thüringen, auf die in der Folge auch Bezug genommen wird, stellt sich die Frage, ob es aktuell Anlass zu einer Besorgnis gibt im Hinblick auf die Grundannahme, dass wir Deutsch aus der Gechichte gelernt haben? Denn Wolfgang Meseth stellt in der Einleitung zu seiner Dissertation noch fest:
"Gerade angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der etwa die Diskussion um die Restitution der deutschen Nationalstaates nach 1945 oder die bis in die Gegenwart hinreichenden Debatten um die Zukunft der Erinnerung kontinuierlich als Herausforderung von Erziehung geführt wurden bzw. geführt werden, wäre zu untersuchen, welchen Anteil diese pädagogische Aspiration, von der die Erinnerungskultur seit ihren Anfängen getragen wird, für die Ausbildung einer relativ stabilen nationalen Identität gehabt hat."
Unter dem Titel: Aus der Geschichte lernen - Über die Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur hat Wolfgang Meseth 2005 eine überarbeitete Fassung seiner Dissertation veröffentlicht. Christian Gudehus hat Meseths Arbeit rezensiert und bemerkt zur theoretischen Ausrichtung:
"Ihren theoretischen Rahmen bildet die mir offen gestanden suspekte Systemtheorie. Meseth liefert eine leicht verständliche Einführung in die für ihre Zugänglichkeit nicht gerade berühmte Gedankenwelt Luhmanns. Weiter gelingt es ihm, seine Beobachtungen und Thesen durchgehend daran zurückzubinden – was in Dissertationen nicht die Regel ist. Allerdings wären die Argumente ohne diesen Bezugsrahmen kaum weniger überzeugend. Der Hang zur theoretischen Überfrachtung scheint mir den Notwendigkeiten geschuldet zu sein, die eine Qualifikationsarbeit mit sich bringt." (Christian Gudehus: Rezension zu: Meseth, Wolfgang: Aus der Geschichte lernen. Über die Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Frankfurt am Main 2006. ISBN 3-9809008-5-1, in: H-Soz-Kult, 14.08.2006,<www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9050>).
Leider unterziehen sich selbst im Wissenschaftskontext argumentierende Akteure - hier der Rezensent - selten genug der Mühe, einmal der Unterscheidungen nachzuvollziehen, die mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Grundorientierungen ausgelöst bzw. orientierungsstiftend werden. Ich beziehe mich vorläufig im Zusammenhang mit diesem Beitrag lediglich auf das kleine Schlusskapitel in Meseths Ausführungen (S. 255-229). Gerade hier deutet sich in ernüchternder Weise an, dass normative Appelle zwar sinnstiftende Potentiale bereitstellen können, dass sie aber nicht im entferntesten eine Garantie auslösen für das Handeln und die normativen Grundorientierungen jedes einzelnen in einer pluralen, auseinanderdriftenden, globalisierten (Welt)Gesellschaft. Für Christian Godehus wäre eine eingehendere Auseinandersetzung mit der unterschiedlichen Betrachtungs- und Bewertungsweise des Vernunftbegriffs und des Vernunftpotentials in modernen Gesellschaften durchaus hilfreich.
Im Rahmen seiner Veröffentlichung geht Wolfgang Meseth abschließend - gewissermaßen ganz zum Schluss - der Frage nach, ob und inwieweit "Soziologie als Sinnspender der Gesellschaft" taugt und bezieht sich dabei auf eine von Jürgen Habermas vertretene These: Habermas geht davon aus, dass die Erwartungen an "Wissenschaft, Technik und Planung als verheißungsvolle und unbeirrbare Instrumente einer vernünftigen Kontrolle von Natur und Gesellschaft (...) durch massive Evidenzen erschüttert worden sind (zitiert nach Meseth, S. 225)." Gleichwohl warne Habermas die Soziologie vor allzu resignativen Diagnosen, da diese "den letzten Funken von Utopie und Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst" zu ersticken drohten. Wenn die utopischen Oasen austrockneten - so Habermas Befürchtung - breite sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus. Genau diese Ratlosigkeit in einer brutal-entblößenden Variante lässt sich gegenwärtig in Thüringen mit bundesweiter Ausstrahlung beobachten.
Es ist derselbe Jürgen Habermas, der 2017 bereits dazu aufruft, die AfD als das anzusehen, was sie verkörpere - als Wegbereiter eines neuen Faschismus. In dieser Angelegenheit beziehe ich mich selbst bewusst auch auf ihn - vor allem um braunes Gedankengut dort zu belassen, wo es hingehört: in den Enddarm und schließlich in die Kloschüssel. Ich träume dann auch zuweilen von einem Souverän, der in diesem Sinne an der Wahlurne genau weiß, was er zu tun und was er zu lassen hat. Wir wissen jedoch, dass sich solche Träume nicht erfüllen; leider auch nicht durch theoretische Ambitionen, wie sie beispielsweise durch Adornos Kritische Theorie oder Habermasens Diskursethik repräsentiert werden.
Daher benötigen wir - parallel zu dem Traum, dass es eine Theorie geben könnte, die - wie Wolfgang Meseth aus systemtheoretischer Perspektive kritisch bemerkt - gewissermaßen von einem exklusiven Ort außerhalb der Gesellschaft den Zustand der Gesellschaft reflektieren und zugleich Wissen bereitstellen möchte, aus dem die Gesellschaft ihre Normativität zu schöpfen vermag, eine nüchterne Analyse der faktischen Gegebenheiten. Eine solche Analyse führt uns unter anderem zu der leider nicht zu leugnenden Tatsache, dass die AfD bei den Wahlen zum 19. Deutschen Bundestag ebenso wie bei allen Landtagswahlen unverständliche und teils unerträgliche Zuwächse zu verzeichnen hat. Es handelt sich im Übrigen um jene Partei, deren Repräsentanten hinsichtlich der bundesdeutschen Erinnerungskultur eine 180-Grad-Wende fordern. Und es zieht einem leider inzwischen die Socken aus, wenn man die Erosionserscheinungen auch im demokratisch geerdeten Parteienspektrum zur Kenntnis nimmt, wie sie sich gegenwärtig beispielsweise am thüringischen Desaster der Ministerpräsidentewahl offenbart. Ich wollte es lange nicht wahrhaben, dass es genauso offenkundig beginnt - das beharrliche Erodieren sakrosankter Tabuzonen im politischen Prozess! Noch scheue ich jeden Vergleich mit Weimar. Aber es wird deutlich, dass es den exklusiven unantastbaren Ort unverhandelbarer demokratisch-republikanischer Kultur auch in der Bundesrepublik offenkundig nicht wirklich gibt.
Insofern ist die Frage unausweichlich, wo denn der - wie Meseth anmerkt - "privilegierte identitätsstiftende Ort" sich befindet, wenn eine konkurrenzfreie, allseits akzeptierte Repräsentation von gesellschaftlicher Einheit unmöglich geworden ist. Nochmals: Der Beleg dafür ist wohl im Auseinanderdriften der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme zu sehen. Aber auch mit Niklas Luhmann scheint immerhin die Beschreibung von Abwehrmechanismen möglich, obwohl die Gesellschaft im Gegensatz zu ihren Teilsystemen (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Recht, Erziehung etc.) nicht über eine spezifische Reflexionstheorie verfügt. Wolfgang Meseth rekurriert auf Niklas Luhmann und bemerkt, die Gesellschaft greife für ihre Selbstbeschreibung auf den gesamten "semantischen Apparat" zurück, in dem sowohl die Semantiken der Reflexionstheorien als auch historisch bewährte Ideen über die Einheit der Gesellschaft eingelagert seien (vgl. Meseth, S. 226f.). Was heißt das? Und vor allem: Sind die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, die Wolfgang Meseth im Zusammenhang mit bundesdeutscher Erinnerungskultur 2005 zieht, auch heute noch angemessen? In einem Deutschland, das den Handschlag zwischen Thomas Kemmerich (FDP) und Björn Höcke (AfD) zur Kenntnis nehmen muss - jenem Björn Höcke, der eine erninnerungspolitische 180-Grad-Wende fordert und den man nach höchstrichterlichem Urteil "Faschist" nennen darf bzw. muss?
Dazu sei zunächst daran erinnert, dass Wolfgang Meseth selbst auf dem Hintergrund des Luhmannschen Theoriehorizonts davon ausgeht, dass die "Befunde zu den Formen der bundesrepublikanischen Selbstvergewisserung zeigen, dass (z.B.) Theodor W. Adornos Kritische Theorie - ungeachtet ihrer pessimistischen Position eine nachhaltige Wirkung im nationalen Selbstkonzept der Bundesrepublik Deutschland erzeugt hat." Wie steht es heute um diese "nachhaltige Wirkung"?
Was den Einfluss Adornos angeht, kommt Meseth zu folgender These:
"Adornos Vorträge wiederholen pointiert die öffentlich bereits etablierte Denkfigur der Moderne, nach der die normative Integration der Gesellschaft maßgeblich durch Erziehung zu bewerkstelligen sei. Zudem boten die Evidenz der Imperativs 'Nie Wieder' und die unmissverständliche Verurteilung der NS-Verbrechen in Adornos Theorie eine normative Perspektive, die es der Bundesrepublik Deutschland ermöglichte, sich auch und gerade jenseits eines affirmativen Identitätsansinnens als nationale Einheit zu beschreiben (S. 228)."
Meseth geht 2005 davon aus, dass Adornos Appell zu einem "Bezugspunkt des nationalen Identitätskonzepts werden konnte". Auf diese Weise und in der Folge spricht Meseth von einer "sukzessiven Umdeutung von Auschwitz zu einem Lerngegenstand für nachfolgende Generationen". Hierin spiegele sich "die Leistungsfähigkeit von Erziehung und Geschichte als gesellschaftliche Integrationsmedien exemplarisch wider". All dies veranlasst Meseth zu der gewagten Hypothese, dass die NS-Geschichte über das Medium Erziehung eine öffentlich anschlussfähige Form gewinne, durch die "ein nicht gänzlich pessimistischer Blick in die Zukunft" eröffnet werde. Er warnt gleichzeitig und weist darauf hin, dass es alles andere als selbstverständlich sei, dass sich die von Adorno und anderen formulierten Appelle und Imperative als einheitsstiftende Narrative wirkungsvoll im kollektiven Gedächntnis verankern. Ganz offenkundig sind wir historisch genau an dieser Nahtstelle angelangt, an der entprechende Hoffnungen brüchig werden. Dies ist umso unverständlicher als dass sich historisch und aktuell eine Fülle von Belegen aufzwingen, die das "Nie Wieder" vollkommen alternativlos erscheinen lassen. Was allerdings einer historisch gewachsenen, westdeutsch geprägten Erinnerungskultur quer kommt, hängt ganz offensichtlich mit den Nachwehen einer gänzlich andersartig gelagerten politischen Kultur in der ehemaligen DDR zusammen. Dies erscheint umso dramatischer, als es hier nicht nur um normative Oberflächenphänomene geht, sondern um habituell und sozialpsychologisch tief verankerte Wirkungen totalitärer Herrschaftstraditionen, die in der SBZ und in der DDR lediglich mit einem Austausch der Etiketten einherging. In der ehemaligen Bundesrepublik sind wir einen langen Weg gegangen bis zur nachhaltigen Wirksamkeit eines von Adorno und anderen angeregten und angeleiteten Identitätskonzepts.
Man kann sich doch nur fragen, ob Thomas Kemmerich und Mike Mohring den Arsch aufhaben. Es tut mir leid, aber Kemmerich und Mohring wandeln jenseits der identitätsstiftenden Narrative, die von der AfD eins ums andere Mal infragegestellt und attackiert werden. Welch desaströsen Bildungs- und Kompetenzdefizite offenbaren sich denn im politischen Spitzenpersonal Thüringens, wenn man sich von einem Björn Höcke am Nasenring durch die Bannmeile elementarer demokratischer und normativer Grundüberzeugungen führen lässt und dann auf einmal mit gänzlich heruntergelassenen Hosen dasteht??? Erbärmlicher und blamabler geht es wahrlich nimmer. Diese blutleeren und geistfreien Akteure auf höchster landespolitischer Bühne gehören zunächst einmal in einen Grundkurs historischer und politischer Bildung.
Beginnen wir einmal mit Eugen Kogon. Mit Eugen Kogon deshalb, weil er uns bereits vor 75 (i.W. fünfundsiebzig) Jahren ins Gewissen geredet hat - in unser kollektives, bis heute nach Läuterung gierendes Gewissen, das Visagen wie die eines Björn Höcke, eines Alexander Gauland, eines Stepahn Brandner oder einer Alice Weidel nur unter der Liebermannschen Maßgabe erträgt: "Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte!"
"So rückblickend möge sich Deutschland selbst erkennen: seine edlen und seine entsetzlichen Züge, damit das entstellte, das verzerrte Antlitz wieder Gleichmaß gewinne. Es wird den Richter dann nicht mehr zu fürchten brauchen, weil es sich selber ehrlich beurteilt hat. Und wenn er die Frage erneut an Deutschland stellt: 'Erkennt ihr mich jetzt?', dann wird es in ihm den Erlöser sehen aus Irrtum, Verbrechen, Blutschuld, Schande und Not, den Erlöser zur Freiheit und Menschenwürde. Weit werden die Konzentrationslager dann hinter dem erneuerten Deutschland liegen - nur noch eine Mahnung aus den Zeiten der Finsternis dieses Dritten Reiches (Eugen Kogon, Der SS-Staat - Das System der deutschen Konzentrationslager, 42. Auflage, München 2004, Seite 420)."