Rede mit mir - Es ist so gut, dass wir nicht nur miteinander reden!
Immer wieder einmal lesen: Rede mit mir - und dann sollten wir reden!
"Rede mit mir. Mutter hat einmal erwähnt, dass Du als Student eine Bekehrung erlebt hast. Das muss das wichtigste Ereignis in deinem Leben gewesen sein - wie kannst du es deinen Kindern verschweigen? Willst du nicht, dass wir dich kennen? Dass wir wissen, was für dich wichtig ist und warum? Merkst du nicht, wie weit weg wir von dir sind? Denkst du es war nur der Beruf, der deine Tochter nach San Francisco und deinen Ältesten nach Genf getrieben hat? Wie lange willst du noch warten, bis du mit uns redest? Verstehst du nicht, dass Kinder mehr von ihrem Vater wollen als gemessenes Verhalten und distanziertes Schweigen und eine gelegentliche Auseinandersetzung über irgendwas Politisches, das morgen ohnehin vergessen ist?Du bist zweiundachtzig, und eines Tages bist du tot, und alles, was mir von dir bleibt, ist der Schreibtisch, den ich schon als Kind gemocht habe und von dem die Geschwister schon als Kinder gesagt haben, ich könne ihn einmal haben.
Ja, und manchmal werde ich mich dabei ertappen, dass ich sitze, wie du jetzt sitzt, weil ich mit dem Gegenüber so wenig zu tun haben will, wie du jetzt mit mir zu tun haben willst."
Wir haben den Fernseher aus unserem Schlafzimmer verbannt. Ich lese abends vor. Ich lese Claudia in den Schlaf, wenn ich nicht selbst vorher einschlafe. Zur Zeit lesen wir Bernhard Schlinks "Sommerlügen". Die obige kleine Passage ist der Kurzgeschichte "Johann Sebastian Bach auf Rügen" entnommen. Die - wie bei Bernhard Schlink - nüchterne und ernüchternde Sprache spiegelt sich eins zu eins in den larmoyant, zuweilen auch bitter daher kommenden inhaltlichen Aussagen. Wenn auch Johann Sebastian Bach dafür sorgt, dass Sohn und Vater auf Rügen - einem jeden für sich - ein Erweckungserlebnis widerfährt, so erfüllt sich der Wunsch des Sohnes nicht.
Seit Jahrzehnten bereits treibt mich die Frage um, was Kinder von ihren Eltern wissen sollten, wissen dürfen. Die Eltern stecken ja tief in ihren Kindern. Bernhard Schlinks Protagonist weiß dies sehr wohl. Und es ist ja nicht wenig, was bleibt, wenn er sich dabei ertappen sollte, dass er als Sohn so dasitzt, wie Vater jetzt da vor ihm sitzt. Was ich für unerträglich halte, und was mich zu meinem allerallerersten Gedicht getrieben hat, ist Sprachlosigkeit bzw. die Unerträglichkeit miteinander zu reden, aber nichts zu sagen. So ist eflih entstanden, abgedruckt in meinem ersten Gedichtbändchen: "Das Leben ein Klang". Die Sprache und das Miteinanderreden sind in meiner Familie nicht erfunden worden; dafür aber die unendliche emotionale Fundierung eines Miteinander, dass uns alle, meine Schwester, meinen Bruder und mich zu starken und tapferen Menschen hat werden lassen. Zumindest mein Bruder und ich, sind in dem groß und stark geworden, was man ein emotional fundiertes Nest nennt, in dem man die Grundausstattung erhält, um den Widrigkeiten des Lebens nicht völlig hilflos gegenüberzustehen. Was meine Schwester zu einem besonderen und zu einem besonders resilienten Wesen gemacht hat, das bleibt ein Geheimnis - aber nicht so abgründig, als dass wir alle nicht wüssten, wie da ein Stiefvater die Blaupause geliefert hat für all das, was man in einer solch vertrackten Familiendynamik ganz und gar intuitiv und mit großer Herzenswärme richtig machen muss.
Im erwähnten Gedichtbändchen steht in mehrfacher Variation die Hommage an meinen Großvater mütterlicherseits. Ihm rechne ich es sogar zu, dass ich zur Sprache gefunden habe; sogar so sehr zur Sprache gefunden habe, dass ich die Geschichten unserer Familie auf Papier banne. Auch meine Geschichten haben Spuren auf Papier hinterlassen. Und die Frage, ob ich diese Papierorgien hinterlassen werde, habe ich mir insgeheim schon beantwortet. Und angesichts der Grundbedingung eines "mors certa - hora incerta" werde ich es vermutlich auch gar nicht in der Hand haben darüber zu entscheiden.
Jedenfalls habe ich mich und werde ich mich dem Wunsch nicht entziehen/entzogen, dem Appell: "Rede mit mir!" offen und bereitwillig zu entsprechen. Die versagende Seite hat in meiner Herkunftsfamilie überwogen. Dieser besondere Vater - Theo - hat die damit verbundenen Kränkungen gemildert, gar geheilt. Wie sehr wünsche ich mir, dass mein Neffe zur Sprache finden würde - ich weiß um die heilende Kraft, die darin liegt, wenn wir zur Sprache und darüber zur Welt kommen (vice versa). Gegenwärtig rede ich mit meinem Enkel Leo und mit ihm und über ihn mit allen, die Anteil daran nehmen, wie das Leben weitergeht - irgendwann auch ohne mich. Bernhard Schlinks mahnt seinen Vater: "Wie lange willst du noch warten, bis du mit uns redest - eines baldigen Tages bist du tot."
Heinz Otto Faustens "Wir haben uns die Zeit nicht ausgesucht" oder "Der letzte große Trost" mahnen mich, dankbar zu sein, geboren zu sein in eine Zeit, die es uns leicht macht, Verantwortung zu übernehmen und Verantwortung zu leben. Bernhard Slupetzky lässt den Vater im Gespräch mit seinem Sohn sagen:
"Wer weiß? Ich lebe seit fast vierzig Jahren in Frieden, du seit über zwanzig. Welche Bestien - oder Engel - in uns schlummern, hat sich nie gezeigt. Wir sind im besten Fall Chronisten, die behaupten, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Aber sind wir wirklich bessere Menschen, nur weil uns die Zeit, in der wir leben, besser aussehen lässt?"
Uns - mit dem uns mitgegebenen Urvertrauen - fällt es leicht, die Bestien in uns im Zaum zu halten und den Engeln in uns zuweilen ein Gesicht zu geben, manchmal sogar Flügel. Im besten Fall - so wie in meinem - sind wir Chronisten, die behaupten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Ob wir wirklich bessere Menschen sind? Wir müssen es wortgewaltig und tatkräftig unter Beweis stellen, damit wir nicht nur die sein werden, die die Zeit, in der wir leb(t)en, besser aussehen lässt!
Keine Stimme der AfD!
Ich bleibe dabei und appelliere an die Mütter und auch an die Väter. Seht auf Eure Kinder! Und nehmt sie euch zur Brust, wenn sie beginnen die Grenzen zu verschieben; die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren. Und ich appelliere natürlich auch an die Kinder: Nehmt sie Euch zur Brust, Eure Eltern, wenn sie beginnen die Grenzen zu verschieben; die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren!
Wehrt jeder Form der kategorialen Exklusion!
Wie Steinmaier und Bouffier in Hanau betont haben: Wir alle sind zuerst Menschen! Und dann sind wir Schnippelträger oder auch nicht, schwarz, weiß, gelb, hetero, homo, queer, katholisch, evangelisch, muslimisch, kölsch, bajuwarisch, schwäbisch, hanseatisch, vielleicht sogar sächsich. Wir sind gläubig oder atheistisch, agnostisch oder narzistisch unterwegs. Wir sind vielleicht überaus intelligent oder dumm wie Stroh. Wir sind Hitzköpfe oder überaus besonnen. Wir sind Europäer, Amerikaner, Araber, Afrikaner, Inder, Chinesen und Japaner, Hutu oder Tutsi, Bayern-München-Fans, BVBler, kölsche Jecke mit FC-Gen. Wir sind Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale oder Grüne, Linke, AfDler oder abgedriftet in das Gedärm nazistischer Ideologien. Aber zuerst und zuletzt sind wir Menschen, die gezeugt worden sind von Menschen, geboren worden von Müttern - unter Schmerzen, wie es uns die Heilige Schrift nahelegt. Wir alle sterben. Und wir alle sind uns einig im Appell:
Nie wieder!
Wer hier kneift, der ist ein Meister aus Deutschland und stellt sich außerhalb unserer Gemeinschaft. Wer hier kneift und die Grenzen verwischt, der betreibt Selbst-Exklusion. Wir alle vermögen ihn nicht mehr zu inkludieren. Der menschliche Kreis ist nahezu unendlich groß, in dem wir uns entfalten, unseren Obsessionen nachgehen, unsere Macken pflegen, alle Verrücktheiten dieser Welt hervorbringen von überaus dumpf bis überaus kreativ.
Aber dieser Kreis ist nur nahezu grenzenlos!
Er findet seine Grenze in der Erziehung nach Auschwitz und im unverbrüchlichen Gebot des
Nie wieder!
Kehrt um! Kommt zurück in die menschliche Gemeinschaft und widersteht jeder Versuchung - 75 Jahr nach dem Ende des Nazi-Terrors - Menschen wegen ihrer Rasse, wegen ihrer Herkunft, wegen ihrer Hautfarbe, wegen ihrer Religion, wegen ihrer geschlechtlichen Orientierung, wegen ihrer politischen Überzeugungen auszugrenzen - mit einer Ausnahme: der Ausnahme derer, die nicht bereit sind das
Nie wieder!
zu ihrer radikalen, unverbrüchlichen Lebensmaxime zu erheben!